KAPITEL 3

Fast zwei Wochen vergehen, in denen ich mich einschließe und sie alle wegschicke. Ich habe keine Kraft, mich ihnen und dieser Lüge zu stellen, während ich gleichzeitig dagegen ankämpfe, dass mich einer der Heroen hier im Schloss hört. Ein unbedachter Moment und sie würden mich in ihrem Geist spüren. Und sofort wissen, wer ich bin.

Gleichzeitig ist da immer noch dieser erdrückende Schmerz in meiner Seele. Meine Schwester ist weg. Und auch wenn ich fühle, dass sie lebt, ist unsere Verbindung auf ewig verwundet. Ich weiß es. Fühle es. Die Wunde, die sich quer durch unseren Geist gezogen hat, kann nicht wieder heilen.

Und doch weiß ich, dass ich mich nicht ewig vor der Außenwelt verstecken kann. Es nicht darf. Zu viel steht auf dem Spiel. Und ich muss Aviell finden.

»Mistress!«, ertönt mit einem Mal die Stimme des Fürsten von draußen, als ob er meine Gedanken gehört hätte.

Ich ziehe meine Knie an und bleibe auf dem Bett sitzen. Mittlerweile kenne ich in diesem Raum alles in- und auswendig. Wie im Bad sind die rundlichen Decken hier ebenfalls bemalt, jedoch in satten Farben wie Rot und Braun. Die Vorhänge an meinem Himmelbett passen in dieses Farbschema, genauso wie die alten Holzmöbel und der goldene Spiegel über dem Schminktisch.

»Mein Fürst«, gebe ich matt zurück.

»Ihr …« Er stockt, als wüsste er nicht, wie er mir das Folgende beibringen soll. Auch ihn habe ich bisher immer abgewehrt. Aber nun ist zu viel Zeit vergangen, um ihn weiter hinzuhalten, und meine Wunde ist ein wenig verheilt.

»Ich weiß, dass Ihr trauert. Um Eure Familie und um Eure Heroe.«

Ich blinzle, als er so selbstverständlich akzeptiert, dass der Verlust einer Heroe Trauer auslösen kann. Doch ich höre ebenfalls den Zorn und die Ungeduld in seiner Stimme, als er mit seiner Ansprache fortfährt.

»Dennoch erwarten die Fürsten, Euch heute Abend zu sehen. Ich konnte das Treffen verschieben, aber nun …«

Ich ziehe scharf die Luft ein. Auch Aviells Vater, der Fürst der Wahrheit, war bei den immer wieder stattfindenden Treffen der Fürsten anwesend. Dieses hier scheint jedoch anberaumt worden zu sein, um mich vorzustellen. Also stehe ich auf und öffne die Tür. Seine liebevollen grünen Augen treffen mich. Und ohne es zu wollen, heilt durch ihn etwas in mir. Es ist aber nichts von dem, was in den letzten beiden Wochen passiert ist. Es ist die Art, wie er mich ansieht. Als wäre ich etwas Besonderes. Als wäre ich kein Dämon. Und da begreife ich, dass er eine Wunde heilt, von der ich nicht einmal wusste, dass sie existiert.

»Sind sie hier?«, frage ich vorsichtig. Achte genau darauf, mich wie eine Mistress und nicht wie eine Heroe zu benehmen. »Sie treffen heute Abend ein. Und sie wollen Euch kennenlernen. Sie müssen es. Sonst könnt Ihr nicht als Fürstin eingesetzt werden und …«

»Auch wenn ich trauere, mein Fürstentum braucht eine Herrscherin«, vervollständige ich. Bisher war es unüblich, dass eine Frau herrscht, also müssen mich erst alle Fürsten kennenlernen. Oder eher sollten sie eigentlich Aviell kennenlernen. Denn vorher wird unser Fürstentum gar keinen Herrscher haben. So lautet zumindest die Regel, die die Fürsten aufgestellt haben, als klar wurde, dass kein männlicher Thronfolger mehr geboren wird.

Doch mit dem Kennenlernen ist es längst nicht getan. Anschließend muss Aviell noch allen Fürstentümern einen Besuch abstatten. Auch wenn das schon mehr Sinn ergibt, da die anderen Fürsten in ihrer Kindheit ebenfalls jedes Fürstentum aufgesucht haben. Erst dann kann man rechtmäßig gekrönt werden.

Hastig schüttle ich die Gedanken ab und konzentriere mich wieder auf den Fürsten, der gerade nickt. Ich mustere seine dunkelblonden Haare. Seine große Statur und dieses gemalte Gesicht. Wir kennen uns nicht, obwohl ich bereits zwei Wochen hier bin. Wochen, in denen ich nicht nach Avi suchen konnte. Aber ich kann ihr nicht helfen, wenn ich voreilig handle und damit enttarnt werde.

»Weiß man denn inzwischen, wer für den Angriff verantwortlich ist?«

Der Fürst senkt den Blick. »Wir gehen davon aus, dass es Rebellen waren, die außerhalb der Fürstentümer im Westen leben. Wir werden sie finden und bestrafen.«

Ich nicke. »Und was ist von meinem Fürstentum übrig?«

Er seufzt. »Die Gebäude. Einige Äbte, und das Dorf wurde nicht angegriffen.«

Ich schließe kurz die Augen, dabei wusste ich bereits, dass die Menschen, mit denen ich aufgewachsen bin, alle tot sind.

»Und was passiert jetzt mit ihnen? Und den Toten?«

»Laut Protokoll wurden sie an einen sicheren Ort gebracht, von dem niemand etwas weiß. Die Toten wurden verbrannt. Natürlich außer der Fürstenfamilie und einigen hochrangigen Adeligen. Sie wurden in die Krypta gebracht und werden erst gebührend bestattet, wenn ihre Mörder hängen.«

»In Ordnung. Ich werde heute Abend anwesend sein«, flüstere ich. Das Protokoll ist mir bekannt. Damals mussten wir zwei Monate warten, bis der ehemalige Fürst bestattet wurde, da sein Tod ein Rätsel war. Aviell hat viel geweint, weil sie ihren Großvater mochte. Ich kannte ihn kaum.

»Ich lasse Euch etwas zum Anziehen bringen.« Er holt Luft, als wollte er noch etwas sagen. Stattdessen schweigt er und hebt seine Hand an meine Wange, bis seine Finger ganz vorsichtig über die Narbe an meiner Schläfe fahren. Zorn flammt in seinen Augen auf. Sein Kiefer bebt.

Die rötliche Linie reicht bis zu meinem Kinn hinunter, weil ich mich entschieden habe, dass es zu auffällig wäre, hätte ich eine Narbe nur dort, wo auch das Mal der Heroen aus der Haut sticht. Ich habe sogar darüber nachgedacht, mir das schwarze Herz von der Brust zu schneiden. Aber das hätte ich wohl kaum überlebt.

»Wir werden uns darum kümmern«, verspricht er knurrend.

Ich entgegne nichts. Stattdessen lasse ich zu, dass mich seine Berührung bewegt.

»Ich besitze eine Bibliothek. Euer Vater schrieb mir, dass Ihr gerne lest.«

Ich schlucke schwer, als mir wieder bewusst wird, warum die beiden in Kontakt standen. Avi ist seine Verlobte. Ich bin seine Verlobte.

»Ich werde sie in den nächsten Tagen aufsuchen«, sage ich und trete einen Schritt zurück. Seine Nähe und Fürsorglichkeit lösen etwas in mir aus. Etwas, was ich noch nie gefühlt habe. Aber jetzt erschlägt mich die Ungerechtigkeit beinahe, unter der ich aufgewachsen bin.

»Mein Fürst?«, fordere ich ihn auf, das hier endlich zu beenden und mich wieder allein zu lassen.

»Taron«, verbessert er mich und löst damit wieder Gefühle in mir aus, die ich verdammt noch mal nicht fühlen will. Aber sie kommen. Ich durfte einen Fürsten nie bei seinem Namen nennen.

»Avi«, sage ich. Nicht nur, weil es Aviells Spitzname ist, sondern weil er meinem mehr gleicht. Vielleicht fühlt es sich dann nicht mehr so sehr danach an, als würde ich ihr Leben stehlen.

»Ich lasse das Kleid schicken«, gibt er gepresst von sich, fügt ein »Avi« hinzu und geht, nachdem er eine leichte Verbeugung angedeutet hat.

Ich schließe die Tür und lasse mich auf mein Bett fallen. Nein. Auf Avis Bett. Denn mir gebührt ein Schwert an meinem Hals. Und kein Himmelbett in einem Schloss.

Wie versprochen wird mir wenig später ein Kleid gebracht. Die Kleidung, die ich die letzten Wochen getragen habe, wäre wohl nicht für einen solchen Anlass angebracht. Auch wenn es dennoch schöne Kleider waren.

Ich schicke die Dienstmagd aus dem Zimmer, um mich zu baden, ohne dass sie das schwarze Herz auf meiner Brust sieht, und hole sie erst wieder herein, als ich das Kleid übergezogen habe und sie es nur noch verschließen muss. Tarons Geschmack ist tadellos. Genau so ein Kleid hätte Avi getragen. Weiß, als Symbol für unser Fürstentum. Rein, ehrlich. Die Wahrheit. Der Stoff lässt einen kleinen Blick auf mein Dekolleté zu, ist aber nicht zu freizügig. An der Taille wird das Kleid von einem goldenen Stoffband gehalten und endet erst am Boden. Aviell hätte es geliebt und sich gedreht, bis ihr schwindelig gewesen wäre, um dabei zuzusehen, wie der Tüll um ihre Beine flattert. Ich hingegen wünsche mir meine schwarze Heroenkleidung zurück. Nachdem ich nach der Entfernung meines Heroenmals wieder zu Bewusstsein gekommen bin, habe ich sie verbrannt. Die Überreste habe ich aus dem Fenster geworfen.

Das Mädchen beginnt meine Haare um ein Diadem zu flechten. Stets darauf bedacht, meine Narbe mit Strähnen zu kaschieren. Am liebsten würde ich sie dafür schlagen. Diese Narbe gehört zu mir, so wie zuvor die schwarze Lilie.

Meine Haut und meine Haare riechen nach Lavendel, etwas, was ich sonst nur an Avi wahrgenommen habe. Wir Heroen haben normalerweise nur Kernseife und einen Eimer kaltes Wasser am Tag, um uns zu reinigen.

»Oh, soll ich Euch die Haare lieber über den Rücken fallen lassen?«, fragt das Mädchen mit einem mitleidigen Blick auf meine Schultern.

Ich bin kurz verwirrt, begreife dann aber, dass das ausgeschnittene Kleid Narben an meinem Rücken freilegt. »Vielleicht ein paar Strähnen? Sie sind von einem Ausritt«, lüge ich und ignoriere den seelischen Schmerz, der mit ihnen verbunden ist. So wie immer.

Als das Mädchen fertig ist, wirft sie mir einen liebevollen Blick durch den Spiegel zu. Und sosehr ich es auch will, ich begegne ihm nur mit Ausdruckslosigkeit. Ich kann dieses Mädchen nicht in mein Herz schließen, so wie es vielleicht Avi getan hätte. Es geht einfach nicht. Denn mein Herz ist verschlossen. Für jeden Menschen außer Avi. So bin ich geboren. So wurde ich ausgebildet. Und spätestens nach Philipps und Kalebs Tod habe ich den Rest der Welt aus meinem Herzen verbannt. Ein Teil von mir fragt sich, ob ich das schwarze Mal auf meiner Brust genau deshalb nicht herausgeschnitten habe. Weil es genau das zeigt, was darunterliegt.

Schließlich geleitet mich das Mädchen die langen Gänge entlang. Als ich hier ankam, habe ich kaum etwas wahrgenommen. Der Palast ist ein wenig düsterer als unserer. Aber die rötlichen Farben und Fackeln, die tanzende Lichter an die Wände bis hinauf zu den hohen, verzierten Decken werfen, wirken gemütlich und einladend. Die riesigen Fenster sind mit dicken Stoffen behängt. Auch etwas, was es bei uns nicht gibt. Alles ist hell und weiß und die Sonne strahlt frei durch das Glas der Fenster. Doch jetzt existiert das alles nicht mehr. Jetzt sind die weißen Wände und der goldene Thronsaal meiner Heimat blutbedeckt, und all das Leben, das unsere Hallen erhellt hat, wurde mit der Klinge des Verrats ausgelöscht. Der Fürst, die Fürstengattin. Nath, Marec, sie alle wurden abgeschlachtet. Und ich werde herausfinden, wer das war.

Stimmen tauchen in meinem Geist auf. Die Heroen hier im Schloss sind angespannt.

Der Fürst der Völlerei ist da , sagt jemand mit einer tiefen männlichen Stimme in meinem Kopf, und ich konzentriere mich mit all meiner Macht darauf, ihm nicht meine Ängste entgegenzuschreien und mich sofort wieder zu verschließen. Als ich eine Treppe betrete und die Dienstmagd sich mit einer Verbeugung entschuldigt, spüre ich, dass sich ihre Geister auf mich richten.

Das ist sie , ruft einer durch die Köpfe, während ihn ein anderer Heroer ermahnt, solche Informationen für sich zu behalten. Dass ich sie höre, bedeutet, dass ich meinen Geist nicht komplett blockiert habe. Ich muss mich zusammenreißen.

Ich hole Luft, klammere mich an das schwarze Geländer und schreite über den roten Teppich, der die marmornen Stufen bedeckt, hinab. Wenn ich Avi retten will, darf ich nicht mehr Navien sein. Und ich muss aufhören Angst zu haben und mich benehmen, wie es sich für eine Fürstin geziemt. Für einen winzigen Augenblick sehe ich hinauf zur Decke. Wunderschöne Malereien erstrecken sich weiter, als meine Augen erfassen können. Sie zeigen den Aufstieg der Fürsten von der Unterwelt auf die Erde.

Unten angekommen, nimmt Taron mich in Empfang. Er trägt einen roten ausladenden Umhang und hält mir seine Hand entgegen. Ich lege meine in seine und folge ihm einen imposanten Gang entlang. Lasse mich von ihm leiten und nehme nichts mehr um mich herum wahr, bis wir vor zwei großen Flügeltüren ankommen. Ich straffe die Schultern und dann tritt die zukünftige Fürstin der Wahrheit ein. Und alles, was sie ist – was ich bin –, ist eine Lüge.

Der Festsaal ist riesig. Die Decke gleicht der einer Kapelle. Ein wenig erhöht steht ein langer Tisch, an dem sechs Männer sitzen. Ihre Köpfe schmücken Kronen, ihre Schultern die purpurnen Umhänge der Fürstentümer. Nur einer von ihnen trägt weder Krone noch Umhang. Seine schwarzen Augen richten sich auf mich. Seine Dunkelheit umhüllt mich, droht mich zu zerquetschen. So, als wäre er hier der Dämon und nicht ich. Ein grausames Lächeln umspielt seinen Mund, während er sich mit seinen Fingern über das Kinn und die Lippen streicht. Dann wandert sein düsterer Blick einmal über meinen gesamten Körper und bleibt an der vernarbten Haut in meinem Gesicht hängen. Für den Bruchteil einer Sekunde zuckt sein Mundwinkel und ich meine Anerkennung in seinen Augen zu erkennen. Dann leckt er sich über die Lippen und wendet sich ab, als wäre ich es nicht wert. Als hätte er sich an meiner nichts aussagenden Person sattgesehen.

Ich schlucke schwer und mustere die anderen Tische, an denen Adelige sitzen. Sie alle starren nur mich an. Panik breitet sich in meinem Körper aus. Wie soll ich es schaffen, so viele Menschen glauben zu machen, ich wäre auch nur im Ansatz wie sie? Privilegiert. Geliebt. Ausgestattet mit einer unabhängigen Seele.

»Darf ich vorstellen … Mistress Aviell. Thronfolgerin des Fürstentums der Wahrheit.«

Bei Tarons Worten geht ein Raunen durch die Menge. Die Adeligen senken ehrerbietig die Köpfe. Nur die Fürsten bleiben gerade sitzen.

Der Fürst ohne Krone, er ist komplett in Schwarz gehüllt, ergreift seinen Kelch, trinkt einen Schluck und sieht mich noch ein letztes Mal durchdringend an, bevor er sich endgültig seinem Nachbarn widmet und offenbar das Gespräch, das ich unterbrochen habe, weiterführt. Als wäre nichts passiert. Der Mann, mit dem er sich unterhält, wirft mir dabei immer wieder laszive Blicke zu. Seine Gesichtsmuskeln zucken unruhig und lassen seine grüne Augen Blitze in meine Richtung schicken. Ich spähe zu dem Symbol auf seiner Brust. Ein Hirsch, in dessen Geweih sich ein W rankt. Der Fürst der Wollust.

»Komm«, raunt Taron mir zu und führt mich an meinen Platz bei den anderen am Tisch, bevor er sich selbst setzt. Keiner der Fürsten beachtet mich weiter. Stattdessen reden sie miteinander, scherzen, lachen, wie Privilegierte es tun, und essen und trinken. Der Fürst neben mir zieht seinen Teller und Krug zu sich, als würde ich ihm sein Hab und Gut wegnehmen. Der Fürst des Geizes.

»Wie wär’s, Taron«, ertönt plötzlich eine so düstere und machtvolle Stimme, dass ich den schwarz gekleideten Fürsten nicht einmal ansehen muss, um zu wissen, wer da spricht. »Erzähl uns mehr über deine Verlobte.« Seine Lider zucken kurz, als würde er sich auf den nächsten Schlag freuen. »Aviell«, fügt er dann leise und rau hinzu. Aber jeder hier hört es. Nur bin ich mir sicher, dass ich die Einzige bin, die die Verachtung darin erkennt. Mein Kiefer verkrampft sich.

»Aviell hat ihre gesamte Familie verloren, Liran. Ein wenig mehr Respekt vor ihrem Namen.«

»Ihrem Namen«, wiederholt der Fürst mit einer Mischung aus Belustigung und … ja, was ist das? Eine Drohung?

Sein herablassender Blick landet auf mir. Und da weiß ich, welcher Fürst er ist. Der Fürst des Hochmuts. Ich versuche mich zu beruhigen. Er weiß nichts. Diese Überlegenheit liegt an seiner Sünde. Die des Hochmuts, des Stolzes. Er spielt mit mir und meine angespannte Reaktion sorgt bei ihm für ein kaum merkliches Lächeln.

»Mich würde brennend interessieren, was mit Eurer Heroe geschehen ist. Warum hat sie Euch nicht beschützt, Mistress? Wie war ihr Name noch gleich?« Er redet ganz langsam. Ganz bedacht. Und sieht mich erst wieder an, als er geendet hat. Nur für den Bruchteil einer Sekunde wandert sein Blick erneut zu der Narbe an meiner Schläfe und sein Mundwinkel zuckt siegessicher in die Höhe.

»Navien«, gebe ich stark zurück. Alles wird still. Vermutlich, weil ich das erste Mal rede.

Der Fürst des Hochmuts lehnt sich in seinem Stuhl zurück, als würde das Spiel jetzt beginnen. Der Einzige, der noch isst, ist ein ziemlich dicker Mann, der, ohne auf Manieren zu achten, die Haxe mit seinen Zähnen zerfleischt. Der Fürst der Völlerei.

»Navien«, wiederholt der Fürst des Hochmuts fast schon anzüglich und blickt mir dabei so tief in die Seele, dass ich mir sicher bin, dass er mich damit meint. Er spricht mich an. Er weiß es.

»Hat sie Euch nicht beschützen können? Hat sie die Thronerbin des Fürstentums der Wahrheit etwa im Stich gelassen?« Erneut meint er mich. Er spricht mich direkt an und ich höre den Vorwurf dahinter. Sie alle hören ihn. Nur dass keiner außer uns beiden weiß, dass der Vorwurf nicht einer toten Heroe gilt, sondern mir.

Ich kralle die Finger in meine Oberschenkel, um vernünftig zu bleiben. Stark. Meine vernarbte Haut schmerzt.

»Sie hat es versucht«, sage ich und füge meiner Aussage einen traurigen Unterton hinzu, den ich nicht einmal spielen muss.

»Hat sie das?« Er raunt. Und obwohl er drei Plätze von mir entfernt sitzt, höre ich ihn nur allzu deutlich. Spüre jedes seiner Worte über meine Haut gleiten. Ich erschaudere, fast so, als würde ich seinen Atem dicht an meinem Ohr wahrnehmen.

»Li-ran!«, zischt Taron und legt eine Hand auf meine Schulter. »Ihre Heroe war immerhin ihre Schwester. Lass ihr das Bild, das sie von ihr hat.«

Wieder ein Raunen im Saal.

»Das, was du da sagst, Taron, ist Hochverrat. Und das weißt du.« Der Fürst des Hochmuts redet mit so viel Abscheu, dass ich ihn am liebsten anspucken würde. Avi und ich sind Schwestern. Ob das nun Hochverrat ist oder nicht.

Taron winkt nur ab. Offenbar weiß er, wie eine Diskussion mit einem Herrscher ausgeht, der Hochmut und Stolz in sich trägt. Man kann nicht gewinnen. Und als mich sein teuflischer Blick ein weiteres Mal trifft, weiß ich, dass auch ich nicht gegen ihn gewinnen werde.

Ich muss hier weg, solange ich noch kann. Solange er sein Spiel spielt, bis er es müde ist und mich verrät. Das darf ich nicht zulassen.

Ich setze eine gekränkte Miene auf und erhebe mich. »Ich …«, stammle ich und verleihe meiner Stimme den mädchenhaften Unterton, den Aviell immer nutzte, um mit ihrem Vater zu sprechen, »ich würde mich gerne etwas frisch machen.« Ich schenke Taron einen unterwürfigen Augenaufschlag, um ihm das Gefühl zu geben, ihn um seine Erlaubnis zu bitten. Ich sehe dabei zu, wie er seinen Zorn unterdrücken muss, dann lächelt er warm und nickt mir zu.

So schnell ich kann, aber ohne dass ich gehetzt wirke, verlasse ich den Saal und stolpere förmlich über den roten Teppich im imposanten Gang. Ich muss weg. Und ich werde nicht zurücksehen. Entschlossen stürme ich auf die Eingangstür zu, doch in dem Moment packt mich jemand an der Schulter und zieht mich in einen düsteren Raum, der nur von einem Kaminfeuer beleuchtet wird. Es wirkt wie ein kleines Arbeitszimmer. Vor dem Kamin steht ein alter Schreibtisch und an den Wänden Regale mit Büchern. Darunter ein paar Apokryphen. Ich will schreien, doch der Mann hält mir seine Hand auf den Mund. Mein wahres Wesen spürt es sofort. Er ist ein Heroer. Ein mächtiger noch dazu.

»Was willst du?«, zische ich durch seine schwieligen Finger und löse mich von ihm. Als ich mich umdrehe und ihn ansehe, erkenne ich sofort, wer er ist. Der Heroer des Fürsten des Hochmuts. Die Ähnlichkeit ist nicht zu verkennen. Und auch die Ähnlichkeit zu Ka, dem ich im Wald begegnet bin, ist es nicht. Ich gehe auf ihn los und will ihn für das schlagen, was sein besessener Bruder mir angetan hat, aber eine Stimme lässt mich erstarren.

»Fasst Ark an, Heroe, und ich werde jedem einzelnen Wesen in diesem Schloss berichten, wer Ihr seid und was Ihr getan habt. Und Euch anschließend den Kopf abschlagen.« Der Fürst des Hochmuts wird mit seinen Worten alldem gerecht, was man von ihm erwartet.

Mein Kiefer bebt, als ich mich zügle und zu ihm umdrehe. Und obwohl ich weiß, dass ich aus dieser Situation nicht herauskomme, festigt sich die unwichtige Frage in mir, warum er seinen Heroer bei seinem Vornamen genannt hat.

»Lass uns allein«, wendet der Fürst sich mit warmer Stimme an Ark, wartet, bis der gegangen ist, und schließt die Tür hinter ihm. Alles in mir ist angespannt. Das Knacken der Holzscheite hinter mir im Kamin lässt meinen Körper erbeben.

Ich mustere seine große Statur, jetzt, da er nicht mehr am Tisch sitzt. Seine Schultern und Brust gleichen eher denen eines ausgebildeten Heroers. Stark und stramm. Sein schwarzer Mantel reicht ihm bis zu den Oberschenkeln, worunter seine Hose in schwarzen Stiefeln endet. Ebenfalls eher das, was ein Heroer tragen würde und kein Fürst.

Das Einzige, was wirklich auf seine Stellung hindeutet, ist eine Kette mit dem Symbol des Hochmuts, ein Adler unter einem H, die auf seiner Brust ruht, und der große schwarze Ring seiner Herrschaft. Seine dunklen Haare fallen ihm in die Stirn und verdecken zum Teil seine Augen, als er mich ansieht. Als wären sie der Schleier, der die Sicht auf seine dunkle Seele hinter seinen Iriden verbirgt.

Ich nehme all meinen Mut zusammen und straffe die Schultern. »Was wollt Ihr?«

»Seid Ihr wirklich in der Position, eine solche Frage zu stellen?«, lacht er und kommt ein paar Schritte auf mich zu. Sein Körper ist drahtig. Groß. Mächtig. Und der schwarze Mantel, den er trägt, unterstreicht das alles nur noch mehr. Seine düstere Aura, seine dunklen Augen, seine rabenschwarzen Haare.

»Ihr belächelt mich, Liran. Ihr fordert mich vor allen heraus. Ihr nennt mich Heroe, und dann lasst Ihr mich von Eurem Bruder hier hereinziehen, um allein mit mir zu sein. Ihr wollt mich offenbar nicht verraten. Also wiederhole ich meine Frage: Was wollt Ihr?«

Er schaut mich herablassend an und kommt einen weiteren Schritt näher. Seine Lippen beben vor Zorn. »Für Euch – Euer Gnaden«, verbessert er mich. Als wäre nichts von dem, was ich gesagt habe, wichtig, außer der Anrede mit seinem Vornamen.

»Was wollt Ihr von mir, Euer Gnaden?« Ich schenke ihm ein zuckersüßes Lächeln.

Sein Mundwinkel zuckt, und ich spüre, dass ihm mein Übermut gefällt. Gleichzeitig verachtet er mich wahrscheinlich dafür, da ich es mir nicht leisten kann.

»Lebt Aviell noch?«, fragt er, und ich stutze, als er ihren Namen sagt, denn er nennt ihn mit Zuneigung in der Stimme.

»Ja. Sonst wäre ich nicht hier.«

»Ach«, gibt er heiser lachend von sich, »also spielt Ihr nur für sie die zukünftige Fürstin? Nicht etwa, weil Ihr schon immer gerne ihren Platz einnehmen wolltet?«

Ich hole aus und schlage ihm ins Gesicht. Ohne nachzudenken. Ohne zu zögern. »Verratet mich! Benutzt mich! Belächelt mich! Aber stellt nie wieder meine Ergebenheit Aviell gegenüber infrage – Euer Gnaden!« Ich benutze die Anrede wie eine Beleidigung und warte auf seinen Gegenschlag.

Doch der folgt nicht. Stattdessen schaut er mich einfach nur an. »Ich werde Euch nicht verraten, Heroe.«

»Und warum nicht?«

»Ich habe meine Gründe. Und ich biete Euch einen Handel an.« Ich hebe die Brauen und lache. »Und wie soll der aussehen? Gerade erst hat mich Euer Bruder Ka angegriffen und wollte mich töten!«

»Ka und Larakai sind abtrünnig und verloren. Also kommen wir zu meinem Angebot: Ich behalte Euer dämonisches Geheimnis für mich. Und ich helfe Euch, Aviell zu finden.«

»Und was soll ich dafür tun?«, knurre ich, weil ich nichts Gutes erwarte. Er ist mir viel zu nah und sein Geruch benebelt meine Sinne. Die Wärme, die von seinem Körper ausgeht und so im Kontrast zu seinen eiskalten Augen steht. Und zu dem, was er da sagt. Vor allem über seine beiden Brüder. Aber ich habe auch gesehen, dass Ka besessen war. Der echte Ka ist tot.

»Das verrate ich Euch zu gegebener Zeit.«

Ich blinzle und weiche zurück, weil er immer näher kommt und mich sein Geruch weiter betäubt.

»Nein.«

»Habt Ihr wirklich eine Wahl, Heroe?«

Ich beiße die Zähne zusammen und schlucke schwer. Nein. Ich habe keine Wahl.

»Was wollt Ihr von Aviell?«

Seine Lider zucken erneut. »Ihr seid klug«, stellt er fest und holt den Abstand zwischen uns wieder auf. Ich lege meinen Kopf in den Nacken, um ihm weiter in die Augen zu sehen. Ich werde ihm keine Schwäche zeigen. Obwohl es nicht leicht ist. Er ist so verdammt arrogant und mächtig. Aber ich bin kein kleines Mädchen.

»Ich will sie ehelichen«, sagt er so knapp und ehrlich, dass ich einfach loslache.

»Sie ist dem Fürsten des Zorns versprochen.«

»Ich weiß. Und ich weiß, dass Aviell Euch liebt. Euch vertraut. Also vertraut jetzt mir und sorgt dafür, dass es nicht zur Hochzeit kommt.«

»Ich soll also den Fürsten des Zorns hinhalten?« Welch Ironie. Er wird sicher kein geduldiger Mensch sein. »Und dann Aviell in eine Ehe mit Euch zwingen?« Ich schnaufe. »Das kann ich nicht. Ich will es nicht.«

»Also ist es Euch lieber, wenn sie nie gefunden wird? Wenn Ihr geköpft werdet und Aviell mit dem Wissen sterben muss, dass ihre Heroe nicht bereit war, alles für sie zu tun?«

Meine Fingernägel rammen sich in meine Handflächen. Ich will ihn wieder schlagen. Aber damit würde ich nur herunterspielen, dass seine Worte mich treffen, weil er recht hat.

»Werdet Ihr gut zu ihr sein?«

»Mit Sicherheit bin ich ein angenehmerer Zeitgenosse als Taron, der Choleriker.«

Das bezweifle ich. Dieser Fürst hier vor mir ist wie der Herrscher der Unterwelt höchstpersönlich. Selbst sein Heroer Ark wirkt neben ihm, als hätte jemand die beiden vertauscht und nicht er, sondern Liran wäre der Dämon von ihnen.

»Haben wir einen Handel, Heroe?«, fragt er und hält mir seine Hand entgegen.

Ich schaue ihn fest an. Beobachte die kleinen tanzenden Funken in seinen Augen. Seine Gier nach diesem Versprechen. Nach der Herrschaft über das Fürstentum der Wahrheit durch Aviells Hand. Aber ich habe keine andere Wahl. Und sobald ich Aviell gefunden habe, kann ich immer noch nach einem Ausweg suchen. Auch wenn ich ihn töten muss, um sie vor seiner Grausamkeit zu schützen.

»Navien«, verbessere ich ihn und ergreife seine Hand. Macht erfüllt mich, und ich weiß, dass ich diesen Handel niemals brechen kann.

»Es war mir ein Vergnügen, Geschäfte mit Euch zu machen, Navien.«

Mein Name aus seinem Mund lässt mich schaudern. »Mir ebenfalls, Euer Gnaden«, gebe ich zurück und versuche nicht einmal, ehrlich zu klingen.

Als er meine Hand loslässt und ich gehen will, hält er mich noch einmal auf und streicht mir die Strähne von meiner Narbe. Ganz sanft steckt er sie hinter mein Ohr. Niemals hätte ich eine solch zarte Geste von diesen mörderischen Händen erwartet. Ich kenne Geschichten über den Fürsten des Hochmuts. Er zieht eine Spur von Verwüstung, Blut und Tod hinter sich her.

»Versteckt es nicht, Navien«, raunt er. »Es zeigt Eure Stärke und den Willen, Eure Schwester mit allen Mittel zu befreien.«

Ich mustere ihn. Seine dunklen Augen scheinen mir bis tief in die Seele zu sehen. Etwas in mir zu suchen. Und dann ist dieser zeitlose Moment plötzlich vorbei, er räuspert sich und verschwindet. Und ich begreife, dass er der Mann im Wald war. Der Mann, der mir den Waffengurt abnahm. Er wollte, dass ich für Aviell gehalten werde. Und ich habe genau das getan, was er längst geplant hatte.