KAPITEL 13
»Angriff!«, brüllt Liran, packt mich und zerrt mich mit sich zum Festsaal.
Ich weite meine Augen. Ark reagiert sofort und schickt Schatten in den Park hinter uns. Sie explodieren und grölen laut.
Wirbel zittert auf meiner Haut.
Und dann spiele auch ich mit, lasse mich von Liran hineinschleppen und falle vor versammelter Mannschaft auf den Boden, rapple mich jedoch wieder hoch. Die Musik stoppt. Fürsten erheben sich. Stühle fallen um.
»Er wurde verletzt. Bitte helft ihm!« Die Panik muss ich nicht einmal spielen. Ich gehe zwar schon davon aus, dass Liran weiß, wo er sich verletzen kann, damit es nicht tödlich ausgeht. Aber … er verliert so viel Blut und sein sonst gebräuntes Gesicht ist blass.
Mir wird schwindelig. Kalter Schweiß überzieht meinen Körper und mein Magen dreht sich. Übelkeit übermannt mich und lässt mich erzittern.
»Aviell, Ihr seid auch verletzt«, ruft Lou, die ein Tablett abstellt und sich zu mir beugt. »Gift!«, schreit sie, und Lirans Griff um mein Handgelenk festigt sich.
Ich sehe zu ihm. Verstehe nicht. Doch sein Blick wandert voller Entsetzen zu meinem Hals, wo Tarons Klinge mich berührt und wahrscheinlich eine winzige Wunde hinterlassen hat.
»Was?« Ich erkenne meine eigene Stimme nicht mehr. Schwindel packt mich und greift nach mir. Übelkeit überkommt mich immer mehr. Mein Oberkörper taumelt und wird dann von Lirans starker Brust aufgefangen.
»Holt einen Heiler!«, brüllt Liran. »Und schickt Leute, um nach Taron zu suchen. Sie haben ihn mitgenommen!«
Ich höre schnelle, dumpfe Schritte. Und dann verschwimmt alles vor meinen Augen zu einem einzigen Farbgewirr. Doch diesen einen Gedanken kann ich noch fassen. Jetzt, da Taron tot ist … müssen Liran und ich da überhaupt weiter das verliebte Paar spielen? Und vor allem: Warum tut der Gedanke so weh, es nicht mehr zu tun?
Ich stehe mitten im Wald. Als ich mich gerade zu Liran drehe, der sich unruhig umsieht, packt ihn ein vermummter Mann von der Seite und hält ihm sein Messer an die Kehle.
»Du machst nun genau das, was ich sage, kleine Prinzessin.«
Ich kenne die Stimme. Aber ich bin verwirrt. Warum sind wir hier? Was ist mit Taron … Tarons Leiche? Und … bin ich nicht gerade in den Festsaal zurückgekehrt? Ich erinnere mich an die Übelkeit und diese … ja. Ich wurde vergiftet. Doch wo bin ich jetzt?
Erschrocken weiche ich einen Schritt zurück und blicke zu dem vermummten Mann.
»Wer seid Ihr?« Meine Stimme bleibt stark, während ich meine Hand langsam zu dem Dolch wandern lasse, den ich immer an meinem Schenkel trage. Aber tue ich das wirklich noch? Als Heroe habe ich das. Doch als Aviell? Nein. Dennoch ist er da.
»Das würde ich lassen.«
Woher kenne ich diese Stimme?
»Dann beantwortet meine Frage!«
»Es kränkt mich ein wenig, dass du mich nicht erkennst.« Er grinst überlegen.
Ich verenge meinen Blick und denke nach, mustere seine grünen Augen und da wird es mir klar. Er ist der Mann, der die Heroenfamilie gerettet hat. Der mir im Wald des Fürstentums des Zorns seine Maske gab.
»Lass mich los!«, knurrt Liran, der vorher verdächtig still war. Alles hier ist seltsam und nicht real.
»Du weißt, dass ich das nicht kann«, erklärt der Kerl mit einem Augenverdrehen. Dann hebt er das Messer und rammt den Griff auf Lirans Schläfe. Er sinkt einfach in sich zusammen und bleibt regungslos am Boden liegen.
»Ihr kreischt ja gar nicht, Prinzessin. Ich hätte ihn töten können«, lacht er und tritt auf mich zu. Anschließend löst er das Tuch, das er sich um den Kopf gebunden hatte, und beobachtet mich.
»Das hier ist nicht echt. Also, was wollt Ihr?« Ich recke mein Kinn und versuche mich unbemerkt umzusehen. Etwas zu erkennen oder einen Ausweg zu finden. Ist das das Gift? Sind das etwa Halluzinationen? Oder ist dieser Namenlose so mächtig, dass er mich zu sich geholt hat?
»Du bist wirklich schlau. Wir können das Ganze schnell hinter uns bringen, wenn du mir zuhörst und machst, was ich will.«
»So?«, entgegne ich und hebe die Brauen. »Bedauerlicherweise bin ich es langsam leid, zu tun, was irgendwelche Männer von mir wollen.«
»Das verletzt mich jetzt aber. Ich bin doch nicht irgendein Mann.«
»Sondern?«
»Ein Freund.«
»Das bezweifle ich«, pruste ich und schüttle den Kopf. »Doch offenbar willst du weder mich noch Liran umbringen. Also …« Ich sehe ihn auffordernd an, was ihm erneut ein Grinsen entlockt.
»Du solltest ihm nicht derart vertrauen. Und ich könnte ihn umbringen, denn wie du schon sagst, ist das hier nicht echt und ich muss nicht mit deiner Rache rechnen.«
»Woher willst du wissen, dass ich ihm vertraue und mich rächen würde?«
»Ich bin ein guter Beobachter. Aber lass es uns testen.« Er weicht zurück und tritt dann gegen Lirans leblosen Körper.
Ich schnaufe und überlege, was ich tun kann. Doch in diesem Traum oder der Gift-Halluzination, die offenbar von ihm gelenkt wird, fehlen mir die Alternativen.
»Sag mir einfach, was du willst.«
»Gut. Du kommst mit mir.«
Ich will etwas erwidern, doch da hebt er seine Hand und pustet mir einen silbrig glänzenden Staub ins Gesicht. Ich blinzle und im nächsten Moment wird alles um mich herum hell und die Bewusstlosigkeit reißt mich hinab.
Bevor ich gänzlich wieder zu mir komme, atme ich einen vertrauten Geruch ein. Es riecht nach zu Hause. Und als ich meine Lider hebe, erkenne ich ihn. Den Thronsaal des Reichs der Wahrheit. Er sieht aus, als hätte es gebrannt. Die Banner an den Wänden sind angekokelt und die Throne zerschmettert. Auf dem Boden liegen verbrannte Überreste. Mir wird übel. Wie kann es an diesem Ort dennoch nach zu Hause riechen?
Ich sehe mich, auf dem Boden liegend, um, bis ich den namenlosen Mann entdecke.
»Warum hast du mich hergebracht?«
»Damit du das hier siehst.«
»Was genau?«
»Dein gefallenes Königreich, Navien.«
Ich schlucke hart. »Ich wusste, dass es gefallen ist.«
»Und du wunderst dich nicht, dass der Fürst, den du so verehrst, nichts tut, um das hier wieder aufzubauen?«
Ich schüttle den Kopf und erhebe mich von dem kühlen Boden. »Das ist nicht sein Fürstentum.«
Er zuckt mit den Schultern und kommt auf mich zu. »Aber deines, und er behauptet, dein Verbündeter zu sein.«
»Er wird es tun, sobald die Zeit reif ist.«
Er nickt mit gespitzten Lippen.
»Komm mit«, sagt er dann und tritt auf die Empore der Throne und hin zu dem Geheimgang, den ich mit Avi genommen habe.
»Erinnerst du dich, wie bewegungslos sie war? Ohne dich wäre sie tot.«
»Woher weißt du das?«
Langsam frage ich mich, ob er wirklich in meinem Traum ist oder ob ich ihn mir einbilde. Erschaffen habe, um mich daran zu erinnern, wer ich bin und was geschehen ist.
Ich folge ihm durch den Gang, hinein in die kleine Bibliothek. Mein Blick fällt sofort auf die beiden Kurzschwerter, die dort immer noch hängen. Das ist unmöglich. Ich habe sie mitgenommen.
»Das hier ist nicht echt.«
»Es ist echt. Nur eine andere Realität. Eine ohne dich, Navien.«
Ich verschränke die Arme und sehe ihn skeptisch an. Doch er betrachtet einen Leichnam am Boden. Ich erkenne sie sofort. Mir stockt der Atem. Aviell.
»Aber … Wenn ich nicht da war … wie ist sie hergekommen?«
»Gute Frage, kleine Prinzessin.« Er tritt auf sie zu, schubst ihre Leiche mit dem Fuß an und dreht sie damit um.
Ich schließe kurz die Augen und presse den Mund zusammen, bevor ich wieder hinsehen kann. In ihrer Hand ruht der Griff eines Schwertes.
»Sie ist nicht so hilflos, wie du dachtest. Oder soll ich sagen, wie sie dir vorgespielt hat?«
»Was soll das? Das ist eine Halluzination. Also kannst du das erfinden.«
Er zuckt mit den Schultern. »Dann beantworte du mir eine Frage. Könnte das hier wirklich passiert sein? Wärst du nicht gewesen?«
Ich schaue in Aviells totes Gesicht. Sie hat sich kaum verändert, ist nur blass, dabei müsste sie längst halb verwest sein. Mein Mund öffnet sich, um zu verneinen, aber mein Herz hindert ihn daran. Denn das, was ich sehe, könnte sein. Aviell ist meine Schwester. Mein Schützling. Doch sie ist nicht immer, was sie vorgibt zu sein. Sie ist launisch und hat ihren eigenen Kopf. Sie hätte niemals weiter hinter diesem Thron gekauert, wäre ich nicht gekommen. Nein. Sie wäre geflohen. Für sie kommt immer sie selbst an erster Stelle. Aber das ist in Ordnung. Sind wir nicht alle so?
»Hätte sie nach dir gesucht? Nehmen wir mal an, du wärst nicht aus dem Raum im Dienstbotentrakt herausgekommen?«
»Woher weißt du das alles?«
»Ich habe eine zuverlässige Quelle. Also?«
Ich atme und atme. Doch dieses Mal bringt es nichts. Denn die Antwort ist Nein. Aber das muss ich ihm nicht sagen.
»Was soll das hier? Hast du mich vergiftet?«
Er kommt näher und legt den Kopf schief. Von ihm geht eine Art Licht aus, das sich vertraut anfühlt.
Und ganz plötzlich hebt er eine Hand an meine Wange. Ich spüre die Berührung, als wäre sie echt.
»Ich würde dich nie vergiften, Navien«, raunt er so ehrlich und gebrochen, dass ich gegen die Enge in meinem Hals anschlucken muss. Als würden nicht meine, sondern seine Worte in ihr feststecken.
»Wir kennen uns doch gar nicht.«
Er senkt seine Lider und ich kann nur noch ganz wenig von dem Grün erkennen. Es lässt ihn gefährlicher aussehen und trotzdem weiche ich nicht zurück.
»Du musst mit mir kommen.«
Ich blinzle und endlich löse ich mich von ihm. »Was? Wohin?«
»In mein Reich.«
Ich höre Stimmen. Sie verwirren mich. Ich denke, dass es Liran und Ark sind. Und da ist auch Wirbel, die spricht.
»Wir haben keine Zeit mehr. Du musst mit mir kommen, Navien. Sie benutzen dich nur.«
»Wer?«
»Sie alle.«
Ich hole Luft und schüttle den Kopf. »Ich vertraue dir nicht. Und du beantwortest mir kaum eine Frage.«
»Was willst du wissen?«
Die Stimmen werden lauter und bereiten mir Kopfschmerzen.
»Warum bin ich hier? Was hat das mit dem Gift zu tun?«
»Du bist seit einigen Tagen nicht bei Bewusstsein, also habe ich Zugriff darauf. Das Licht verbindet uns.«
Mir wird übel. Aber nicht wegen seiner Worte, sondern weil ich zurückkehre.
»Navien. Bitte komm mit mir.«
»Warum bittest du mich überhaupt?«, frage ich blinzelnd. Immer mehr schwarze Flecken benebeln meine Sicht auf sein hübsches Gesicht.
»Weil ich nicht bin wie sie. Ich würde dir niemals meinen Willen aufdrängen. Das schwöre ich dir.«
»Gut. Dann geh. Denn ich komme nicht mit.«
Sein Körper spannt sich an. Seine Hände ballen sich zu Fäusten. Er kämpft mit sich selbst. »Du wirst dich hieran nicht erinnern.«
»Warum?«
»Weil du mich sonst verrätst.«
»Wer bist du?«, frage ich, als ich spüre, dass die Zeit vergeht.
»Ich bin ein Erzengel, Navien. Ich bin ihr Anführer.« Und mit diesen Worten verschwimmen er und mein Fürstentum vor mir.
Als ich wieder aufwache, ist der Schwindel verschwunden. Helles Licht blendet mich. Es ist aber nicht die Sonne, sondern Wirbel, die vor mir schwirrt und aufgebracht quietscht, als sie entdeckt, dass ich wach bin. »Sie ist wach!« Ich spüre eine Hand an meiner, die zudrückt. Ich rieche ihn. Die Dunkelheit. Der Wald bei Nacht. Liran.
»Wie geht es dir?«
»Geht so«, gebe ich wenig höflich zurück und stelle fest, dass ich in einem großen Himmelbett liege. Draußen ist es dunkel. Liran sitzt neben mir und hat tiefe Schatten unter den Augen.
»Hat Taron mich vergiftet?«, frage ich, woraufhin sich Liran unruhig umsieht und dann nickt. Es scheint niemand hier zu sein, dem ich unachtsam verraten habe, was wirklich passiert ist.
»Sie suchen noch nach ihm.«
»Aber sie werden ihn nicht finden«, ertönt Wirbels Stimme.
»Warum bist du nicht auf meiner Haut?«
»Das Quiri –« Liran unterbricht sich selbst. »Wirbel hat einiges von dem Gift aufgenommen, damit du nicht stirbst. Dadurch konnte sie sich nicht länger an dir halten. Doch wir haben sie verarztet.« Er lächelt.
»Er hat es selbst getan«, haucht sie wie ein verliebtes Mädchen.
Ich hebe meine Brauen und entdecke ein Zucken an Lirans Mundwinkel, als er sich ihr zuwendet.
»Kannst du Lou Bescheid sagen?«
Wirbel nickt und verschwindet dann durch die Wand.
»Wirbel ist ein klein wenig verliebt in dich.«
»Ach wirklich?«, fragt er belustigt, aber nicht überrascht. »Ist mir nicht aufgefallen.«
Ich lächle, so gut es geht, und atme seinen Geruch ein.
»Schnupperst du schon wieder an mir?«
»Dafür bist du viel zu weit weg«, wehre ich ab.
»Ich könnte näher kommen, wenn du das unbedingt willst.«
»Du hast meine Tränen gegessen, ich denke, wir sind quitt.«
Er hebt einen Mundwinkel und sieht mich plötzlich so intensiv an, dass sich Gefühle ganz tief in meinem Magen und noch tiefer regen. Trotzdem wage ich nicht, nach meinen Tränen zu fragen. Denn ob ich es will oder nicht, ich beginne immer mehr zu begreifen, dass etwas mit mir nicht stimmt und Liran mir keine Antworten geben wird.
»Glauben sie die Geschichte?«, hake ich also stattdessen nach.
Liran zuckt mit den Schultern. »Ich denke, die meisten ja. Aber sie haben auch keine andere Wahl. Ich bin ein Fürst und sage, dass es so war.«
Ich presse die Lippen aufeinander und schließe kurz die Augen.
»Hör zu, Navien. Es tut mir leid, dass du das alles mit ansehen musstest. Dass du mich so sehen musstest. Und es tut mir leid, dass ich ihn getötet habe.«
»Du hast es für mich getan.«
Er sagt nichts. Und diese Stille fühlt sich seltsam an.
Was genau ist da draußen vor Tarons Auftauchen passiert? Es ist, als wäre zwischen uns eine Mauer gefallen. Aber wir wissen beide, dass sie da sein müsste. Dass wir sie wiedererrichten müssen. Wenn ich dieses Spiel weiter gut spiele, dann … wird er meine Schwester heiraten.
Meine Sinne benebeln sich nach und nach. Und da bildet sich dieser eine Wunsch. Ihm nah zu sein. Ihn zu spüren, wie ich Miél zuvor gespürt habe.
Ich hebe meine Hand und lege sie auf seine Brust, die wie immer in ein schwarzes Hemd gehüllt ist. Streiche darüber, um sie zu fühlen. Taste sie vorsichtig ab. Liran bewegt sich nicht. Es ist, als würde er nicht einmal atmen. Ich fahre weiter über seine Brust, male die Muskeln ab. Zeichne sie.
»Was tust du da, Navien?«, fragt er mit rauer Stimme.
»Ich weiß es nicht«, flüstere ich seufzend. »Du fühlst dich gut an.«
Endlich atmet er. Aber es wirkt nicht frei. Eher bebend.
»Du solltest das lieber nicht weiter tun.«
»Warum?«
»Weil du Heilkräuter zu dir genommen hast und nicht bei Sinnen bist. Und weil ich dich, wüsste ich nicht um ihre Wirkung, bereits geküsst hätte.«
Ein Schauer durchfährt mich. »Dann küss mich doch.«
Er hebt seine Brauen. Angespannte Zurückhaltung liegt in seinen Iriden. »Navien«, ermahnt er mich heiser.
Ich hebe meinen Kopf und fasse in seinen Nacken. Selbst wenn es an diesen dummen Kräutern liegt. Ich will ihm nah sein. Das wollte ich die ganze Zeit.
Er atmet schwer. »Du solltest wissen, dass du dir eine Seele mit Aviell teilst.«
»Das weiß ich«, sage ich und verziehe den Mund.
»Deshalb magst du mich. Und ich muss ehrlich sein. Die Tatsache, dass die Gedichte von dir sind, ändert nichts an meinem Plan.«
Es ist, als würde die Wirkung der Kräuter aussetzen. Ich sehe ihn an. Und da begreife ich. Diese Art Verbindung, die ich zwischen uns spüre. Die kommt daher, weil Aviell all das fühlt. Weil sie verliebt in ihn ist und ich … mit ihr verbunden bin. Ich war so naiv, denn wenn ich ehrlich bin, hätte ich es wissen können. Vielleicht habe ich mir eingeredet, dass es diesmal anders ist als in meinem bisherigen Leben, weil Aviell und ich nicht mehr so verbunden sind wie vorher. Ja, vielleicht wollte ich es nicht wahrhaben, weil ich dieses eine Mal etwas nur meinetwegen fühlen wollte.
Ich will mich wegdrehen, doch es ist zu spät. Ich schaffe es nur noch, meinen Kopf zu senken, und dann erbreche ich mich auf Lirans Schoß. Er zuckt nicht einmal zurück. Hält nur meine Haare und streicht mir sanft über den Nacken, bis ich wieder das Bewusstsein verliere.
Und das Letzte, woran ich denke, ist, dass nichts von alldem echt ist. Aber was ist mit seinen Gefühlen? Mag er mich auch nur, weil ich ein Teil von Aviell bin? Meine Gedichte und Aviells Lüge ändern nichts. Also kann es nicht echt sein. Es wird nie echt sein.
Als ich erneut erwache, ist Liran verschwunden. Wirbels Leuchten neben mir auf dem Kopfkissen lässt mich blinzeln.
»Guten Morgen«, sagt sie kichernd und springt auf und ab.
Ich sehe mich kurz im Zimmer um. Als hätte ich die Hoffnung, Liran wäre hier noch irgendwo.
»Sein Heroer kam und hat ihn geholt«, erklärt Wirbel seine Abwesenheit. »Die Fürsten müssen einen Regenten einsetzen, bis man Taron findet. Also für immer. Denn wir wissen beide, dass man ihn nie finden wird.«
»Und wer soll das sein?«, frage ich mit schwacher Stimme. Die Nachwirkungen des Gifts sind nicht zu unterschätzen. Kaum zu glauben, dass Taron stets ein vergiftetes Messer mit sich herumgetragen hat. Aber wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, soll mich der Gedanke daran nur von der Tatsache ablenken, dass ich Liran nie haben werde. Und all der Schmerz in meiner Brust, der damit einhergeht, beweist mir, dass ich ihn wollte. Zu ihm gehören wollte. Obgleich es töricht ist.
»Das weiß ich nicht«, antwortet Wirbel und beginnt über mir herumzuschwirren. »Liran sagt, ich soll mich schnell mit dir verbinden, weil du gerade zu schwach bist, um dein Leuchten zu verbergen.«
Ich nicke und spüre kurz darauf das Brennen auf meinem Unterarm.
»Und danke«, flüstere ich ihr zu, bevor ich mich wieder der Müdigkeit hingebe.
Die nächsten Tage liege ich fast nur im Bett. Weder Liran noch Miél tauchen auf, und Miral kommt nur ab und an, um mich zu waschen, während Lou gar nicht erscheint. Und so streiche ich, als ich wieder bei Kräften bin, unschlüssig durch die Palastgänge.
Ich habe nicht mehr viel Zeit hier im Fürstentum des Hochmuts. Von Liran weiß ich, dass ich zehn Tage bewusstlos gewesen bin. Tarons Gift war stark. Wahrscheinlich hätte es mich töten sollen. Mein nächstes Ziel führt mich in Santos’ Reich des Geizes. Und ich muss eine Entscheidung treffen. Werde ich sie alle ausspionieren? Und wie soll das überhaupt aussehen? Was für Schwächen könnten nützlich sein? Und will ich das überhaupt?
Eigentlich kenne ich die Antwort bereits. Seit Liran mir gesagt hat, dass er Miéls Plan unterstützt, weiß ich, dass ich es tun werde. Vor allem, weil ich Liran mehr vertraue als Miél, aber auch, weil ich mir so sicher sein kann, dass sich dieser Plan nicht gegen ihn oder Aviell richtet. Wir haben also alle das gleiche Ziel. Zumindest haben sie es, denn ich bin mir immer noch unsicher, ob ich als Heroe überhaupt aus den Schatten treten will. Ich sollte es wollen, und ja, ein Teil von mir könnte mich für meine Unsicherheit schlagen.
»Euch scheint es besser zu gehen«, ertönt in diesem Moment Lirans Stimme hinter mir in dem düsteren Gang, den ich gerade entlanggehe.
Ich zucke zusammen, vor allem weil er die höfliche Anrede benutzt und ich ihn nicht habe kommen hören.
»Ja«, antworte ich und drehe mich zu ihm. Er steht in einem Türrahmen, als wäre er kurz zuvor aus dem Raum dahinter getreten, und sieht gerädert aus. Müde und ausgelaugt. Aber etwas glänzt in seinen Augen, als er mich anblickt. Liegt das an mir? Oder ist es die Verbundenheit mit Aviell? Und wie soll ich je wieder wissen, ob jemand mich mag oder eigentlich nur sie?
Zu viele Gedanken , meckert Wirbel in meinem Kopf.
Ich seufze.
»Habt ihr einen Regenten ernennen können?«
Liran nickt und tritt langsam auf mich zu. »Er hat einen Onkel. Den Duke des Zorns. Er wird die Aufgaben übernehmen, bis Taron …« Er spricht nicht weiter, denn wir beide wissen, dass er nicht zurückkommen wird.
»Wird er ein besserer Herrscher sein?«
Liran schnauft. »Alles ist besser als Taron, und ich kenne Gustá schon sehr lange. Gut ist auch, dass ich Santos und Firas spekulieren gehört habe, er selbst wäre für den Angriff verantwortlich. Hauptsächlich, weil Gift ein Merkmal der Fürstenfamilie des Zorns ist.«
Ich räuspere mich. Dieses Gespräch ist seltsam. Vor allem, weil wir uns für diesen winzigen Moment so nah waren und jetzt meilenweit entfernt scheinen.
»Ich werde Euch morgen in das Fürstentum des Geizes begleiten. Santos veranstaltet eine Art Turnier, bei dem ich anwesend sein werde. Er veranstaltet gerne Wettspiele. Aber dann muss ich wieder abreisen.«
»Turnier, Wettspiele? Klingt aufregend«, gebe ich zurück.
»Ich nenne es Zeitverschwendung. Vor ein paar Monaten hat er einen Tjost veranstaltet. Es war suspekt.«
»Einen Tjost?«, hake ich möglichst beiläufig nach.
»Zwei Kämpfer, mit einer Lanze bewaffnet, reiten aufeinander zu und versuchen sich von den Pferden zu stoßen.«
Ich hebe meine Brauen und öffne den Mund, doch Liran spricht weiter.
»Davor hat er eine Schatzsuche organisiert. Wir Fürsten mussten tatsächlich seinen gesamten Palast und das Gelände nach Hinweisen absuchen, um den Schatz zu finden.«
Ich lächle. »Das klingt aber eigentlich ziemlich amüsant.«
Liran verzieht kaum merklich den Mund und ich meine sogar ein Grübchen zu erkennen. »War es eventuell auch. Vor allem, weil ich gewonnen habe.« Er räuspert sich und wird wieder ernst. »Ihr solltet trotzdem vorsichtig sein.«
»In Ordnung«, entgegne ich, da ich nicht genau weiß, was er mir damit sagen will. Dass ich mich nicht töten lassen soll?
»Ich denke, ich gehe ein wenig in den Garten«, versuche ich dann aus der Situation zu fliehen.
»Miél ist nicht hier.«
Ich verschränke die Arme. »Inwiefern betrifft mich diese Information, Euer Gnaden?«
Er tritt näher. »Die Frage liegt Euch doch auf der Zunge, nicht wahr? Ob er nach Euch gesehen hat.«
Ich verenge meinen Blick. »Hat er?«, hake ich also nach.
Liran scheint mit sich zu kämpfen. »Nein«, gibt er dann zurück und es wirkt halb ehrlich und halb unwahr. Ich kann es nicht genau einschätzen.
»Nun denn.« Ich knickse leicht und drehe mich um. Tränen kitzeln in meinen Augen, also setze ich zum Gehen an, aber Lirans Stimme lässt mich innehalten.
»Eine Seele, getrennt und doch vollständiger als zuvor,
Gelockt aus dem Versteck der Unsichtbarkeit,
Weil du meine Seele siehst und lockst hervor,
Den Teil in mir, der sein will, der schreien will, der lieben und lachen will bis zur Unendlichkeit.«
Ich halte den Atem an, als er das Gedicht zitiert, das ich erst vor Kurzem geschrieben habe. Ich drehe mich nicht um. Wage es nicht.
»Meinst du damit ihn?«
Ich schlucke schwer. Ich kann nicht bestreiten, dass Liran etwas in mir zum Vorschein gebracht hat und die Sicht auf meine eigene dämonische Seite verändert hat. Aber Miél …
Nun endlich wende ich mich ihm doch zu. »Ja.«
Stille. Selbst Wirbel bleibt stumm. Liran sieht mich einfach nur an. Und dann wirkt er, als würde er gerne etwas sagen, schüttelt jedoch den Kopf und geht.
Ich bleibe noch eine halbe Ewigkeit stehen. Ich habe ihn verletzt. Das konnte ich deutlich sehen und spüren. Doch ich hätte es nicht leugnen können. Ich kenne Miél nicht. Und trotzdem fühle ich mich ihm verbunden. Vielleicht durch unser Dämonenblut, oder es ist einfach etwas anderes, was man mit Logik nicht erklären kann. Und dann war da noch der Mann im Wald und diese Familie. Sie waren echt und haben sich und ihre Kinder geliebt. Sie lieben sie und geben alles, um überleben zu dürfen. Und dieser Mann, der kein Dämon war, hat sein Leben riskiert, um sie zu beschützen.
Irgendwann schaffe ich es endlich in den Garten, in dem ich verweile, bis die Sonne untergeht. Als ich schließlich am späten Abend im Bett liege, frage ich mich, warum Miél nicht aufgetaucht ist. Zumal ich morgen abreise und er möchte, dass ich ihn unterstütze. Ihn und seinen Plan. Aber wie soll ich das tun, wenn ich nicht einmal weiß, was ich wirklich suchen soll?
Ruhelos drehe ich mich von der einen Seite zur anderen und gehe immer wieder auf den Balkon, in der Hoffnung, Miél stünde im Garten und würde auf mich warten. Stattdessen erkenne ich Liran, als ich das vierte Mal hinauslaufe.
Er sitzt auf einer Bank und sieht in die andere Richtung, trotzdem scheint er meine Anwesenheit zu spüren, denn kurz darauf ertönt seine Stimme. »Er wird nicht kommen.«