KAPITEL 6
Mitten in der Nacht werde ich von einem lauten Poltern geweckt. Ich sehe mich um, bis ich begreife, dass jemand gegen die Tür hämmert.
»Mach auf!«, schreit Taron von draußen.
Wie Liran gesagt hat, habe ich vorgesorgt und abgeschlossen. Doch das hält mich nicht davon ab, die Beine anzuziehen und sie zu umschlingen. Etwas, das ich als kleines Kind immer getan habe, wenn der Fürst so geschrien hat.
»Mach die Tür auf!«
»Euer Gnaden, die Mistress schläft«, ertönt Mirals Stimme von draußen. Dann ein Klatschen. Ein weiblicher Schrei. Ein Wimmern.
Sofort renne ich los und drehe den Schlüssel im Schloss, bevor ich gegen das Holz drücke. Miral hält sich die Wange und sieht mich mit tränenden Augen an. Taron stürmt hinein, reißt mich mit sich und knallt die Tür zu, bevor er mich grob aufs Bett schmeißt. Nach dem Tanz bin ich zwar an den Tisch zurückgekehrt und habe mich gefügt, doch das scheint ihm nicht gereicht zu haben.
»Du wagst es, mich dermaßen zu blamieren?!«, schreit er und holt aus.
Ich drehe mich weg und krabble auf die andere Seite des Bettes. Ein Teil in mir spürt Furcht. Nicht, weil ich mich nicht wehren kann. Ich darf es nicht. Wenn er mich wirklich erwischt, werde ich nicht nur eine rote Wange überdecken müssen.
Er kommt um das Bett herum. Ich bewege mich wieder weg, aber er bekommt meinen Fuß zu packen und reißt mich von der Matratze. Mein Kopf knallt unsanft gegen den Bettpfosten. Ich stöhne. Und dann tritt er zu. Direkt in meine Rippen. Ich kann nicht mehr atmen. Viel schlimmer jedoch ist der Hass auf mich selbst. Wie gerne würde ich jetzt aufstehen und zurückschlagen. Ihn ebenfalls treten. Aber die Gefahr, dass er dann herausfindet, was ich wirklich bin, ist zu groß.
Er beugt sich über mich, packt mich am Hals und zieht mich zu sich hoch.
»Wag es, Aviell! Dein Vater versprach mir bereits deine Hand. Also kannst du nichts tun!«
Ich hasse ihn. Hasse unseren Vater und Taron. Und aus diesem Grund spucke ich ihm ins Gesicht. Er ballt seine Hand zur Faust, holt aus. Und schlägt zu. Meine Nase knackt. Feuchtigkeit steigt mir in die Augen. Blut fließt in meinen Mund. Schmerz durchflutet mich. Mein Kopf pocht und brennt.
»Du Bastard!«, knurre ich. Es ist dumm. Aber ich kann nicht anders. Er holt wieder aus, wird dieses Mal jedoch von einem Räuspern unterbrochen. Er lässt mich los. Ich ringe nach Luft, gebe allerdings nicht nach und bleibe auf den Beinen stehen. Überlege, ihn anzugreifen und zu vergessen, dass ich eine Fassade aufrechterhalten muss.
»Was wird das hier?«, erklingt eine düstere Stimme. Sie kommt vom Fenster, wo ich eine dunkle Gestalt erkenne.
»Wer zum Teufel bist du?«, schreit Taron und stürmt auf ihn zu.
Der Kerl hebt seine Hand und Taron erstarrt augenblicklich. Wenn ich kurz gehofft habe, dass dies Liran ist, dann werde ich nun eines Besseren belehrt. Das müssen dämonische Kräfte sein. Sonst würde der Fürst des Zorns nicht innehalten.
»Wer ich bin?«, fragt der Mann und nähert sich Taron. »Ich bin dein verdammter Albtraum, du Monster!« Er holt aus und rammt ihm seine Faust ins Gesicht.
Ich sehe fassungslos dabei zu, bis er sich an mich wendet. Sein Gesicht kann ich nicht erkennen, da das einzige Licht hier durch das Fenster hinter ihm scheint. Und er trägt eine große Kapuze.
»Wo hat er Euch noch geschlagen?«, fragt er und legt den Kopf schief.
Ich schlucke. Dann gehe ich vor. Langsam und bedacht. Als ich direkt vor ihm stehen bleibe, kann ich seine Gesichtszüge erkennen. Hart, unnachgiebig. Seine eisblauen Augen wirken fremd und vertraut zugleich. Ich schaue ihn an. Lange. Und er mich. Irgendwann sorge ich für einen festen Stand, hebe mein Bein und trete Taron gegen seine Rippen. Er stöhnt, bleibt aber immer noch stehen.
Der Mann mit den eisblauen Augen grinst. Begierde blitzt in seinen Augen auf. So als würde es ihm imponieren, dass ich selbst zugetreten habe. Er sieht mich an, wie man sonst nur Aviell angesehen hat.
Meine Brust brennt. »Wer seid Ihr?«
»Nur ein Helfer in der Not«, schnurrt er. Dann hebt er seine Hand und legt sie auf meine Brust. »Eure dämonische Seite ist stark. Merkt Euch das.«
Er dreht sich um und geht zum Fenster. Ich will ihn aufhalten. Erfahren, wer er ist, und nicht allein mit Taron bleiben.
Als ich das denke, dreht er sich noch einmal zu mir, als hätte er meinen Gedanken gelauscht. Er hebt seine Hand und sammelt schwarzen Nebel darin, bevor er ihn in Tarons Gesicht bläst und der wie ein Sack umfällt.
»Er wird nicht erwachen, bevor Ihr Euch auf Reisen begebt.«
»Sehe ich Euch wieder?« Diese Frage ist seltsam und kommt viel schneller als beabsichtigt aus meinem Mund. Aber ich habe sie gestellt. Also ist es wohl etwas, das ich will. Etwas, das ich noch nie wollte. Und warum sollte ich auch? Ich kenne ihn nicht. Aber er hat mir geholfen und diese blauen Augen lösen etwas in mir aus.
»Ich werde da sein, wenn Ihr mich braucht.«
Als ich aufstehe, habe ich kaum geschlafen. Taron liegt unverändert auf dem Boden, und irgendwann kommen Wachen herein, um ihn wegzubringen. Sie stellen keine Fragen und ich bin dankbar dafür. Die werden noch früh genug auf mich zukommen.
Ich habe die ganze Nacht darüber nachgedacht, wer dieser Kerl war, und mittlerweile bin ich mir fast sicher, dass es einer der Heroen von Liran gewesen ist. Das ist die einzig plausible Erklärung. Denn nur er hat Heroen, die ihm außer seinem eigenen gehorchen, und nur er wusste bereits bei der Feier, was geschehen wird.
Dass er in Tarons Hoheitsgebiet nichts unternehmen darf, bedeutet ja nicht gleichzeitig, dass er es nicht einem seiner Heroen ohne Schützling befehlen kann.
Miral kleidet mich an. Ihre Wange ist immer noch gerötet. Dort muss Taron sie geschlagen haben. Ein leises »Es tut mir leid« gleitet mir über die Lippen. Sie nickt, und dann sprechen wir nicht weiter miteinander, aber sie drückt mich kurz, bevor sie mich zusammen mit zwei Taschen, die sie für uns gepackt hat, zur Kutsche führt.
Vor dieser wartet bereits ein junger Kutscher, der alles an mir genaustens in Augenschein nimmt. Wie ich gehe, wie meine Haltung ist. Aber am längsten bleibt sein Blick an meinem geschundenen Gesicht hängen. In seinen Augen ist jedoch kein Mitleid zu erkennen. Gut so. Ich weiß selbst, wie ich aussehe, und kann Mitleid nicht gebrauchen. Meine Nase ist gebrochen und von ihr aus laufen dunkle Blutergüsse um meine Augen. Auf meinem Nasenrücken befindet sich eine Erhebung, die vorher nicht da war.
Wir steigen ein und fahren los. Während der Kutschfahrt klärt Miral mich darüber auf, was im Fürstentum des Hochmuts auf mich zukommen wird. Ich höre ihr jedoch kaum zu. Und irgendwann fallen mir die Augen zu. Erst als wir anhalten, weckt sie mich. Zusammen treten wir aus der Kutsche über einen Steinweg hinein in das kleine, ländliche Gasthaus, das mitten im Wald liegt. Die Sonne ist gerade dabei unterzugehen und ihr Feuer hinterlässt einen roten Schimmer am westlichen Himmel. Dort, wo meine Heimat liegt.
Schnell schüttle ich den Gedanken ab und widme mich meiner Umgebung. Das Innere des Wirtshauses wirkt rustikal. Anders als bei uns. Obwohl unser Fürstentum arm ist, ist jedes Haus, das es gibt, hell und voller Licht. Hier empfängt mich nebelige Dunkelheit. Etwas, das sich auf eine seltsame Art gemütlich anfühlt.
Der Kutscher bringt unsere Taschen, und ich schwanke durch die lange Kutschfahrt ein wenig, als ich mich an einen Tisch setze. Miral nimmt mir gegenüber Platz. Sofort mache ich einen geraden Rücken und beginne meine Serviette aufzufalten. Das Einzige, was ich kann, denn ich durfte nie mit Aviell und ihrer Familie … meiner Familie … zu Tisch sitzen. Dennoch möchte ich versuchen, es Miral nicht allzu schwer zu machen. Sie hat schließlich einen Auftrag von Taron bekommen, und wir beide wissen, wie er Niederlagen bestraft.
Der Gastwirt bringt zwei Getränke und wirft mir einen vielsagenden Blick zu. Er ist groß und bärtig. Und passt perfekt zu der urigen Einrichtung. Dunkle Holzbalken säumen die Decke und trennen einige der runden Tische voneinander. Ein paar Nischen mit Fenstern, die zugehängt sind, wirken, als würde man sich dort gut zurückziehen können. Der Ausschank ist hoch und lässt nur die Sicht auf den Oberkörper des Mannes zu, als er sich wieder hinter ihn stellt und Gläser poliert.
Mein Blick gleitet zurück zu Miral. Gott sei Dank ist sie durstig, weshalb sie einige Züge nimmt und sich schon kurz darauf entschuldigt, weil sie »die Müdigkeit übermannt«. Wahrscheinlich hätte ich Miral auch einfach bitten können, mich allein zu lassen. Doch auch wenn sie mein Geheimnis für sich behält, kann ich niemandem voll und ganz vertrauen.
Ich bleibe sitzen und warte. Warte, bis die Tür aufgeht und Liran erscheint. Als er mein Gesicht sieht, flackert Zorn in seinen Augen auf. Er stürmt auf mich zu, geht vor meinem Stuhl in die Hocke und berührt mein Kinn, um alles genau zu betrachten.
»Es geht mir gut«, wehre ich ab und drehe mein Gesicht zur Seite, um mich ihm zu entziehen.
»Ich werde Taron umbringen«, knurrt er.
»Das hat Euer Heroer doch schon fast.«
Er sieht mich irritiert an, steht auf und setzt sich. »Mein Heroer? Redest du von Ark?«
»Nein. Ein anderer.«
Er fährt sich über sein Kinn. »Ich habe niemanden zu dir geschickt, Navien. Ich habe dir gesagt, dass du deine Tür verschließen sollst.« Er ist sauer. Jeder Ton in seiner sonst so ausgewählt betonten Stimme schreit es mir förmlich entgegen.
»Er hat meine Zofe geschlagen. Hätte ich zulassen sollen, dass er sie statt mich so zurichtet, Euer Gnaden?«
Liran schweigt dazu und wendet sich einem anderen Thema zu.
»Und was war das für ein Heroer? Hat er einen Namen?«
»Natürlich. Wir haben erst einmal ein kleines Pläuschchen über Namen, Wohnort, Herkunft und Beruf gehalten, nachdem er Taron aufgehalten hat«, zische ich.
Liran blinzelt. »Seit wann bist du so aufmüpfig?«
»Ich war schon immer so«, flüstere ich. Auch wenn ich weiß, dass das nicht stimmt. Nur zu Teilen stimmt.
»Wie sah er aus?«
»Schwarze Kapuze, dämonischer Nebel in der Hand. Blaue Augen.«
»Blaue Augen?«, hakt er nach und blickt mich wissend an. »Das ist dir aufgefallen, obwohl ihr … kein Pläuschchen gehalten habt?«
Als Antwort verdrehe ich die Augen, was ihn grinsen lässt. Ich kann ihm schlecht sagen, dass ich einen Moment lang dachte, er wäre es. Liran wäre gekommen. Nein, nicht gedacht. Ein Teil in mir hat es gehofft. Warum auch immer. Vielleicht weil er der Einzige ist, dem ich mich im Moment anvertrauen kann. Der Aviell genauso liebt wie ich.
»Sie waren sehr einprägsam. Außerdem war er mein Retter.«
Liran leckt sich über die Lippen. »Und dabei dachte ich, Ihr bräuchtet keinen Retter. Ja, ich dachte, Ihr wäret selbst Taron überlegen. Womöglich habe ich Euch überschätzt.«
»Ihr wisst genau, welche Rolle ich spielen muss.«
»Ich werde nicht mehr zulassen, dass …«
»Ich brauche Euch nicht. Ich kann allein auf mich aufpassen. Auch wenn das bedeutet, mich schlagen zu lassen und unterlegen zu tun.«
Lirans Blick verengt sich. Dann beugt er sich vor und stützt seine Ellbogen auf dem Tisch ab.
»Etwas anderes habe ich nicht erwartet, Heroe.«
»Wo ist Aviell?«, frage ich nun schnell, bevor er wieder von ihr ablenken kann.
Eindringlich mustert er mich. »Wie viel weißt du über Jaraskai? Unser Königreich?«
Ich schlucke. Mehr, als dass Jaraskai in acht Fürstentümer unterteilt ist und es anscheinend Rebellen gibt, ist mir nicht bekannt.
»Nicht viel«, gebe ich also zu. Es hat keinen Sinn, ihm vorzuspielen, jemand zu sein, der ich nicht bin. Und eigentlich ist ihm genau bewusst, dass Heroen keinen Heimatkundeunterricht erhalten. Vielleicht hat er jedoch vermutet, ich wäre neugieriger und hätte eigene Erkundigungen eingeholt. Habe ich aber nicht. Als wäre ich gerne mein Leben lang blind gewesen.
»Musst du auch nicht«, raunt er beinahe einfühlsam und räuspert sich dann, bevor er wieder eine ernste Miene aufsetzt. »Jaraskai besteht aus den acht Fürstentümern, das weißt du sicher. Es gibt jedoch zusätzlich Abtrünnige. Wir nennen sie die Schattenläufer, weil sie sich meist genau dort aufhalten. Im Verborgenen.« Sein Blick wird leer. Oder eher so, als würde er nicht mehr mich ansehen, sondern die Dinge erspähen, an die er denkt.
»Haben sie Aviell? Diese Schattenläufer?«
Liran schüttelt den Kopf und winkt schließlich dem Gastwirt zu, der einige schweigsame Sekunden später mit einem Wein und einem Brandy zu uns tritt. Wir nehmen die Getränke entgegen, und Liran trinkt seines sofort aus. Er bedeutet dem Gastwirt, die Flasche zu bringen.
»Nein. Sie sind unser … geringstes Problem.«
»Wer hat sie dann, Euer Gnaden? Redet nicht weiter um den heißen Brei herum«, fordere ich. Warum sind wir nicht längst auf dem Weg zu Avi? Warum sitzen wir hier und trinken, wenn er doch weiß, wer sie hat?
»Mein jüngerer Bruder, er …«
»Ka?«, hake ich nach.
»Ja, Ka. Er ist besessen. Darüber sprachen wir ja bereits. Aber er ist es nicht, weil er sich den dämonischen Kräften zugewandt hat. Er gehört einer Gruppe von Adeligen an, die die Fürstentümer stürzen wollen. Sie haben sich mit Heroen verbündet und ihr erstes Ziel war …«
Er spricht nicht weiter. Und während er in meinen blauen Augen nach der Wahrheit sucht, suche ich in seinen dunklen. Ich atme tief ein. »Sie wollten mich. Doch sie wollten mich lebend. Ka hingegen wollte mich töten.«
Liran nickt kaum merklich, nimmt die Flasche, die der Wirt hingestellt hat, und gießt sich das Glas voll. Ich ergreife es und leere den brennenden Brandy. Wenn er denkt, dass ich lieber Wein trinke, nur weil ich eine Frau bin, liegt er falsch. Er schenkt mir ein anerkennendes Grinsen, bevor er sich selbst wieder einschenkt. Meine Gedanken wandern wieder zu meiner Schwester.
»Heißt das, dass Aviell jetzt so tut, als wäre sie ich? Aber was ist dann aus Ka und Larakai geworden? Haben die anderen Angreifer sie aufgehalten, bevor sie Aviell töten konnten?«
»Ich weiß nicht haargenau, was Aviell tut, um zu überleben. Doch ich weiß, dass es nie um sie ging. Und ich weiß, dass Ka und Larakai entkommen sind.« Er trinkt einen Schluck und lehnt sich im Stuhl zurück. »Sie wollten Aviell nicht. Und sie wollten auch nicht, dass sie lebt. Weder Ka noch diejenigen im Schloss. Und dabei ging es nicht um ihre Ziele. Diese Vereinigung, sie nennt sich die goldene Feder – sie hat diesen Handel mit einem Fürsten geschlossen. Ka wollte offenbar dazwischengehen, aber die goldene Feder hat das verhindert, denn Aviell lebt noch.«
»Und mit welchem Fürsten?«, frage ich, während ich versuche, das alles zusammenzusetzen. Diese goldene Feder, die also eigentlich gegen die Fürstentümer aufbegehren wollte, hat eine Vereinbarung mit ihnen getroffen und Aviell entführt, wobei das eigentlich ich sein sollte? Und Ka hat aus irgendeinem Grund allein entschieden, dass mein Tod besser wäre?
»Und was könnten sie von jemandem wie mir wollen? Und warum wollte Ka mich dann töten?«, schiebe ich direkt die nächsten Fragen hinterher.
Für den Bruchteil einer Sekunde heben sich Lirans Brauen. »Sprecht nicht so über Euch. Und was Ka betrifft – ich kenne seine Absichten nicht. Doch er ist besessen. Vielleicht ist das der Grund. Und welcher Fürst mit der goldenen Feder zusammenarbeitet, ist mir noch nicht bekannt.«
»Entscheidet Euch endlich, wie Ihr mich ansprecht, Euer Gnaden. Und tut nicht so, als wäre meine Existenz für Euch von Bedeutung.«
Liran mustert mich wieder. Das macht er ständig. Aber wonach sucht er?
»Aviell erzählte mir, dass Ihr besondere Passagen aus den Apokryphen lesen könnt.«
»Ihr? Also habt Ihr Euch dafür entschieden, eine Heroe mit der Höflichkeitsform anzureden?«, frage ich und gehe nicht auf die Apokryphen ein. Wie konnte Avi ihm nur mein größtes Geheimnis anvertrauen?
»So lange, bis Ihr mir gestattet, Euch persönlich anzusprechen, Mylady.«
Ich schnaufe. Ich werde ihn nie darum bitten.
»Also?«, hakt er nach und nimmt einen weiteren Schluck.
Ich verliere mich kurz in seinen Lippen und der Art, wie zerzaust seine Haare aussehen. Als hätte er sich nächtelang die Haare gerauft und nicht geschlafen.
»Es sind keine besonderen Passagen«, rücke ich mit der Sprache raus und hebe den Kopf. Ein wenig stolz, dass Avi es ihm falsch erzählt hat und ich es richtigstellen kann. Woher auch immer diese Gefühle kommen. »Die Worte sprechen mit mir und sagen, welche ich nicht aussprechen soll.«
Liran bleibt ganz ruhig. Dann schaut er von seinem Glas zu mir. »Ich gehe mal davon aus, dass Ihr sie mir nicht verratet?«
»Ihr liegt richtig«, bestätige ich ernst. »Sagt mir lieber, wo wir Aviell finden. Und wann wir endlich aufbrechen.«
»Ich habe meine Männer dort. Ihr wird nichts geschehen. Aber wir können nicht einfach Hals über Kopf in ihr Lager eindringen. Sie sind im Vorteil und könnten sie verletzen.« Er sieht mich durch schmale Augen an. »Und bei all der Anerkennung, die ich für Eure Schwester übrighabe, glaube ich nicht, dass sie sich verteidigen kann, wie Ihr es könnt.«
Ich weiß nicht, ob ich das als Kompliment verstehen soll. Wahrscheinlich nicht. Es hat nichts mit unserem Wesen zu tun, dass ich im Kampf ausgebildet wurde und sie nicht.
»Lasst mich das noch einmal zusammenfassen, nur um es richtig zu verstehen«, sage ich zornig. »Ihr wisst, wo sie ist, habt Spitzel dort. Und doch lassen wir sie bei diesen Bastarden und ich soll weiter die Fürstentochter spielen?«
Liran streicht sich über die Lippen und sein Kinn.
»Dort ist sie gerade am sichersten.«
»Warum?«
»Weil die Fürsten ihren Tod wollen, Navien«, knurrt er wütend und ballt seine Hand zur Faust.
Ich starre ihn an. Öffne und schließe meinen Mund, bis ich in der Lage bin zu reden.
»Deshalb …« Ich blinzle. »Deshalb verratet Ihr mich nicht und holt sie nicht zurück. Ich bin hier, um all die Anschläge abzuwehren. Oder wohl eher … damit es mich trifft und nicht sie.«
Lirans Blick verengt sich erneut. Dann beugt er sich ganz langsam vor und legt den Kopf ein wenig schief. »Ist es nicht genau das, wofür Ihr geboren wurdet? Und jetzt werft Ihr es mir vor?«
Ich halte seinem Blick stand. »Ihr hättet mich einweihen können. Glaubt mir. Ich wäre nicht geflohen.«
»Ich weiß.«
»Warum also?«
»Ich sagte es Euch bereits. Tarons Wände haben Augen und Ohren.«
Ich lache. »Ihr hättet es mir im Wald erzählen können. Als Ihr dafür sorgtet, dass ich für Aviell gehalten werde, indem Ihr mir die Waffen stahlt.«
Er schnauft. »Ich bin müde.«
»Oh, nicht genug geschlafen?«
»Der Diskussionen müde, Navien. Ihr seid immer noch nur eine Heroe. Die einzig und allein lebt, weil ich es so will und zulasse.«
»Ihr habt Euren Standpunkt klargemacht«, sage ich trocken, nehme sein Glas und lehne mich damit in meinem Stuhl zurück. »Bleibt die Frage, warum wir hier sind und Ihr Euch diesem ermüdenden Gespräch stellt. Was wollt Ihr von mir? Und warum wart Ihr überhaupt in diesem Wald?«
Wieder dieser anerkennende Blick. Und mittlerweile komme ich nicht umhin, mir Gedanken darüber zu machen, welches Bild Aviell vor ihm von mir gezeichnet hat. Denn nichts von meiner Stärke hat er offenbar erwartet.
»Ich war wegen Ka dort.«
»Das ist eine Lüge, Euer Gnaden.«
»Oh, ihr wisst jetzt also auch, wann ich lüge?« Er lacht verachtend. »Eine andere Antwort werdet Ihr aber nicht bekommen.«
»Und was ist mit meiner anderen Frage? Was wollt Ihr von mir?«
»Ich werde Anspruch auf Aviell erheben müssen, wenn ich sie heiraten will. Und das ist nicht so einfach, weil ihr Vater sie Taron versprach.«
Ich schlucke den Brandy und sehe ihn auffordernd an. »Was müsst Ihr dafür tun?«
»Ich muss nichts tun. Das muss sie.«
»Noch ein Grund, sie jetzt dort rauszuholen, statt mich in der Rolle zu lassen.«
Seine Lider zucken. »Ich sagte bereits, dass der Zeitpunkt nicht günstig ist. Glaubt mir. Ich hätte auch lieber sie an meiner Seite.«
Bittere Galle steigt meine Kehle hinauf. Und das ist nicht der Alkohol. Ich hasse mich für diese neuen Gefühle des Neids. Vor allem, weil sie meine andere Hälfte betreffen. Den Menschen, den ich mehr liebe als mein eigenes Leben. Zumindest dachte ich immer, dass es so ist.
»Was verlangt Ihr von mir?«
»Ich muss zehn Zeugen aufrufen, wenn ich Einspruch gegen die Verlobung eines Fürsten einreichen will. Fünf Fürsten. Drei Wachen. Zwei Dienstmägde. Und sie alle müssen beteuern, dass mein Wunsch auf Liebe basiert.«
Ich hebe meine Brauen und lache. »Erneut etwas, das euch mit Aviell besser gelingen würde.«
Liran greift über den Tisch nach meinem Handgelenk. Wieder mit dieser brutalen Zärtlichkeit. »Ich sage es noch ein letztes Mal, Navien. Wir können sie jetzt noch nicht holen.«
»Und ich sage das nur einmal. Ich bin kein dummes kleines Mädchen, das sich mit Halbaussagen zufriedengibt. Also nennt mir einen genauen Grund, warum wir es nicht können. Oder ich spiele nicht länger mit. Da sterbe ich lieber.«
Er umgreift mein Handgelenk fester. Dennoch tut er mir nicht weh.
»Dass sie dort sicherer ist, reicht Euch nicht als Grund?«, fragt er ruhig.
Ich schüttle den Kopf. »Entschuldigt, Euer Gnaden, aber Ihr seid ein Fürst. Der Fürst des Hochmuts und damit, wenn meine Informationen richtig sind, der Mächtigste von ihnen, weil Ihr der Nachfahre von Lucifer seid. Also nein. Ich glaube nicht, dass Ihr die Frau, die Ihr liebt, bei irgendwelchen Rebellen sicherer empfindet als bei Euch, der sein Leben für sie geben würde.«
Unendliche Sekunden lang sieht er mich nur an. Bewunderung blitzt in seinen Augen.
»Aviell will es so«, sagt er dann und raubt mir damit den Atem.
»Was?«
»Sie will es so. Sie hat entschieden dazubleiben.« Seine Stimme bricht kaum merklich.
»Ihr habt sie gesehen?«, frage ich und rücke näher heran.
Er nickt. »Nachdem ich Euch den Gurt abnahm, folgte ich ihnen.«
»Und warum? Warum will sie dortbleiben?«
»Das sind ihre Beweggründe, Navien. Darüber kann ich nichts sagen.«
»Können oder wollen?«
»Von beidem etwas.«
Ich atme, weil ich nicht weiß, was ich sonst machen soll. Warum will Avi dortbleiben? Warum, wenn sie weiß, was hier geschieht, und sie dort eine Gefangene ist? Hat sie womöglich Angst, dass ich für meine Täuschung geköpft werde? Nein. Sie könnte mich beschützen. Aber was ist es dann?
»Aviell ist nicht dumm, sie wird Gründe haben.«
»Ich weiß, dass sie nicht dumm ist!«, fauche ich voller Zorn und entziehe ihm mein Handgelenk, das ich ihm viel zu lange überlassen habe. »Gut, also. Was muss ich tun, um diese Zeugen zu überzeugen?«
Liran zieht seine Hand zurück und bewegt seine Finger. Es muss schmerzhaft gewesen sein, mein Handgelenk so lange zu umklammern, ohne mir wehzutun.
»Es muss nach echter Liebe aussehen.« Er trinkt etwas. »Es muss so aussehen, als würdet Ihr Euch in der Zeit bei mir in mich verlieben. Nicht nur dann, wenn die Fürsten vor Ort sind, sondern auch dann, wenn die Wachen zuhören und die Dienstmägde lauschen.«
»Ich werde wie in jedem Fürstentum nur zwei Wochen in Eurem verweilen«, wende ich ein.
»Zwei Wochen, in denen sich die Fürstin der Wahrheit in den Fürsten des Hochmuts verliebt.«
»Und wenn Aviell zurückkehrt? Dann wäre unsere Verliebtheit kein Anlass, sie nicht wieder mit Taron zu verloben.«
»In unseren Fürstentümern ist eine beschlossene Verlobung Gesetz. Euer Betrug schmälert anschließend nicht meinen Anspruch auf Aviell, wenn sie einwilligt, Euer Versprechen einzuhalten.« Er nickt mir entschlossen zu.
Ich erwidere die Geste, obwohl ich nicht weiß, wie ich es schaffen soll, allen eine beginnende Verliebtheit vorzuspielen. Ich hasse Liran nicht. Er ist mein einziger Verbündeter. Aber ich verabscheue ihn.