KAPITEL 14
»Ich kann einfach nur nicht schlafen«, entgegne ich.
Er lacht. Ich kann es kaum hören, obwohl die Bank direkt unter dem Balkon steht.
»Ich genauso wenig«, sagt er dann und dreht sich mir zu.
»Was plagt Euch?«, erkundige ich mich und bin fast stolz, weil diese Frage auch Aviell hätte stellen können. Ich fange also wirklich an, mich in die Rolle einzufinden.
»Dass Ihr morgen abreist. Selbst wenn ich mitkomme. Ihr verlasst mein Fürstentum. Es war heller mit Euch.«
Ich blinzle erschrocken. Wirbel hingegen führt Tänze auf meinem Arm auf.
Er liebt uns.
Mit erhobenen Brauen verscheuche ich ihre Stimme aus meinem Kopf. Ich weiß nicht genau, ob mich das, was er sagt, erschreckt oder die Tatsache, dass er so ehrlich ist.
»Gehen wir ein Stück?«, fragt er und deutet auf den Garten.
Ich nicke, trete wieder hinein, werfe mir einen Mantel über, ziehe Schuhe an und schleiche mich dann die Gänge hinab nach draußen. Liran wartet bereits an der Tür.
Wir flanieren ein ganzes Stück, bevor er wieder spricht.
»Ich würde immer noch gerne verstehen, warum Aviell mir diese Gedichte geschickt hat.«
Ich verziehe den Mund, weil ich das gerne auf ewig verdrängt hätte.
»Aviell ist manchmal etwas unsicher. Vielleicht dachte sie, dass sie ohne diese Gedichte nicht interessant genug für Euch wäre«, versuche ich mich an einer Erklärung.
Er schnalzt mit der Zunge.
»Es sind doch nur Gedichte, Euer Gnaden. Der Mensch ist immer noch derselbe.«
»Seht Ihr das so?«, fragt er, bleibt stehen und sieht mich ernst an.
»Ja, das tue ich.«
»Was aber, wenn ich Euch sage, dass ich mich in das verliebt habe, was in den Gedichten steht, und nicht in das, was in den Briefen gesagt wurde?«
»In diesem Fall würde ich Euch antworten, dass Ihr wahrscheinlich einfach nur verletzt seid und nicht klarseht.« Meine Stimme bleibt stark, obwohl ich mich nicht so fühle. Und auch Wirbel macht es nicht besser, die mir zuschreit, dass er sich dann ja in mich verliebt hat. Im Gegenteil. Mein Herz will genau das. Und lässt ein Kribbeln durch meinen Körper strömen.
Liran greift in seine Manteltasche und zieht dieses Mal einen Brief heraus. Ich erkenne das Papier und die Schrift sofort. Er wurde nicht von der Sekretärin geschrieben, sondern von Aviell.
Ich atme tief ein und aus, während er ihn auffaltet und mit einem »Das war ihr letzter Brief an mich, er kam nach dem Angriff bei mir an« zu lesen beginnt.
Euer Gnaden,
entschuldigt, dass ich Eurer Bitte, Euch Liran zu nennen, nicht nachkommen kann. Es ist mir, selbst wenn Ihr es verlangt, nicht möglich, die Etikette und Erziehung abzulegen, und ich denke auch, dass es sich nicht ziemt.
Dennoch freue ich mich, Euch diesen Brief zu schreiben, da ich unseren Austausch doch so genieße.
Es ist mir ein großes Anliegen, Euch von meiner Woche zu erzählen. Nachdem ich Euch in meinem letzten Brief berichtete, dass ich begonnen habe ein Buch zu lesen, muss ich jetzt leider gestehen, es abgebrochen zu haben. All die Wörter und Vergleiche. Das finde ich lieber in unserem wunderschön angelegten Garten wieder. Die Blumen beginnen zu blühen, und das Gras ist so wunderbar grün, dass ich es den ganzen Tag betrachten könnte. Diese Woche habe ich ebenfalls zwei neue Klavierstücke gelernt, die ich Euch so gerne vorspielen würde. Mein Vater sagte, dass in naher Zukunft all die Fürsten zu einem Fest geladen sind. Und ich das erste Mal dabei sein darf. Ich kann es kaum erwarten, Euch meine selbst angelegten Blumen zu zeigen und etwas auf dem Pianoforte zu spielen.
Es gab diese Woche aber auch einen Zwischenfall, den ich gerne vergessen würde. Meine Schwester Navien scheint Dinge zu verheimlichen. Ich berichtete Euch ja davon, dass sie eine sehr begabte Leserin ist. Doch mich beschleicht das Gefühl, dass sie Worte zurückhält, und nun wurde dies meinem Vater zugetragen, der sie bestrafen will. Ich wünschte, ich könne sie dazu bewegen, nicht weiterhin unehrlich zu sein, da das doch unser Grundsatz ist. Aber in ihr schlummert etwas, das ausbrechen will. Ich muss es jedoch verhindern. Es könnte sie den Kopf kosten.
Ich hoffe auf Euren stets guten Rat in dieser Sache. Und auf ein baldiges Treffen.
Eure Mistress Aviell
Als Liran endet, ist es, als wäre ich taub. So, als würde ich unter Wasser gehen.
»Warum lest Ihr mir das vor?«, frage ich endlich, als ich mich gefasst habe. Aviell muss den Brief an dem Tag geschrieben haben, als wir angegriffen wurden.
»Weil ich mich nicht in die Frau verliebt habe, die das geschrieben hat.«
Ich schlucke schwer. Ich würde gerne behaupten, dass das auch nicht Aviell widerspiegelt. Dass sie viel mehr zu bieten hat. Aber das wäre eine Lüge. Genau so ist Aviell. Regelkonform. Einfach. Es schmerzt, an dieses Wort in Zusammenhang mit ihr zu denken. Doch so ist sie. Einfach. Sie kann nichts mit Literatur oder Politik anfangen. Nichts mit Kunst. Sie hält sich am liebsten im Garten auf, beobachtet Blumen oder spielt Klavier. Das ist nichts Falsches.
»Die Frau in den Gedichten ist wild und forschend«, sagt er mit einer jugendlichen Aufregung in der Stimme. »Sie ist interessiert, will Neues spüren und erleben und sieht hinter die Fassade.«
»Liran …«, versuche ich ihn zu unterbrechen.
»Sie ist klug und schön und so verdammt einsam.« Seine Stimme ist rau und bebend.
»Liran«, flüstere ich wieder. Dieses Mal sieht er mich an. »Ich bin diese Frau. Also sagt das nicht.«
Er presst die Lippen aufeinander. »Aber …«
»Nein. Ich bin eine Heroe und Ihr werdet meine Schwester heiraten.« Niemals hätte ich gedacht, wie schwer mir diese Worte fallen könnten. Doch es ist, als wären sie wie ein schwerer Stein in meiner Kehle, den ich nur mit all meiner Willensstärke und Kraft hinausbekomme.
»Aber diese Gedichte …«
»Das ist doch nur Fiktion, Liran. Es ist etwas, das ich schreibe, und nicht das, was ich wirklich bin. Ich bin und bleibe ein Dämon. Selbst wenn Hunderte Quiris meine Haut bedecken würden, wäre ich noch immer ein Geschöpf der Unterwelt. Würde noch immer die Erbsünde in mir tragen.«
Er schweigt eine ganze Weile.
»Ich möchte nicht, dass Ihr geht.«
»Warum nicht?«, frage ich schulterzuckend. »Wir kennen uns kaum. Ihr habt mich erpresst, und wir haben uns ein paarmal hier im Schloss etwas vorgespielt, damit Eure Angestellten den Eindruck bekommen, wir wären verliebt. Mehr ist da nicht.«
Ich mustere seine große, starke Gestalt. Seine dunklen Haare, die ihm wild ins Gesicht fallen. Seine fast schwarzen Augen und diesen Ausdruck in ihnen. Er weiß, dass ich recht habe. Er weiß, dass ich eine Heroe bin. Er weiß, dass wir uns kaum kennen. Aber etwas in ihm möchte das ändern. Nur wo würde das hinführen?
»Sieht sie aus wie Ihr?«
»Aviell?«, hake ich nach. Mir ist eiskalt. Obwohl Heroen nicht frieren können.
Er nickt.
»Ihr habt Euch noch nie gesehen?«
»Nein, sie hat mich bei einem Fest Eures Vaters wohl heimlich beobachtet und mir dann geschrieben.«
»Ah«, mache ich und gehe dann schnell auf seine Frage ein. »Nein. Wir sehen uns nicht ähnlich. Sie hat schwarzes Haar, dunkler noch als Eures. Und grüne Augen. Sie ist wunderschön.« Ich sage es ohne Bedauern. Denn ich wusste schon immer, dass Aviell die Schönere von uns ist. Und das hat mich nie gestört. Damit werde ich jetzt nicht anfangen. Allein meine Ausbildung hat dafür gesorgt, dass auf meiner eigentlich kleinen, feinen Nase ein winziger Höcker herausragt und sie ein wenig schief ist. Wenn man genau hinsieht, habe ich Tränensäcke, die immer ein kleines bisschen geschwollen sind. Ebenfalls von den Kämpfen, und nun besitze ich diese riesige Narbe an der Seite meines Gesichts, weil ich mir die Lilie, die ich eigentlich mochte, herausgeschnitten habe.
»Aber innerlich ist sie gleichermaßen wunderschön, Euer Gnaden. Und es wert, sie kennenzulernen.«
Warum sagst du das? , schreit mich Wirbel an, doch ich ignoriere sie. Ich kämpfe nicht gegen meine Schwester. Gegen meine Seelenverwandte. Und vor allem kämpfe ich nicht um einen Mann, den ich nicht kenne. Obwohl ich mich zu ihm hingezogen fühle. Das sind jedoch keine tiefen Gefühle. Wie auch? Es ist nur eine Anziehung, die irgendwann vergeht.
»Aber Ihr …«, beginnt er, doch ich schüttle den Kopf.
»Ihr selbst sagtet, dass all das nur meiner Verbindung zu Aviell geschuldet ist. Ihr fühlt etwas für sie und projiziert das auf mich. Mehr nicht.« Ich atme tief ein und aus. »Ich muss jetzt schlafen«, beende ich das Gespräch und gehe.
Liran hält mich nicht auf. Und wahrscheinlich ist das auch besser so. Noch zwei Tage und ich sehe ihn erst einmal nicht wieder. Das wird gut sein. Für uns beide.
Als ich am nächsten Tag zum Frühstück erscheine, sitzt nur Liran im Raum und liest ein Buch. Er begrüßt mich höflich. All die Gefühle, die ich gestern in seinen Augen sehen konnte, sind verschwunden. Als hätte er sie einfach ausgestellt. Wie eine Kerze, die nur so lange brennt, bis man sich entschließt, sie auszupusten. Und genau das scheint er getan zu haben.
Ich sollte glücklich darüber sein. Bin ich aber nicht. Und auch Wirbel jammert in meinem Kopf. Vielleicht ist es dieses kleine Quiri, das mir all diese Gefühle in den Kopf setzt. Wenn ich jedoch ehrlich bin, wusste ich schon in der ersten Sekunde, in der ich Liran sah, dass er mein Untergang sein könnte. Und das nicht wegen der Gefühle, die Avi für ihn hegt. Da bin ich mir sicher. Nur ist es immer noch meine Entscheidung, ob ich das zulasse.
Wir essen stumm, bis Liran mir sagt, dass unsere Kutsche demnächst eintrifft. Plötzlich kommt mir alles so schnell vor. Ich konnte kaum wirklich hier ankommen. Liran wollte, dass Ark mich unterrichtet, und …
»Was ist mit den Apokryphen, die ich für Euch lesen sollte? Und was wird aus den Übungsstunden?«
»Durch die Vergiftung haben wir Zeit verloren. Aber vorerst ist es sowieso am sichersten, wenn Ihr keine dämonischen Kräfte nutzt.«
»Am sichersten für wen?«
»Für Euch, Navien.« Er sagt es ruhig und fast schon liebevoll, bevor er mir seinen Arm anbietet.
Als wir schließlich in der Kutsche sitzen, bemerke ich, dass ich mich von niemandem verabschiedet habe. Aber hätte ich es tun sollen? Etwas in mir schreit Ja. Zumindest von Lou und Miral, die erst einmal bei ihrer Familie bleiben wird. Doch der anerzogene Teil, die Heroe, die ich bin, hat sich nie verabschiedet. Von wem auch? Ich war einfach nur eine Leibwächterin. Und die verabschieden sich nicht. Aber vor allem verabschiedet man sie nicht. Man schickt sie höchstens weg.
Während ich begreife, dass ich nach wie vor zu einem großen Teil die bin, die aus mir gemacht wurde, nehme ich mir ein Buch zur Hand, das ich in meinem Gemach gefunden habe. Hauptsächlich, um nicht mit Liran reden zu müssen, senke es jedoch, als er sich vernehmlich räuspert.
»Da gibt es noch eine Sache, die ich gerne besprechen würde.«
»Und die wäre?«, erkundige ich mich und reibe kaum merklich über das Papier des Buchs, um mich abzulenken. Von ihm und seiner einnehmenden Wirkung. Und von der Tatsache, wie unwohl ich mich fortwährend in diesen Kleidern fühle. Heute trage ich ein dunkelblaues, schlichtes Stück.
»Taron wird nicht wieder auftauchen, was bedeutet, dass Ihr frei sein werdet, oder vielmehr Aviell. Dennoch hat das Fürstentum des Zorns ein Recht auf Euch, weshalb Ihr auf jeden Fall Tarons Onkel Gustá kennenlernen werdet.«
»Und wie wird das ablaufen?«, frage ich und werfe einen Blick auf die Wälder um uns herum. Vor diesem Gespräch hatte ich Angst. Aus irgendeinem Grund will ich Liran und unsere Abmachung nicht verlieren. Wobei es sich schon etwas danach anfühlt, weil sich Liran meine Worte von gestern Abend so sehr zu Herzen genommen zu haben scheint, dass er nun wieder mit dieser höflichen Distanz mit mir spricht. Ich wollte es so. Habe es ihm selbst gesagt. Aber es tut weh. Und das kann ich nicht unterdrücken. Als wäre dieser Schmerz, den ich zuvor nicht kannte, nun ein Teil von mir. Am liebsten würde ich schreien und weinen. Ja, ich würde sogar gerne alles zurücknehmen und ihm erklären, dass wir eine Chance verdient haben. Nur tue ich das nicht, denn so bin ich nicht. So wurde ich nicht erzogen.
»Ihr werdet hochoffiziell eingeladen und verbringt den Tag mit ihm. Doch das passiert erst nach vierzig Tagen des Verschwindens.«
Ich zucke mit den Schultern. »Und ich darf dennoch selbst wählen, wen ich heirate?«
»Nicht ganz. Die Fürsten müssen trotzdem zustimmen, und sind sie sich uneins, wird wieder dieser Rat befragt. Also ist es wichtig, dass …«
»Wir weiter verliebt spielen?«
»Ja.«
Das dürfte uns nicht sonderlich schwerfallen.
Pssht! , befehle ich Wirbel in Gedanken und nicke nur.
»Ich habe etwas für Euch. Es wird vor allem den anderen zeigen, dass wir uns nahestehen.«
Ich presse die Lippen aufeinander und sehe dabei zu, wie er ein kleines Papiertütchen aus seinem Mantel nimmt und mir reicht. Als ich es öffne und hineinschaue, stockt mir der Atem. Es ist eine schlichte silberne Kette. Doch daran ist ein Anhänger befestigt, der die Form einer Lilie hat. Nein, nicht irgendeiner Lilie. Es ist meine Lilie. Die, die ich mir aus meinem Gesicht geschnitten habe.
Ich brauche eine halbe Ewigkeit, bis ich Liran anblicken kann.
»Woher wisst Ihr, wie sie aussah?«
»Ich habe sie im Wald erspäht. Und einige Eurer Gedichte sind mit ihr unterzeichnet.«
Ich nicke nur, um Worte verlegen, und ziehe die Kette dann endlich heraus. Noch nie in meinem Leben wurde mir etwas so Wunderschönes geschenkt. Nein. Noch nie wurde mir überhaupt irgendetwas geschenkt.
Liran beugt sich vor, nimmt mir die Kette ab und legt sie mir um den Hals. Er ist mir so nah, dass ich die Wärme seines Körpers spüren kann. Eine Wärme, die mein Körper nicht besitzt. Das dämonische Blut ist kalt.
»Danke schön«, flüstere ich und umschließe die Lilie mit meinen Fingern. Es mag ein Geschenk sein, damit die anderen Fürsten unsere Zugehörigkeit sehen. Doch da steckt mehr dahinter. Eine so große Geste, dass mein Herz es kaum verstehen kann. Und das Seltsame ist, dass es fast so wirkt, als würde dieser Fürst dort gegenüber von mir mich besser kennen, als es sonst jemand auf dieser Welt tut. Vielleicht liegt es an den Gedichten. An der Art, wie er aus ihnen mich und meine Seele herausgelesen hat. Vielleicht liegt es aber auch an dem unfreiwilligen Handel, der uns, ob gewollt oder nicht, zusammengeschweißt hat.
Ich seufze innerlich und richte meinen Geist wieder auf das Buch. Gefühlt vergehen Stunden, und als ich es müde bin zu lesen, frage ich Liran nach seinem Lieblingsbuch. Er erzählt mir von einer Sage zweier Liebender, die gegen jegliche Vernunft zusammen sein wollen und schließlich fliehen, weil ihre Verbindung nicht akzeptiert wird. Am Ende kehrt sie jedoch zu ihrer Familie zurück und heiratet den Mann, dem sie versprochen ist. Ihr Geliebter bringt sich einige Monate später um, da er ohne sie nicht leben will.
Wir diskutieren ewig darüber, ob dieses Ende nun schön oder grausam ist. Wobei Liran hinter jeder Tat ihre große Zuneigung sieht und ich hin- und hergerissen bin.
»Er hat sie so sehr geliebt, dass er nicht ohne sie konnte. Und sie ist verheiratet und hat Kinder. Und lebt damit.«
»Aber sie wollte ihren Geliebten schützen, weil ihre Familie ihn umbringen wollte.«
»Gestorben ist er dennoch. Warum sind sie nicht weiter geflohen?«
»Vielleicht wollten sie kein Leben auf der Flucht führen.«
»Ich denke, dass er sie mehr geliebt hat als sie ihn.«
»Warum?«, fragt Liran grinsend. »Weil er sich umgebracht hat?«
»Ja. Hätte ich dieses Buch geschrieben, wäre sie zurückgekehrt, um ihn zu schützen, er hätte geheiratet und dann hätte sie sich umgebracht. Oder andersrum. Aber so ist derjenige, der geschützt werden sollte, tot. Das ergibt keinen Sinn.«
Liran lacht heiser. »Ich liebe dieses Buch genau deshalb. Weil es kein zufriedenstellendes Ende hat. Genauso wie das Leben.«
»Und Ihr würdet das einfach so hinnehmen? Angenommen, Ihr liebt jemanden so sehr, wie sie sich geliebt haben. Würdet Ihr sie gehen lassen?«
Er denkt kurz über meine Worte nach, streicht sich über das Kinn und lässt den Blick schweifen, bevor er mich wieder ansieht.
»Ich habe nie auf eine solche Art geliebt. Aber wenn ich es mir vorstelle. Eine so allumfassende Liebe, dann würde ich wahrscheinlich nicht ohne sie leben wollen.«
»Vielleicht ist es besser, diese Liebe nie kennenzulernen«, sage ich nachdenklich. »Eine, die so zerschmetternd ist.«
»Es wäre aber auch traurig zu wissen, dass sie existiert, man sie jedoch nicht erlebt.«
»Liegt es nicht vielleicht einfach an dem Verbotenen? Es muss doch einen Grund geben, dass all die grandiosen Liebesgeschichten schlecht enden. Vielleicht macht erst das die Liebe so besonders.«
Liran schweigt. Wir wissen allerdings beide, dass es hier längst nicht mehr nur um dieses Buch geht. Natürlich lieben wir uns nicht. Doch es ist klar, dass wir nie zusammen sein könnten. Und ja, vielleicht macht es das spannender.
»Was ist Euer liebstes Buch?«
»Das ist schwierig, aber ich habe einmal ein Buch der Apokryphen gelesen, das mich nachhaltig berührt hat.«
»Und worum ging es?«
»Um Eure Vorfahren. Und die gefallenen Engel. Und darum, dass in ihnen nichts Böses steckte. Dann jedoch schon. Und es war eine schöne Vorstellung, nicht gänzlich böse zu sein, nur weil man zum Dämon wird.«
»Braucht Ihr wirklich diese alte Geschichte, um zu wissen, dass Ihr und auch die anderen Heroen nicht durch und durch schlecht sind, Navien?«
Ich verziehe den Mund. »Eigentlich nicht«, gebe ich zu. »Aber ich habe lange geglaubt, dass das Gute in mir nur der anerzogene Teil ist.«
Liran lacht rau. »Ich denke, man kann keinem wirklich von Grund auf bösen Wesen etwas Gutes anerziehen.«
»Schlummert in Euch etwas Böses?«, frage ich und mustere ihn.
Er grinst. »Mit Sicherheit.«
»Und was?«
»Ich bin hochmütig und arrogant, reicht das nicht, Mylady?«
Ich schüttle lachend den Kopf. »Das liegt in Eurem Erbe.«
»Also bin ich wohl unfehlbar.«
»Bestimmt nicht.« Ich lache erneut. Generell bemerke ich, dass ich fröhlicher bin, wenn Liran in meiner Nähe ist. Er kitzelt etwas aus mir heraus.
»Wart Ihr schon einmal verliebt?«, fragt er so plötzlich, dass ich mich verschlucke.
Dann schüttle ich den Kopf. »Nein. Nicht richtig.«
»Was bedeutet ›nicht richtig‹?«
»Es bedeutet Nein. Vielleicht mochte ich mal jemanden oder habe mich zu bestimmten Menschen hingezogen gefühlt. Aber ›verliebt‹ ist ein großes Wort.«
»Manchmal frage ich mich, ob die Menschen nicht vielleicht ein zu großes Wort daraus machen. Ich war allein in meiner Kindheit Dutzende Male verliebt«, lacht er und schiebt die Brauen zusammen. »Natürlich habe ich nicht geliebt. Doch ›verliebt‹ ist etwas anderes. Manchmal reicht eine Begegnung und man fühlt sich auf diese besondere Art zu jemandem hingezogen. Alle Sinne richten sich auf diese eine Person. Wenn man zusammen in einem Raum ist, sucht der Blick ständig nach ihr. Man verspürt das kribbelnde Verlangen, immer in der Nähe dieser Person zu sein. Es ist aufregend. Und meinetwegen unterhält man sich dann und bemerkt, dass da nichts ist, oder aber eben doch, und man ist verliebt, bis man liebt. Falls es so weit reicht.«
»Ich weiß nicht, ob das so einfach ist«, gebe ich nachdenklich zurück. Aber vor allem spüre ich tief in mir, dass Liran etwas beschreibt, was ich ihm gegenüber fühle. Und ein Teil in mir, der mittlerweile viel zu groß ist, will, dass auch er es fühlt.
Doch, das ist es! , schreit Wirbel in meinem Kopf.
»Es ist eine Frage der Definition. Und die muss jeder für sich selbst festlegen. Wie würdet Ihr dieses Gefühl beschreiben?«
Ich sehe ihn an. Beiße auf meiner Unterlippe herum, damit es wirkt, als würde ich nach den richtigen Worten suchen. In Wahrheit versuche ich aber nur auszublenden, dass ich diese Dinge, die er da beschreibt, nur bei ihm und Miél empfunden habe.
»Ich weiß nicht. Es ist eine Art aufregende Nervosität.«
»Und habt Ihr das auch bei normalen Freunden?« Er hebt einen Mundwinkel, lehnt sich zurück und verschränkt die Arme vor der Brust, als hätte er gewonnen.
»Gute Frage. Dafür müsste ich allerdings wissen, ob wir Freunde sind.«
Ihm vergeht das Grinsen und nun tue ich ihm die siegessichere Geste von gerade nach.
»Chapeau, kleine Heroe.« Er leckt sich über die Lippen. »Also, fühlt Ihr genau das bei mir? Aufregende Nervosität?«
Verdammt. Er ist zu gut, als dass ich ihn bei so einer Neckerei schlagen könnte.
»Ja. Aber es wird besser. Vertrauter.«
»Bedeutet das, Ihr seid jetzt gerade nicht nervös?« Er beugt sich vor.
Ich wünschte, ich könnte weiter in meinen Sitz zurückrutschen. Dieses nervöse Flattern durchzuckt meine Brust.
»Genau das bedeutet es.«
»Das ist eine Lüge, die sich für Euer Fürstentum nicht ziemt, Mylady.«
»Woher wollt Ihr das wissen?«
Er sieht hinab auf meine Finger. Ich folge seinem Blick zu meinem Daumen und Zeigefinger, die aneinanderreiben.
»Das tut Ihr immer, wenn Ihr nervös seid.«
Ich brauche eine ganze Weile, bis ich wieder hochschauen kann. Seine Brauen sind herausfordernd gehoben.
»Außerdem verändert sich Eure Atmung. Sie wird stärker und bewusster.«
Auch jetzt versuche ich, ruhig zu atmen. So wie ich es immer tue. Mir fehlen die Worte. Vor allem, weil mir die Dinge, die er da sagt, beweisen, wie aufmerksam Liran ist. Mir gegenüber ist. Und plötzlich wird mir bewusst, dass wir wirklich hätten Freunde werden können. In einer anderen Welt. Vielleicht sogar in dieser hier, wäre Aviell nicht entführt worden. Ja, hätte ich ihn als ihren Zukünftigen kennengelernt, dann hätte ich womöglich keine Sekunde über seine dunklen Augen nachgedacht, hinter denen sich ein Meer aus Gedanken und Wissen befindet. Ich hätte nie auf seine Haare geachtet und den Dreitagebart, den er manchmal hat. Niemals über seine Gesichtszüge und diese Lippen, die so viele Geschichten erzählen wollen.
Vielleicht hätten wir als Freunde zusammengesessen und Gedichte besprochen. Doch genau so kann es noch sein. Ich muss nur vergessen, dass ich diese kindischen Dinge fühle.
»Euer Gnaden, wir treffen gleich ein«, ruft der Kutscher von draußen.
Liran verzieht den Mund, dann beugt er sich so dicht zu mir, dass ich seinen Atem an meinem Ohr spüren kann.
»Ich will, dass Ihr das hier nicht Ark sagt, aber Miél wird zu Euch stoßen.« Ich schlucke hart und er scheint mit seiner eigenen Entscheidung zu ringen. »Ihr braucht jemanden, der auf Eurer Seite steht. Und das tut er. Glaubt nicht, dass ich Euch nicht für fähig halte, Euch selbst zu beschützen, aber …«
»Ich verstehe schon«, gebe ich schnell zurück. »Ich bin froh, nicht allein zu sein.«
»Gut. Nehmt Euch dennoch in Acht vor ihm.«
Ich nicke und in diesem Moment hält die Kutsche. Ich will nicht aussteigen, will nicht, dass Liran geht. Will selbst nicht gehen. Und trotzdem erhebe ich mich und steige aus.