KAPITEL 8

Ich öffne meine Augen. Schweißgebadet. Aber ich schreie nicht. Halte meine eigene Stimme und all den Schmerz gefangen, damit mich niemand hört.

Ich weine stumm und ohne Tränen. Aviell ist in meinen Armen gestorben. Doch da war noch mehr. Worte, die mich verfolgt haben. Lügnerin. Das war das meistbenutzte Wort. Von Äbten, die mich und sie in einem Kloster festhielten.

Die gestrigen Ereignisse müssen mich mehr mitgenommen haben, als ich dachte. Ich kann mich kaum erinnern, wann ich das letzte Mal einen Albtraum hatte, seit ich kein Kind mehr bin.

Ich setze mich auf und wische mir über die Stirn. Sehe zum Fenster, stehe auf und öffne es. Der kühle Wind streicht mir über die nasse Haut und beruhigt sie. Die Vorhänge wehen mir entgegen und dann trete ich hinaus auf den Balkon.

Die Nacht ist noch nicht vorbei und doch küsst die Sonne bereits den Horizont und hinterlässt ein warmes rötliches Licht. Mein Blick verweilt einen Moment auf diesem wunderschönen Farbspektakel, das die Natur ganz allein erschaffen hat, bis er zu dem riesigen Schlosspark zu meinen Füßen wandert. Überall stehen Marmorstatuen, wahrscheinlich von den vorherigen Fürsten des Hochmuts. Die Grünflächen, die jetzt eher dunkelrot wirken, sind akkurat angelegt und umrahmt von hellen Steinen, die den Weg säumen. Weiter hinten, hinter den Zypressen, erkenne ich einen kleinen See und am Horizont den Wald, durch den wir kamen.

Doch bevor ich mich weiter in den beruhigenden Eindrücken verlieren kann, durchbrechen Stimmen die friedliche Stille. Zwei Gestalten gehen einen der Pfade entlang. Es wirkt wie ein ganz normaler Spaziergang und doch ist ihr Gespräch gedämpft. Ich will es hören, auch wenn das aus dieser Entfernung nicht möglich ist. Aber etwas in mir fleht darum. Also konzentriere ich mich. Auf die Stimmen und den Wind, der sie zu mir trägt. Er wird stärker. Lauter. Mein Inneres glüht vor Macht, die sich prickelnd und befriedigend anfühlt. Neu. Nie zuvor habe ich diese Kraft in mir so deutlich gespürt. Und dann höre ich die Stimmen, als würden ihre Besitzer direkt neben mir stehen.

Ich erkenne Liran sofort.

»Es wird funktionieren, Ark.«

»Du hast dich da in eine Situation begeben, von der ich befürchte, dass du sie unterschätzt.«

»Die Situation oder sie?« Liran legt so viel Emotionen in dieses winzige Wörtchen sie , dass ich nicht einmal sagen könnte, welche dominiert. Angst, Abscheu? Liebe?

»Beides, Liran. Du musst zu dir zurückfinden.«

»Du tust so, als hätte ich mich verloren.«

Sie schweigen einen Moment. Dann seufzt Ark, und ich kann in der Ferne sehen, wie er ihm die Hände auf die Schultern legt und sie stehen bleiben.

»Was soll das, Liran? Welchem Zweck dient es?« Er deutet anscheinend auf etwas. Aber ich kann nichts erkennen.

»Das geht dich nichts an.«

»Du bist mein Bruder. Es geht mich sehr wohl etwas an.«

»Wir müssen Aviell befreien. Das ist alles, was zählt.«

»Und der Rest? Ist das ein Spiel für dich? Ist sie ein Spiel für dich, weil sie nur eine Heroe ist?«

Liran knurrt bei Arks Worten auf.

»Sag so etwas nie wieder, Ark. Du weißt, dass ich so nicht empfinde. Wenn es nach mir geht, bist du mehr wert als jeder Fürst.«

»Es geht aber nicht um meine dämonische Abstammung, sondern um ihre. Um Naviens.«

Ich schlucke schwer und weiche zurück. Ark ist so mächtig, dass er jeden Moment entdecken könnte, dass ich lausche.

»Ihre Abstammung ist mir gleich.«

»Warum zwingst du sie dann mitzuspielen und lässt Aviell ihren Kopf durchsetzen? Sie ist immer noch ein fühlendes Wesen. Ist es das alles wirklich wert? Und sie ist keine Fürstin. Jede Pore ihres Körpers strömt das aus.«

»Weil sie so erzogen wurde, Ark.«

»Das ändert nichts daran, dass du Schlamm und Dreck nicht in Juwelen verwandeln kannst.«

Wieder schweigt Liran. Und tief in mir fühle ich mich getroffen. Vor allem, da Ark recht hat. Ich werde nie wie sie sein. Ich werde nie ein Juwel sein. Sondern nur Dreck, den man sein Leben lang zur Seite gekehrt hat.

»Ich will sie nicht heiraten, ich will, dass sie eine Rolle spielt.«

»Und warum holst du Aviell nicht und lässt sie die Rolle spielen, die ihr angeboren ist?«

»Weil …«

»Weil was? Sprich doch einfach aus, was du wirklich damit bezweckst«, knurrt Ark. Es ist wie ein Befehl. Ein Befehl von einem Heroer an seinen Herrn.

Mir bleibt die Spucke weg. Ausgerechnet Liran, der so mächtig ist. So stolz. So hochmütig. Lässt sich Befehle von seinem Heroer geben? Und verteidigt mich?

»Weil es seltsam war, sie zu sehen.«

»Was soll das heißen, Liran? Dass sich all deine Liebestrunkenheit in Luft aufgelöst hat? Dass sich bei dir nichts geregt hat?«

»Natürlich hat sich etwas in mir geregt«, knurrt er und schüttelt Ark nun zornig ab.

Ein seltsames Gefühl breitet sich in meiner Brust aus, als er über seine Regungen Avi gegenüber spricht.

»Vielleicht habe ich einfach gedacht, sie wäre mir weniger fremd.«

»Und wie kamst du zu der Annahme, nachdem ihr euch nur geschrieben habt?« Ark wirkt, als würde er seinen Bruder verurteilen.

»Ich muss mich nicht rechtfertigen.«

»Wie war es bei ihr?«

»Bei wem?«, zischt Liran heiser.

»Bei Navien. Wie hast du dich da gefühlt?«

»Wie soll ich mich schon gefühlt haben? Ich kenne sie noch weniger.«

Wieder schweigen die beiden. Eine Stille, die mich fast umbringt. Aber warum? Will ich wirklich hören, er hätte sich mit mir besser gefühlt? Besser als mit meiner Schwester, die ihn liebt? Das sollte ich nicht fühlen. Doch ich tue es. Und ich begreife genau, dass ich es tue. Also muss ich zumindest vor mir selbst dazu stehen. Zugeben, dass ich will, dass er sich bei mir vertrauter gefühlt hat.

»Du weißt genau, woher die Vertrautheit ihr gegenüber stammt. Also, was soll das?«

»Ich will nur, dass du dir nichts vormachst, während du ihr etwas vormachst. Du kennst den Plan. Du wirst Aviell heiraten.«

»Ich weiß.« Er schnauft. »Es ist auch nicht so, als würde ich gerne Navien heiraten wollen. Also ist diese Diskussion überflüssig. Es gehört einfach nur zum Plan.«

»Ach«, sagt Ark und schaut wieder an ihm hinab. Zumindest glaube ich es zu sehen. »Mach dir selbst nichts vor, Liran. Du hattest schon immer eine Schwäche für das Dämonische. Aber wenn du sie jetzt in dein Bett einlädst, um deine fleischlichen Gelüste zu stillen, wie du es stets tust, dann verlierst du Aviell und dein Plan für Navien wird fehlschlagen.«

»Ich weiß«, gibt Liran erneut von sich und mir wird eiskalt. Eine Mischung aus Gefühlen überfällt mich. Etwas, das sich nach seiner Nähe sehnt, nun, da ich weiß, dass er mich körperlich anziehend findet, und etwas, das ihn noch mehr verabscheut als zuvor. Denn offenbar will er mich für irgendeinen Plan benutzen. Einen anderen als der, von dem ich weiß. Und genau das ist der Moment, in dem ich mich entscheide, heute Nacht Miél zu treffen.

Der Abend kommt schnell. Miral hat mich angekleidet und zum Essen gebracht, und danach hat sie darum gebeten, in das Dorf gehen zu dürfen, weil sie hier Familie hat. Liran habe ich den ganzen Tag nicht gesehen. Langsam frage ich mich, wie er seinem Palast vorspielen will, dass wir uns verlieben, wenn er nicht anwesend ist. Auch beim Abendessen bleibe ich allein und ziehe mich dann auf mein Zimmer zurück, um ein Bad zu nehmen.

Ich bleibe ewig in dem heißen Wasser. Bis es endlich spät genug ist. Ein unruhiges Kribbeln hat sich den Tag über in mir breitgemacht und ist immer stärker und stärker geworden. Erwartungsvoll blicke ich in den Schlossgarten, bis die Uhr endlich kurz vor zwölf schlägt und ich mich auf den Weg mache. Ich habe Elouise heute über die Umgebung ausgefragt, bis sie selbst auf die Krypta zu sprechen kam und ich ihr ihren Standort entlocken konnte. Es ist nicht weit von hier, was mich stutzig gemacht hat. Warum traut sich ein Heroer, der eine Art Rebellion leitet, so nah an den Palast heran?

Dennoch folge ich der Wegbeschreibung durch den bewachsenen und vor allem unbewachten Garten und laufe einen kleinen Bach entlang, bis ich zu dem winzigen Tempel gelange. Er wirkt verfallen und die Säulen sind von Kletterpflanzen erobert worden, was ihn aber nur noch schöner und mystischer aussehen lässt. Die Fassade, die einst weiß gewesen zu sein scheint, ist grau und porös. Dieser kleine alte Tempel steht im Gegensatz zu allem, was ich in dem Fürstentum des Hochmuts bisher kennengelernt habe.

Mein Blick wandert zu einem Erker, an dem bereits eine dunkle Gestalt lehnt. Erst jetzt, da ich hier in der Dunkelheit stehe, macht sich ein Zögern in mir breit. Ich habe keine Angst. Ich kann mich wehren. Doch ich weiß nicht, was mich erwartet, und eigentlich bin ich gerne vorbereitet.

»Warum sollte ich herkommen?«, frage ich und verleihe meiner Stimme Stärke, als ich näher trete.

Er nimmt seine Kapuze ab, und ich erstarre, als sich darunter Liran und nicht Miél verbirgt.

»Dachtet Ihr wirklich, dass ich zulasse, dass sich ein schäbiger Bastard hier auf meinem Land nachts allein mit Euch trifft?« Seine Stimme ist so düster, dass ich sie kaum wiedererkenne.

»Ich dachte, ich darf machen, was ich will«, entgegne ich und straffe meine Haltung. Jetzt bloß nicht die Fassung verlieren. Miél hatte recht. Sie mögen Fürsten sein und uns kleinhalten. Stärker aber sind wir .

Lirans dunkle Augen funkeln mich an. Er stößt sich von der alten Steinwand ab und kommt langsam auf mich zu. Wie ein verdammtes Raubtier. Aber ich weiche nicht zurück.

»Was habt Ihr mit ihm gemacht?«, frage ich kühl. Obwohl er mir jetzt so nah ist, dass sich selbst meine eisige Haut aufwärmt.

»Warum? Macht Ihr Euch etwa Sorgen um ihn?« Er lacht abfällig. Kalt. Böse.

»Was soll das, Liran?«

Er kommt noch näher. Nun muss ich meinen Kopf in den Nacken legen, um ihn weiter ansehen zu können, und nun ist es nicht mehr nur meine eigene innere Hitze, die mich wärmt, sondern auch seine. Sein Körper strömt unbändige Hitze aus.

»Was das soll?«, wiederholt er und ballt die Hände zu Fäusten. Ich höre seine Knöchel knacken.

»Was wollt ihr von ihm?«, fragt er und greift nach meinem Kinn. Sein Gesicht kommt mir verdammt nah. Und plötzlich leckt er mir über die Lippen.

Ich bin erstarrt, kann nicht atmen. Nicht denken. Dann endlich weiche ich zurück und wische mir angeekelt über mein Gesicht. »Spinnt Ihr?«

»Warum? Ist es nicht das, was Ihr Tiere miteinander macht?«

Ich öffne den Mund und keuche erschrocken auf. Ich hole aus und will mit der Faust zuschlagen. Doch Liran ist schneller und entkommt mir mit einer eleganten Bewegung. Er lacht. Lacht mich aus und in mir wächst der Zorn.

»Ihr seid krank!«, knurre ich und drehe mich auf der Stelle. Sofort ist Liran bei mir und legt einen Arm von hinten auf meinen Bauch.

»Was ist es sonst, was Ihr von ihm wolltet?«

Ich rieche den Alkohol in seinem Atem und erinnere mich an Arks Worte. Liran hat eine Vorliebe für Heroen. Bitte, dann soll er bekommen, was er will. Ich lehne meinen Körper ein wenig nach hinten. So, dass sich unsere Körper berühren. Ein Knurren. »Was soll das, Navien?«

»Was? Steht Ihr nicht drauf, Euer Gnaden?«

Er verweilt. Bis sein Daumen langsame Kreise über meinen Bauch zieht. Ich schlucke schwer. Das hier kann ich nicht wollen. Und doch ist mein Köper wie magisch angezogen von ihm und seinen Berührungen. Seinem Geruch. Alles an ihm.

Und dann stocke ich. Sein Geruch. Das ist nicht die Nacht. Die Finsternis höchstpersönlich. Es ist … Schwefel.

Ich drehe mich um und starre in eisblaue Augen. »Was …?« Ich blinzle. Wieder und wieder. Aber der Mann vor mir bleibt Miél und nicht Liran.

Er legt grinsend den Kopf schief. »Ich wollte sehen, wie du zum Fürsten stehst«, sagt er, als wäre es das Normalste der Welt.

Und dieses Mal treffe ich ihn, als ich aushole und zuschlage.

»Bei allen guten Geistern, bist du verrückt?« Ich atme stoßartig. Kann nicht fassen, was gerade passiert ist. Doch vor allem kann ich nicht fassen, dass er mich so leicht täuschen konnte.

»Wenn du wirklich wolltest, dass ich dir helfe, hast du es dir hiermit selbst verbaut.«

»Warum?«, fragt er völlig gelassen und ernst. »Es hat dir gefallen. Ich kenne deine Gefühle, Navien. Dein Geist hat es mir zugeschrien. Also. Was ist das Problem? Dass ich nicht er bin?«

Ich sehe ihn fest an und kontrolliere dann meine innerliche Mauer, die mich von den anderen Heroen abschirmt. Wie konnte ich nur so fahrlässig sein. Jemand hätte mich spüren können. Jemand außer ihm.

»Ich will nicht von ihm berührt werden«, sage ich und halte dem Augenkontakt stand.

Er mustert mich und tritt schließlich näher. »Es war übertrieben und dumm. Entschuldige.«

»Die Entschuldigung kannst du dir sparen.«

»Ach, und was willst du sonst hören?«

Ich verenge meinen Blick. »Was willst du wirklich von mir? Und warum kannst du dein Äußeres so … detailliert verändern?«

Im Ausbildungslager habe ich davon gehört, dass man seine dämonischen Kräfte für Gestaltenwandlung nutzen kann. Sich in Tiere zu verwandeln, ist dabei die leichtere Übung. Zumindest im Gegensatz dazu, das Aussehen eines anderen Menschen anzunehmen. Und zusätzlich muss man den Menschen auch noch besonders gut kennen.

»Und woher kennst du ihn so gut?«

»Ich beantworte dir deine Fragen, aber ich möchte, dass du mit mir kommst«, entgegnet er gelassen. Und trotz der Aussage, dass er nicht hier mit mir reden will, sieht er sich nicht ängstlich um. Als wäre er übermächtig, selbst für den Fall, dass Liran und seine Heroen ihn an diesem Ort erwischen sollten.

»Und wohin?«

»In unsere Residenz.«

Ich lache auf, doch mir vergeht das Lachen augenblicklich, weil Zorn in seinen blauen Augen aufblitzt.

»Was soll das heißen? Nur Adelige haben eine Residenz.«

»Es ist ein altes leer stehendes Schloss. Ein kleines. Fast winzig, wenn man diesen feudalen, verschwenderischen Palast unseres Fürsten betrachtet.«

Ich runzle die Stirn. »Gut. Dann bring mich dorthin.«

»Was hat deine Meinung geändert?«, fragt er und wirkt dabei fast schon enttäuscht. Warum? Wollte er noch länger um mich herumscharwenzeln? Gefällt ihm dieses Spiel und nun bin ich eine zu leichte Beute?

Ich überlege kurz, ob ich lügen soll, entscheide mich aber für einen Teil der Wahrheit. »Ich habe den Fürsten mit seinem Heroer sprechen hören.«

Miél leckt sich über die Lippen und nickt mir auffordernd zu, damit ich fortfahre.

»Ich denke, dass er mich ausnutzen will.«

»Inwiefern und warum ist das eine neue Information für dich, Navien? Dachtest du wirklich, dass er es gut mit dir meint?«

Ich atme tief ein und aus. »Er weiß, was ich bin. Er will Aviell. Doch sein Heroer sagte, dass er eine Schwäche für Heroen hat.«

Miél hebt belustigt die Brauen. »Du hast also Angst, dass er dich verführen will? Wäre das so schlimm?«

Ich starre ihn fassungslos an und entferne mich dann ein paar Schritte, um hin- und herzugehen. Ich muss meine Gedanken ordnen. Und vor allem muss ich meine Barriere vor ihm aufrechterhalten und mich nicht wieder so aus dem Konzept bringen lassen.

»Natürlich wäre das schlimm. Er ist sozusagen mit meiner Schwester verlobt und ich finde ihn widerwärtig.«

»Ein hartes Wort«, stellt Miél fest und kommt näher, greift nach meinem Arm, um mich zu stoppen. »Du bist unruhig. Das ist nicht gut.«

»Und warum?«

»Weil meine Gefährten es bemerken und dich dann für eine Schwachstelle halten werden. Also beruhige dich.«

»Ich kann nicht«, knurre ich. Wie soll ich auch? All meine Sinne sind darauf gepolt, mein wahres Ich zurückzuhalten. So zu tun, als würde mir die Etikette etwas bedeuten. Und vor allem meine Gedanken bei mir zu behalten.

»Navien«, raunt er so einfühlsam, wie ich es ihm niemals zugetraut hätte. Er umfasst meinen Arm stärker. »Ich weiß, dass du es kannst.«

»Und woher?«, hake ich nach und lache leise und verzweifelt auf. Er kennt mich nicht. Niemand kennt mich. Nicht einmal Aviell, wenn ich ehrlich bin. Denn offensichtlich habe auch ich sie nie wirklich gekannt.

»Hör zu. Ich schätze Liran, weil er Heroen rettet. Und er lässt mich gewähren, da ich dasselbe tue. Er würde dich niemals anfassen. Nicht gegen deinen Willen.«

Ich nicke, denn ein Teil in mir weiß das. Allerdings verschweige ich, dass es dort ebenfalls einen Teil gibt, der sich nicht gegen Liran wehren würde. Der es wollen würde.

»Lass uns gehen. Und versuch durchzuatmen.« Er grinst, als wüsste er, dass dieses besonnene Atmen meine Art ist, mich zu beruhigen und zu fokussieren.

»Es gibt drei Regeln«, erklärt er, während wir am Bach entlanglaufen. Um uns herum erstrecken sich riesige Felder, die im Mondschein glitzern. »Erstens, kein Wort über uns zu Menschen oder Heroen, die in den Diensten eines Herrn stehen.« Er führt mich über eine Brücke hin zu einem kleinen Waldstück. »Zweitens. Nicht im Geist eines anderen suchen, wenn er nicht eindeutig mit dir über ihn kommuniziert.«

Ich nicke und folge ihm ohne Angst in den Wald.

»Und drittens. Keine Geheimnisse. Keine Lügen.«

»Was?«, frage ich und bleibe stehen. »Ich kann ihnen nicht verraten, wer ich wirklich bin!«, schreie ich beinahe und will umdrehen. Das hier war eine dumme Idee. Und ehrlich gesagt habe ich nur mitgespielt, weil ich mich zugehörig fühlen will. Weil ich mich nicht mehr verstecken will. Und gleichzeitig muss ich genau das tun.

»Denkst du im Ernst, dass sie nicht wissen, dass du eine Heroe bist? Wieso sollte ich dich sonst mitbringen?«

»Weil ich auf eurer Seite stehe?«, entgegne ich.

»Das reicht nicht.«

»Ich kann keinen Fremden vertrauen.«

»Sie sind keine Fremden, Navien. Sie sind Heroen, so wie du. Sie kämpfen für dich und mich und alle anderen. Verstehst du? Vertrauen ist das, worauf wir uns stützen.«

»Ich …« Mein Blick wandert zum Moos unter mir und dann wieder hinauf zu Miél, dessen Gesichtszüge ich in der Dunkelheit kaum erkenne. »Ich könnte alles verlieren. Und ich könnte sie verlieren.«

»Vertrau mir«, bittet er mich, kommt auf mich zu und nimmt meine Hand. Warum fühlt er sich so … echt an? So, als würde ich ihn schon immer kennen. So, als könnte ich mich auf ihn verlassen? Ist das eine seiner dämonischen Gaben? Lässt er mich das alles glauben, weil er es so will?

Ich schüttle den Kopf. Diese Mutmaßungen bringen mir nichts, denn ich muss hier und jetzt eine Entscheidung treffen. Und die betrifft nicht nur sie. Nein. Das ist eine Entscheidung, die ich für mich und mein Leben treffen muss. Ich muss entscheiden, wer ich sein will. Wer ich bin. Ob ich ein eigenständiges Wesen sein möchte. Und ja, genau das will ich. Ich will diese Entscheidung treffen und endlich meine eigene Identität finden und annehmen. Und das kann ich nicht, wenn ich weiter den Regeln und Anweisungen der Fürsten folge, so wie ich es immer getan habe.

Also nicke ich Miél zu und lasse mich von ihm über ein paar Hindernisse ziehen, bevor er meine Hand wieder loslässt und ich mich nach dieser Berührung sehne.

Kurz schwappt der Gedanke in mein Bewusstsein, dass ich Liran hintergehe. Den Einzigen, der zu mir hält. Aber schon in der Sekunde, in der ich es denke, wird mir bewusst, dass er mich ebenfalls nur benutzt. Seinen Vorteil aus mir zieht und mich erpresst.

Miél hier vertraue ich zwar noch nicht vollkommen. Das ist auch kaum möglich, da ich ihn nicht wirklich kenne. Doch bisher hat er nichts gefordert. Mir nur ihre Regeln erklärt und mich wählen lassen. Ja, er erpresst mich nicht, obwohl er mein wahres Ich kennt. Er drängt mich nicht. Also ist er aktuell der Einzige, dem ich ansatzweise vertraue.