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Das Grab des Canciller
Unai · November 2019
In Hochstimmung rannte ich hinauf in mein Büro. Auf dem Gang traf ich Alba. Ich sah kurz nach links und rechts, doch es war niemand in der Nähe.
»Komm her.« Und ich drückte ihr einen Kuss auf den Mund, mit dem sie nicht gerechnet hatte.
»Nanu?« Sie lächelte.
»Ich muss noch ein paar Punkte überprüfen, aber dann erzähle ich dir alles«, versprach ich ihr.
Dann schloss ich die Bürotür. Da war sie wieder, diese Euphorie, die mich immer wieder süchtig nach meiner Arbeit machte. Mit dem Mobiltelefon rief ich die Rechtsmedizinerin an.
»Doctora Guevara, ich glaube, ich weiß, wem die Knochen, die wir in Quejana gefunden haben, gehören. Ich möchte, dass sie einen Abgleich mit folgender DNA
vornehmen.«
Und ich erläuterte ihr meine Theorie.
»Auch ich habe Ihnen etwas Wichtiges zu erzählen, und ich denke, Sie sollten sich lieber setzen«, sagte sie dann. »Es kam ziemlich unerwartet, daher habe ich das Labor gebeten, die Analyse zu wiederholen. Aber es besteht kein Zweifel.«
»Worum geht es denn? Sie machen mir ja richtig Angst«, erwiderte ich und setzte mich in Erwartung einer schlechten Nachricht.
»Ich muss Ihnen das Ergebnis der DNA
-Untersuchung der anderen beiden Skelette im Grab von Canciller Ayala
mitteilen. Wir haben sie mit sämtlichen DNA
s des Falls abgeglichen, einschließlich der DNA
s sämtlicher Ermittler, um falsche Übereinstimmungen auszuschließen, weil diese Tests so empfindlich sind und so leicht kontaminiert werden. Dieser Mann und diese Frau sind Ihre Vorfahren, Ayala. Untereinander sind die beiden nicht blutsverwandt. Wir haben Rücksprache mit der Abteilung für das historische und künstlerische Erbe des Bistums gehalten, und man geht davon aus, dass es sich wirklich um die Skelette von Canciller Don Pero López de Ayala und seiner Frau Leonor de Guzmán handelt, die dort 1407
auf ausdrückliche Anweisung des Canciller selbst begraben wurden.«
»Aber es heißt doch, dieser Zweig der Ayalas sei vor Jahrhunderten erloschen, und keiner der heutigen López de Ayala gehöre ihm an«, brachte ich hervor.
»Tja, wir haben gerade bewiesen, dass dieses Geschlecht in Ihrer Familie weiterlebt.«
Ich wollte Doctora Guevara tausend Fragen stellen und wusste gar nicht, wo ich anfangen sollte. Doch in dem Augenblick öffnete Alba meine Bürotür so schwungvoll, dass sie gegen die Wand knallte.
»Unai, Großvater … Wir müssen ins Krankenhaus.«
Als ich ihre Miene sah, sprang ich auf. Ich vergaß meine Jacke, ich vergaß sogar, meine Polizeimarke abzunehmen. Alba setzte sich ans Steuer, ich war dazu nicht in der Lage.
Germán hatte angerufen, um uns Bescheid zu geben. Er hatte gerade auf Deba aufgepasst, als das Krankenhaus ihn benachrichtigte.
Ungeduldig fuhren wir mit dem langsamsten Aufzug der Welt nach oben. Ich rannte über den Flur und stieß die Tür zu seinem Krankenzimmer auf.
»Was ist denn, Jungchen? Was guckst du denn so erschrocken?«, fragte Großvater.
»Wie …?« Ich warf Germán einen ungläubigen Blick zu,
unfähig, meine Frage laut auszusprechen. Meine Kehle war vor Erleichterung wie zugeschnürt, und ich befürchtete schon einen Rückfall in die Broca-Aphasie.
»Das Pflegepersonal sagt, er hat einfach die Augen aufgeschlagen und gefragt: ›Und ihr, wer seid ihr, die Pfaffen oder was?‹«, berichtete Germán.
Aber Großvater lächelte, als wäre nichts gewesen, und spielte mit Deba, die versuchte, ihm die Baskenmütze aufzusetzen.
Alba drückte fest meine Hand, auch sie war sehr gerührt. Sicher hätte sie wer weiß was dafür gegeben, wenn auch ihre Mutter dieses Wunder hätte erleben dürfen.
Nachdenklich blickte ich aufs Display meines Telefons. Der Sperrbildschirm war noch immer das Foto, das wir bei der Romanvorstellung im Palacio de Villa Suso von uns gemacht hatten. Alle lächelnd: Großvater, Nieves, Alba, Deba und ich.
Geistesabwesend setzte ich mich auf das Sofa, auf dem ich so viele Stunden gesessen hatte, während ich Großvater betrachtet und um ein Wunder gebetet hatte.
Und da entschied ich mich. Oder vielleicht war diese Entscheidung auch schon vor einiger Zeit gefallen und hatte nur noch darauf gewartet, in Worte gefasst zu werden.
»Ich habe euch ein Geschenk mitgebracht. Euch allen«, sagte ich und stand auf. »Hier, sie gehört mir nicht mehr. Ihr habt sie euch verdient.«
Und ich legte die Kette mit meiner Dienstmarke eines Inspectors der Kriminalpolizei neben Großvater aufs Bett.
Großvater nahm sie zufrieden an sich und hängte sie sich um den Hals. »Wurde auch Zeit, mein Junge«, sagte er nur und zuckte die Achseln.
Alba sah mich an, und endlich hatte ich das Gefühl, dass wir beide am selben Punkt unseres Weges angekommen waren.
Germán stürzte sich mit bebendem Kinn auf mich. Ich musste mich bücken, um seine Umarmung erwidern zu können.
»Danke, danke, danke …«, flüsterte er zwischen zwei Schluchzern.
Und alle, auch Deba, umringten und umarmten mich, eine eingeschworene Gemeinschaft.
»Warum weinen wir, Mamá?«, fragte meine Tochter nach einer Weile.
»Weil dein Vater sich für uns entschieden hat«, flüsterte Germán.