KAPITEL 1

Die Buchstaben vor mir auf der Seite verschwimmen. Sie sirren in meinen Ohren, bevor sie sich zu einem Satz zusammenfügen. In einer Sprache, die nur wir Heroe verstehen.

»Sagt, was seht Ihr?«

Abt Rejan ist der Einzige, der mich mit der majestätischen Anrede anspricht. Und er weiß genauso gut wie ich, dass es sich nicht ziemt. Dass ich, obwohl ich die Erstgeborene des Fürsten bin, keinen Adelstitel trage – tragen darf – und deshalb geduzt werde. Doch in dem dunklen Studierzimmer seines Ordens sind wir unbeobachtet. Da sind lediglich die gigantisch hohen Regale voller Bücher, die wenigen Fackeln und Kerzen, die den Raum in ein geheimnisvolles Licht tauchen, und der alte Schreibtisch, an dem ich sitze.

Ich schlucke schwer und beginne mich zu konzentrieren. Wenn ich nach meinem Verstand gehen würde, wären das hier nur seltsam aneinandergereihte Worte, die keinen Sinn ergeben. Aber mein Geist kann sie lesen. Sie erfassen und verstehen. Heute stammen sie aus dem 134. Buch der Apokryphen, das ich für ihn übersetze. Schriften über die Unterwelt und die Lichtwelt. Ihre Geschichte, die ausschließlich Wesen mit dämonischem Blut entschlüsseln können. Ich weiß nicht, was der Abt und die Fürsten darin zu finden hoffen. Doch es muss etwas sehr Wichtiges sein, denn neben mir werden auch all die anderen Heroen dazu gezwungen, die Apokryphen zu lesen.

Kurz schließe ich die Augen und fahre die Zeilen vor meinem inneren Auge noch einmal entlang.

»Du, der du geboren bist, um Heil zu bringen«, flüstere ich, um meine Kraft nicht abzulenken, »bist erwählt zu schützen, was die Sünden zu zerbersten drohen.«

Ich stocke, als die nächsten Zeilen in meinem Geist erscheinen, und öffne die Augen. Nun kann ich sie auch deutlich vor mir geschrieben sehen. Als Erste geboren, als Zweite gesühnt. Verbunden durch Seelen, den Schmerz nicht gespürt. Der Tod wird dich suchen, doch findet er dich nicht. Denn dein ist die Herrschaft, versunken in Licht.

Schmerz flammt in meinem Kopf auf.

»Heroe«, brummt der Abt ungeduldig. Aber etwas in mir hindert mich daran, ihm diese Worte zu nennen. Als hätten sie die Kontrolle über meinen Körper. Als würden sie sich materialisieren und mit ihren verheißungsvollen Händen meine Kehle zudrücken.

»Ich kann nicht«, bringe ich hervor und keuche vor Schmerz.

»Ihr könnt nicht?«, hakt Rejan nach und durchbohrt mich mit seinen glasigen grünen Augen, als ich hinaufschaue. »Ihr könnt nicht oder Ihr wollt nicht? Sprechen die Worte wieder mit Euch, Navien?«

Meine Lider zucken. Rejan benutzt immer dann meinen Namen, wenn er etwas will. Wenn er Vertrauen in mir auslösen will, um an Informationen zu kommen. Und sonst erzielt er damit auch genau diese Wirkung. Nur heute nicht. Diese Apokryphe hat mehr Macht über mich als die Vertrautheit, die Rejan in mir hervorruft. Und das muss schon etwas heißen, denn seit ich fünf Jahre alt bin, sitze ich hier jeden Tag mit ihm zusammen und übersetze Texte, von denen es Tausende gibt und die er nicht imstande ist zu verstehen. Der Abt war jedoch stets gut darin, mir ab und zu kleine Geschenke mitzubringen. Süße Speisen oder Puppen, die ich sonst nicht haben durfte. Und wenn ich nicht gehorcht habe, dann hat er … Bilder und Schmerzen zucken durch mich hindurch, die ich sofort verdränge.

»Ich kann diese Passage nicht lesen. Als würde sie sich vor mir verschließen«, lüge ich und verziehe entschuldigend den Mund, während Rejan mich immer noch mit Argusaugen beobachtet. Ich spüre es. Er glaubt mir nicht. Aber ich habe längst keine Angst mehr vor seinen Bestrafungen.

»Wir machen morgen weiter«, sagt er dann mit einer Handbewegung, als würde er mich wie ein Insekt verscheuchen. Er ist enttäuscht. Ich habe versagt, und schon habe ich meinen Wert für ihn verloren.

Mein Herz pocht laut und schwer, als ich aufstehe, mich verbeuge und das Studienzimmer verlasse. Selbst als ich die langen steinernen Gänge des Ordens entlanggehe, kann ich kaum atmen. Um mich zu beruhigen, zähle ich die kunstvoll verzierten Säulen, die den Weg zum Schloss säumen, und erst als ich auf dem riesigen grasbewachsenen Platz vor dem Palast ankomme, hole ich tief Luft. Obwohl das Kloster direkt an das Schloss angrenzt, stütze ich meine Hände auf die Oberschenkel und keuche. Was war das? Und warum wollten die Worte nicht vom Abt gehört werden? Schon vorher gab es Apokryphen, die mit mir gesprochen haben oder mir beim Lesen Schmerzen verursacht haben, als wollten sie nicht, dass ich sie ausspreche. Aber das hier war besonders. Als hätten sie mich lieber an ihnen ersticken lassen, als dass ich sie offenbare. Davon habe ich noch nie gehört.

Aber ich weiß schon sehr lange, dass ich im Gegensatz zu vielen anderen Heroen eine begabte Leserin bin. Spätestens, als ich Kampfeinheiten ausfallen lassen sollte, um zu lesen, war es mir klar. Keine anderen Heroen hier im Fürstentum der Wahrheit werden so oft zum Lesen zitiert wie ich.

»Navien!«, ertönt eine vertraute Stimme.

Ich blinzle, um meine Sicht zu schärfen. »Marec«, gebe ich dann hauchend von mir und sehe hinauf zu dem Heroer des Dukes, dem Bruder des Fürsten. Marec ist nicht viel älter als ich, obwohl er genau genommen mein Onkel ist. Ich denke, dass die Fürstenmutter nicht geplant hatte, noch einmal zwei Kinder zu bekommen, nachdem sie bereits Nath als Erstgeborenen zur Welt gebracht hatte und nach ihm den heutigen Fürsten. Aber es ist ein Gesetz der Natur, dass immer zwei Kinder geboren werden.

»Ist alles in Ordnung? Hat Rejan es wieder übertrieben?« Er legt mir eine Hand auf die Schulter und mustert mich. Seine blauen Augen lösen Vertrauen und Vorsicht aus, was einen Krieg in mir bewirkt. Sollte ich ihm von den Worten erzählen? Nein. Denn ich, als Erstgeborene, als Dämon, als Heroe, weiß besser als jeder Adelige, dass wir den Zweitgeborenen verpflichtet sind. Nicht einfach nur so – nein, es ist viel mehr. Wir sind mental und emotional mit ihnen verbunden. Und ich würde niemals ein Geheimnis vor meiner kleinen Schwester haben. Aviell. Sie ist mehr für mich als lediglich ein Geschwisterteil. Mehr als nur die Zweitgeborene, die als erste Frau den Thron erbt und in ferner Zukunft Fürstin des Reichs der Wahrheit sein wird. Sie ist der andere Teil meiner Seele.

Die Fürsten und Äbte nennen es die Erbsünde. Für mich ist es einfach der Lauf der Dinge. Mein Schicksal als Erstgeborene.

Seit ich klein war, wurde ich dazu erzogen, die wenigen dämonischen Fähigkeiten, die ich nutzen darf, gegen Aviells Feinde zu richten. Ich kann die anderen Heroen in meinem Kopf hören, andere Heroen erspüren und manchmal Absichten von Menschen erahnen. Mehr weiß ich nicht über meine Kräfte.

Aber ich wurde zusätzlich auf menschliche Art im Kampf ausgebildet, um Aviell mit meinem Leben zu schützen. Und genau das würde ich jederzeit tun. Dazu mussten sie mich nicht erziehen. Aviell ist die Liebe meines Lebens. Auch wenn andere meinen, das könnte nur jemand sein, den man fleischlich liebt. Ich sehe das anders. Sie ist alles für mich.

Ich räuspere mich, um mich erneut auf mein Gegenüber zu konzentrieren. »Nein«, sage ich schließlich, denn es war nicht Rejan, der mich in diesen Zustand versetzt hat, sondern die Stimmen der Apokryphe.

Marec nickt, wirkt allerdings nicht überzeugt. »Aviell ist mal wieder der Hysterie verfallen«, redet er dann weiter.

Ich schließe kurz die Augen und suche in mir nach ihrem Gemütszustand, bekomme ihn jedoch nicht zu greifen.

»Bist du deshalb hier?«, erwidere ich und straffe die Schultern.

»Nein«, gibt er zu und kommt einen Schritt näher.

Sofort prickelt mein Körper. Wenn es nach Aviell ginge, würde ich Marec heiraten. Aber da ist nicht nur diese Anziehung, die mich unruhig werden lässt. Da ist vor allem Misstrauen. Und die unumstößliche Tatsache, dass er mein Onkel ist. Obgleich die Fürsten der Meinung sind, wir hätten keine Familie.

»Wir konnten dich hören«, raunt er verschwörerisch.

Verdammt. Ich beiße mir auf die Wange und suche nach einer Erklärung.

»Was konntet ihr hören?«, frage ich fast beiläufig, während mein Körper sich immer mehr anspannt, ich jedoch über die Wiesen und unzähligen bunten Blumen im Schlosspark sehe.

»Es war nicht sehr logisch und es waren auch keine Worte. Eher das Gefühl, etwas zurückhalten zu müssen.«

Ich nicke, weil ich nicht in der Lage bin zu sprechen. Da sich die Heroen gegenseitig in Gedanken hören können, sind wir in der Lage, uns zu warnen, sollte es zu Angriffen auf das Königshaus kommen. Aber ich übe mich schon seit Jahren heimlich darin, nicht alles von mir preiszugeben.

Im Studienzimmer des Abtes war ich nur anscheinend zu abgelenkt, zu bedroht, um mich darauf zu konzentrieren, meinen Geist vor den anderen Heroen zu verschließen. Und so, wie ich Nath kenne, den Heroer des Fürsten, hat er ihm längst mitgeteilt, dass von mir ein Gefühl des Zurückhaltens ausgegangen ist. Und das erklärt auch, warum Aviell wütend ist. Wahrscheinlich hat der Fürst nach mir schicken lassen. Und noch wahrscheinlicher ist, dass er mir morgen bei der Lesestunde Nath zur Seite stellen wird, damit er meine Gedanken mitliest. Verflucht sei er.

Mein Blick wandert über die riesige Grünanlage bis hin zum majestätischen Schloss. Die Gärten des Palastes wurden nach den Vorstellungen der Fürstengattin errichtet. Ihr Geschmack ist makellos. Alles hier sieht friedlich und sonnig aus. Die vielen bunten Blumen, die akkuraten Sträucher und Wege. Die Krönung des Ganzen ist allerdings ein riesiger Springbrunnen, der sich vor dem Eingang befindet und den ein Steinmetz zu Aviells Geburt angefertigt hat. Er stellt eine Frau dar, eine Hand auf der Brust, die andere, aus der das Wasser fließt, in die Höhe gereckt. Es soll Aviell abbilden, und ich bin immer aufs Neue verwundert, wie gut sie getroffen wurde, obwohl sie damals noch nicht einmal geboren war.

Als ich wieder einmal begreife, wie unterschiedlich meines und Aviells Leben sind, sehe ich zu Marec, der genau wie ich die schwarze Kampfkleidung der Heroen trägt. Hose, Oberteil, Stiefel. Es spiegelt uns wider. Unsere Identitätslosigkeit. Aber es ist nicht so, als würde ich es beklagen, eine Heroe zu sein. Mir ist sehr früh klar geworden, dass ich niemand bin. Dass ich keine Familie habe. Dass man mich schlagen und behandeln darf, als wäre ich Vieh. Das wusste ich schon mit sechs Jahren. Und sollte ich es einmal vergessen, haben die Menschen genug Narben auf meinem Körper hinterlassen, um mich immer wieder daran zu erinnern. Ich schüttle den Kopf und damit die Gedanken ab.

»Ich gehe zu Aviell«, brumme ich und will mich abwenden, doch Marec hält mich noch einmal zurück. Seine Berührung brennt sich regelrecht in meinen Arm.

»Sie ist beim Fürsten.«

»Ich weiß«, gebe ich zurück und reiße mich los. Heroen und ihre Schützlinge teilen ein untrennbares, starkes Band. Allerdings ist mir bisher niemand mit einer Verbindung begegnet, die auch nur im Ansatz der von Aviell und mir gleicht. Manchmal ist es so, als wären wir ein und dieselbe Person.

Schnellen Schrittes marschiere ich den Kiesweg entlang, auf den riesigen weißen Palast mit all seinen kleinen Erkern und Türmchen zu. In der Sonne schimmert er, als wäre das hier das Reich des Himmels. Aber genau deshalb wurde dieses Königreich auch erbaut. Als die Lichtwelt im Krieg mit der Unterwelt stand, weil die Fürsten der Unterwelt hinauf auf die Erde wollten, erschuf die Lichtwelt kurz vor ihrer Niederlage ein achtes Fürstentum, um die sieben Todsünden, die die anderen verkörpern, auszugleichen. Dafür wurde das alles erschaffen. Das achte Reich. Das Reich der Wahrheit. Doch bis heute hat es kein Fürst unseres Königreichs geschafft, es wirklich auszubauen. Es gibt bis auf den Palast und das angrenzende Kloster nur ein kleines Dorf. Was auch bedeutet, dass wir auf die anderen Fürstentümer und deren Landwirtschaft angewiesen sind. Vor allem das Fürstentum des Zorns, das im Südosten an unser Land grenzt, ist ein wichtiger Handelspartner. Mehr noch als das, denn der erste Fürst der Wahrheit hat damals die Tochter des Fürsten des Zorns geheiratet, weshalb auf der Fürstenfamilie der Wahrheit ebenfalls der Fluch der Heroen liegt.

Doch sobald Aviell Fürstin ist, weiß ich, dass sich alles ändern wird. Sie ist voller Tatendrang und träumt davon, unser Fürstentum wachsen zu lassen und zu einem wunderbaren Ort zu machen, nachdem sie, wie es ihre Pflicht ist, jedes Fürstentum der Todsünden besucht hat.

Als ich durch einen Seiteneingang ins Schloss schlüpfe und die riesigen Gänge entlanglaufe, spreche ich mir selbst Mut zu, bis ich vor der Flügeltür zum Thronsaal ankomme und sie aufstoße. Solange Aviell sich hier befindet, darf auch ich eintreten. Allein wäre mir das nicht gestattet, außer der Fürst würde ausdrücklich nach meiner Anwesenheit verlangen.

Aviells Blick ruht sofort auf mir, als hätte sie mich bereits kommen gehört. Gespürt. Sie steht vor ihrem Vater, der auf dem Thron sitzt und die Brauen hebt. Neben ihm hat die Fürstengattin Platz genommen, der Aviell wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Rabenschwarzes Haar, dunkle Augen und diese Porzellanhaut, die so wunderschön schimmert.

Der Fürst schnalzt mit der Zunge. »Wird aber auch Zeit, Heroe«, knurrt er.

»Mein Fürst, ich bitte um Gnade, ich wurde aufgehalten«, sage ich kühl und fließe in eine ausladende Verbeugung. Als ich wieder aufschaue und mich kurz seine eisblauen Augen treffen, erschaudere ich. Es sind die gleichen Augen, in die ich jeden Tag blicke, wenn ich in den Spiegel sehe. Doch obwohl ich ihm äußerlich wirklich gleiche – viel mehr als Aviell oder Philipp vor seinem Tod –, fühlt es sich nicht an, als wäre er mein Vater. Auch die Fürstengattin neben ihm ist nicht mehr als Aviells Mutter für mich. Aber nicht meine. Vielleicht dachte ich mal eine Weile, als ich klein war, dass sie mich ebenfalls wie ihr Kind liebt. Doch das war nur Wunschdenken. Sie sind nicht meine Eltern. Das haben sie mir mein Leben lang deutlich zu verstehen gegeben.

»Vater!«, empört sich Aviell.

Er macht eine gnädige Geste. Ein kaum merkliches Nicken. Aviell ist sein Engel. Aber hier wird sie keine Milde bei ihm erreichen.

»Lass mich ausreden, mein Kind«, sagt der Fürst und winkt mich zu sich.

»Hast du dem Abt Worte vorenthalten, Heroe?«

»Sie hat einen Namen, Vater.«

Er schließt die Augen, offenbar um sich zusammenzureißen. »Nennt mich nicht so, Aviell.«

»Mein Fürst«, verbessert sie sich bissig und wirft mir einen verstohlenen Blick zu.

Ich wünschte, sie könnte auch nur ein einziges Mal still sein und sich nicht fortwährend in derartige Situationen begeben.

»Also, Dämon!«, spricht er wieder mich an. Seine Strafe für Aviell.

»Nein, Euer Gnaden«, lüge ich.

Warum ich ausgerechnet in das Fürstentum der Wahrheit hineingeboren wurde, ist mir schon immer ein Rätsel gewesen. Die einzige Person, die ich noch nie angelogen habe, ist Aviell. Ansonsten bin ich eine Meisterin darin. Und das in einem Königreich, in dem jeder direkt und ehrlich ist. Ich habe mich bereits oft gefragt, ob ich so oft angeprangert worden wäre, würde ich in einem anderen Fürstentum leben. Hier gehört es zur Ordnung, dass jedes kleinste Vergehen gemeldet wird.

»Nath!«, winkt der Fürst seinen älteren Bruder zu sich. Er ist der einzige Heroer, den er mit seinem Namen anspricht. »Sag uns, was du gefühlt hast.«

»Sie hat sich dagegen gewehrt, etwas von ihrem Wissen preiszugeben.«

Ist das sein Ernst? Das könnte alles bedeuten.

»Es ging nicht um die Apokryphen, Euer Gnaden. Ich war heute abgelenkt. Es hatte etwas mit Aviell zu tun. Und ihr gilt all meine Loyalität und Verpflichtung.«

Aviells Blick ruht auf mir, und ich weiß genau, was sie da tut. Sie sucht in meiner Seele nach der Wahrheit. Und wir beide wissen, dass sie da nicht lange suchen muss.

»Ist das wahr, Mistress?«, fragt er seine Tochter, die noch einmal mein Gesicht fixiert, um die Finte perfekt zu machen. Sie weiß längst, dass ich lüge.

»Ja, mein Fürst«, lügt nun auch sie. Ich spüre Wut zu mir hinüberschwappen. Sie ist verärgert, weil ich sie dazu bringe, unehrlich zu sein, denn anders als ich ist Aviell die geborene Fürstin der Wahrheit.

»Dann geht! Nath wird dich morgen begleiten und ich erwarte bessere Ergebnisse beim Lesen der Apokryphen!«

Ich nicke, verbeuge mich und warte, bis Aviell vorgeht, damit ich ihr folgen kann.

Sie ist schnell. Rennt fast, bleibt aber die elegante Thronfolgerin, die sie nun einmal ist, während mir immer mehr Wut entgegenströmt.

Als wir in ihren Gemächern ankommen, schließt sie die Tür und lehnt ihren Kopf daran. Atmet, bevor sie sich zu mir umdreht und mich böse anfunkelt.

»Was hast du getan, Navien?« Sie berührt ihre Brust, als würde sie das Korsett darunter erdrücken. Ihr die Luft nehmen, die sie benötigt, um ihrer Wut Ausdruck zu verleihen.

»Ich konnte nicht –«

»Was konntest du nicht?«

»Wenn du mich nicht unterbrechen würdest, Avi, dann würde ich es dir erklären«, gebe ich genervt zurück.

Beschwichtigend hebt sie die Hände, bevor sie sie wieder auf ihren ausladenden goldenen Rock legt. »Entschuldige.« Sie kommt auf mich zu, berührt meine Wange mit ihrer weichen Hand und schenkt mir ein verzweifeltes Lächeln. Ein Grübchen bildet sich auf ihrer rechten Wange. So wie bei mir, wenn ich grinse. Wahrscheinlich das Einzige, was wir äußerlich gemeinsam haben.

»Die Worte haben mich gezwungen, sie nicht auszusprechen. Es war … als würden sie mir die Kehle zuschnüren.«

»Was waren das für Worte?«, hakt sie nach und setzt sich auf die rote Chaiselongue, die vor den großen weißen Sprossenfenstern steht.

»Als Erste geboren, als Zweite gesühnt. Verbunden durch Seelen, den Schmerz nicht gespürt. Der Tod wird dich suchen, doch findet er dich nicht. Denn dein ist die Herrschaft, versunken in Licht«, wiederhole ich und nehme gegenüber von ihr Platz.

Aviell beißt sich auf die Unterlippe, während sie nachdenkt. »Geht es da um die Heroen?«

Ich zucke mit den Schultern und senke kurz meinen Kopf. »Du sollst mich nicht immer beschützen, Avi. Ich bin ein Dämon. Ich muss dich schützen.«

»Red nicht so ein dummes Zeug, Navi. Du weißt, dass ich das anders sehe.« Ihr Blick wirkt betrübt. Denn egal, wie sie das alles sieht – das ist die Wahrheit, und auch sie wird eines Tages eine Erstgeborene zur Welt bringen, die als Dämon verachtet und nur am Leben gelassen wird, um das der Zweitgeborenen zu schützen.

Wir beide waren dabei, als Philipp starb. Unser Bruder. Der Jüngste von uns vieren. Sein Heroer Kaleb wurde noch in der gleichen Sekunde vom Fürsten geköpft. Vor unseren Augen. Denn ohne ihren Schützling verlieren alle Heroen sofort ihren Wert und müssen sterben. So will es das Gesetz.

Über Aviells Wange rinnt eine Träne. Sie spürt, was ich spüre. Erinnert sich, genauso wie ich. Obgleich wir erst zehn und elf waren. Die Tode unserer Brüder haben auf ewig ein Loch in unseren Seelen hinterlassen.

Und vor allem haben sie bewiesen, dass ich ohne Aviell augenblicklich sterben würde. Sie hasst den Gedanken. Ich allerdings weiß nicht, ob ich ein Leben führen wollen würde, in dem meine andere Hälfte nicht existiert.

»Behalte die Worte weiter für dich«, flüstert sie plötzlich, erhebt sich und geht zum Fenster. Ihr langer Rock streicht sanft über den Dielenboden. Das Rascheln des Stoffes durchdringt die Stille im Raum. »Wenn dir dein Gefühl sagt, sie sollen nicht an ihre Ohren gelangen, so vertraue ich darauf.«

Ich nicke stumm, obwohl sie es nicht sehen kann.

»Er will, dass ich heirate«, beginnt sie übergangslos mit belegter Stimme und mit schützender Mauer um ihre Gefühle. »Ich bin die erste Frau, die den Thron besteigen wird, weil Philipp und Kaleb tot sind und Mutter keine Kinder mehr bekommen kann, und Vater sagt, ein Duke oder ein einfacher Adeliger käme nicht infrage.«

Ich verenge meinen Blick. Es ist üblich, dass die Fürsten eine Nicht-Dämonin aus einer Königsfamilie zur Frau nehmen. Wenn Aviell aber einen der sieben Fürsten heiraten soll … »Dann würden sich zwei Fürstentümer vereinen«, spreche ich den Gedanken aus.

Aviell zuckt mit den Schultern. »Unser Vater scheint genau das zu wollen.«

Ich schnaube, halb vor Wut, halb lachend. Das ist absurd. Es gibt acht Fürstentümer. Acht Fürsten. Die Königreiche können sich nicht vereinen.

»Er sagt, genau dafür wurde das Königreich der Wahrheit von Gott erschaffen. Um ihre Sünden auszugleichen, indem wir unsere Eigenschaften mit ihnen verbinden und unsere Kinder eine bessere Welt erschaffen.«

»Und deshalb heiraten die Fürsten die nicht-dämonischen Kinder der anderen Fürsten, die keinen Anspruch auf ihren Thron haben. Du wirst Fürstin sein, Aviell. Nicht die Frau eines dieser … Monster. Also solltest auch du keinen Fürsten heiraten, sondern einen ihrer Brüder.«

»Vielleicht sind sie nicht so schlimm, wie wir denken«, flüstert sie kraftlos.

»Jeder von ihnen steht für eine der sieben Todsünden. Sie sind die Nachfahren der Fürsten der Unterwelt, die leibhaftig aus der Hölle stammten, Avi. Sie sind schlimm«, fauche ich. In mir bricht Panik aus. Das darf ich nicht zulassen.

»Beruhig dich bitte«, haucht sie schwach und berührt angestrengt ihre Stirn.

»Es tut mir leid«, gebe ich kleinlaut zurück. Sie hat sicher genug mit ihren eigenen Gefühlen zu kämpfen, da braucht sie nicht noch meine zu spüren.

»Und welcher soll es sein?« Ich bemühe mich, meinen unbändigen Hass in meinem Geist zu behalten.

»Zorn.«

Ich sage nichts, weil jedes Wort nur mehr Wut auslösen würde. Aviell wartet einen Moment, dann dreht sie sich zu mir um und mustert mich, als würde sie etwas in mir suchen. Zustimmung?

»Es gibt Schlimmere«, presse ich eine Lüge hervor.

Ganz leicht hebt sie einen Mundwinkel. »Das ist wahr.«

»Sieht er wenigstens gut aus?«, versuche ich das Gespräch aufzulockern. Doch es hat keinen Sinn. Avi weiß, was ich davon halte.

»Wir werden es in wenigen Tagen herausfinden. Morgen beginnen wir die Reise in sein Fürstentum. Nach deiner Lesestunde.«

Ich nicke wenig überrascht, denn dass wir bald aufbrechen müssen, war uns beiden bewusst. Der Fürst der Wahrheit hat vor ein paar Monaten entschieden, dass Avi schon jetzt ihre Reise durch die Fürstentümer antreten soll, um ihren Soll zu erfüllen, damit sie eines Tages Fürstin der Wahrheit werden kann. Doch dass es um weitaus mehr gehen wird als reine Pflichterfüllung, scheint der Fürst Avi bis zuletzt verschwiegen zu haben. Warum, weiß ich nicht; eigentlich ist er jung und kraftvoll genug, um weiter zu herrschen.

Am liebsten würde ich schreien. Aber das hier ist nicht mein Schicksal. Ich habe kein Recht zu leiden. Es ist ihres. Und es liegt auch nur in ihrem Ermessen, sich zu wehren oder nicht. Offenbar hat sie sich entschieden, dem Willen ihres Vaters Folge zu leisten.

»Warum muss das alles so schnell gehen, Avi? Ist dein Vater krank?«

»Nein. Es gibt Unruhen.«

Ich runzle die Stirn, weil ich nichts davon wusste. Wie viel verbirgt sie noch vor mir? Ich scheine nicht die Einzige zu sein, die ihren Geist verschließen kann.

»Unruhen?«, hake ich also nach und trete einen Schritt näher.

»Ja, die Menschen sprechen von dem Fürsten der Unterwelt, der uns alle stürzen will und …«

»Und?«, hake ich kühl nach. Irgendein selbst ernannter Fürst macht mir keine Angst.

»Und von der Rückkehr der Erzengel.«

Ich würde laut loslachen, aber das ist eine Seite an mir, die ich nicht nach außen trage. Also bleibe ich weiter aufmerksam und kühl.

»Deshalb ist ihnen das Lesen der Apokryphen wichtiger geworden. Sie hoffen in den alten Schriften der Lichtwelt Hinweise auf den Verbleib der Erzengel zu finden und darauf, ob sie wieder auferstehen können.«

Ich erwidere nichts. Was sollte ich schon sagen? Aviell kennt die Apokryphen nicht. Es sind lediglich Geschichten, und ja, vielleicht sind sie genau so einmal passiert. Doch über die Erzengel habe ich nie auch nur ein Wort gelesen.

»Nichtsdestotrotz reisen wir morgen ab und bringen meine Pflicht hinter uns. Diese Vereinigung ist schlau. Wir brauchen ihre Landwirtschaft und könnten unsere Fürstentümer vereinen, was uns ebenfalls zugutekäme.«

Ich beiße zornig die Zähne aufeinander.

Aviell bedenkt mich mit einem Blick, den ich nur zu gut kenne. Sie ermahnt mich zwar fortwährend, meine Gefühle für mich zu behalten, sollten sie zu stark werden, aber gleichzeitig verlangt sie, dass ich ich selbst bin. Das ist womöglich der einzige Punkt, in dem wir uns so uneins sind.

»Dafür lebe ich«, antworte ich auf ihre unausgesprochenen Gedanken.

»Wer bist du, Navi?«

Meine Lippen beben. Ich hasse es, wenn sie das fragt. Niemand auf dieser Welt kennt mich so gut wie sie. Und doch betont sie immer wieder, dass ich keine eigene Identität besitze. Und das schmerzt.

»Deine Heroe«, sage ich kühl, weil es die Wahrheit ist. Avi mag sich dagegen wehren. Es nicht einsehen. Aber sie kann die vorbestimmten Dinge nicht ändern. Und vor allem wird sie nicht ändern können, dass ich für sie lebe. Nur für sie und nicht für mich.

Stille breitet sich zwischen uns aus, die mir die Luft abschnürt. Also verbeuge ich mich leicht und verlasse ohne ein weiteres Wort den Raum.

Manchmal würde ich in solchen Situationen gerne weinen. Einfach, weil es bei Avi und den anderen so wirkt, als könnten diese Tränen einen Teil der Schmerzen mit sich nehmen. Ihn aus der Seele in die Welt tragen, wo er trocknet und verschwindet. Ich habe noch nie auch nur eine Träne vergossen. Nicht einmal, als Philipp und Kaleb starben. Heroen sind nicht in der Lage dazu. Dämonen weinen nicht.

Ich schreite die imposanten Gänge entlang und versuche den ganzen Prunk zu ignorieren. Die samtenen Vorhänge, die goldenen Kerzenhalter und vor allem die Gemälde der Fürstenfamilie. Ich kämpfe nicht mit mir selbst, weil ich, obwohl ich ebenfalls ihr Kind bin, nicht dazugehöre. Einzig, wenn Aviell mir diese eine Frage stellt, schmerzt es. Als würde ich die Antwort zu meiner Identität hier direkt vor meinen Augen haben, sie aber nicht greifen dürfen. Sie kennt meine Rolle. Mein Schicksal. Warum also will sie mehr? Warum, da sie doch genau weiß, dass ich keine Identität habe, außer der, ihre Heroe zu sein?

Wahrscheinlich hat sie keine Ahnung, dass sie mir genau damit alles nimmt, was ich habe.

Als ich endlich die Treppe zum Keller erreiche, in dem sich die Zimmer der Heroen befinden, stocke ich. Eine leise männliche, flüsternde Stimme zieht meine Aufmerksamkeit auf sich.

»Bist du dir sicher?«

Eine weitere Stimme ertönt. Eine, die mir bekannt vorkommt. »Es ist alles arrangiert.«

Ich verziehe den Mund und denke nach. Suche in mir nach der Stimme, bis das Gesicht der neuen Dienstmagd vor meinem inneren Auge erscheint.

»Mit dir steht und fällt alles«, erklingt die männliche Stimme vom Anfang, die ich nicht kenne.

»Ich weiß. Niemand wird sich wehren.«

Wehren? Wogegen? Mein Instinkt meldet sich. Es droht Gefahr.

Ich gehe einen Schritt vor, als die beiden ein wenig gedämpfter weiterreden.

»Hier ist das Mittel«, sagt der Mann.

Die Dienstmagd erwidert nichts, weshalb ich noch eine Treppenstufe nehme und einen Blick in den Gang werfe.

Stahlblaue Augen treffen mich. Mein Herz pumpt alles Blut in meinen Kopf und meine Muskeln. Meine Hand greift mein Schwert. Doch der vermummte Mann mit den eiskalten Augen hebt seine Handfläche an seinen Mund und pustet mir dämonische Macht entgegen, bevor ich den anderen Heroen eine Warnung zukommen lassen kann.

Meine Sicht verschwimmt. Ich verliere meine Sinne – und dann geben meine Beine nach. Das Letzte, was ich sehe, sind die panischen Augen der Dienstmagd und der kleine Flakon mit grüner Flüssigkeit in ihrer Hand. Gift. Dämonisches Gift.