KAPITEL 19

Wir entscheiden uns, die Nacht über ein Lager aufzuschlagen, und Miél schickt Ametist und ihren Bruder los, um Liran zu berichten, dass wir in zwei Tagen eintreffen werden. Wir sind immer noch im Fürstentum der Völlerei, aber die Grenze zu Lirans Herrschaftsgebiet ist wohl nicht mehr allzu weit entfernt.

Ich sitze an einem winzigen Feuer und wärme mich, als Miél zu mir tritt. Gustá, Gia und Sheva lehnen ein wenig entfernt an Bäumen.

»Ich musste mich, jetzt, da ihr Freunde seid, mit Gia darum prügeln, dass ich dir die Salbe auftragen darf«, erklärt er und hebt einen Mundwinkel.

»Sehr witzig, Miél«, sage ich und verdrehe leicht die Augen. Aber ein Lächeln kann ich nicht verbergen.

»Na gut, prügeln musste ich mich vielleicht nicht.« Er setzt sich und deutet auf mein Oberteil.

Ich hebe es an und sehe das erste Mal wirklich hin. Die Narben bereiten mir keine Probleme. Sie sind da. So wie es die anderen vor ihnen waren. Was mich wirklich an ihrem Anblick kränkt, ist, wie leicht es den Fürsten gefallen ist, sie mir zuzufügen, als sie wussten, dass ich nicht Aviell, sondern ihre Heroe bin. Als wäre ich in diesem winzigen Moment zu einem Unmenschen geworden. Kein Lebewesen mehr, das fühlt. Einfach etwas, das man ermorden kann, ohne zu zögern. Ein Nichts. Eine Heroe eben. Doch sosehr ich damals geglaubt habe, dass Heroen genau dieses Nichts sind, so sehr glaube ich jetzt, dass das nicht wahr ist. Ich lebe und ich will leben. Ich habe ein Herz, das schlägt und fühlt.

Miél berührt meine Wunden fast ein wenig grob. Aber ebenfalls zart. Fast so, als würde er mich nicht für ein zerbrechliches Wesen halten. Gut so. Als er fertig ist, nehme ich ihm die Salbe ab und schmiere etwas davon auf seine Platzwunde an der Stirn.

»Du kannst ziemlich ungezogen werden.«

Ich zucke nur mit den Schultern. Die Salbe lindert meine Schmerzen verdächtig gut.

»Wer wagt einen Kampf?«, fragt Miél plötzlich und unerwartet in die Runde.

»Wirklich? Wir sollten unsere Kräfte schonen.«

»Mhm«, macht Miél und ignoriert Shevas Einwand.

»Ich.«

»Du kannst noch nicht kämpfen, Navien.«

»Aber ich will sehen, wie du kämpfst.« Ich stehe auf und greife nach einem Messer, um mich kampfbereit hinzustellen. Sie alle starren mich mitleidig an.

Das geht nicht gut aus , ertönt Wirbels Stimme in mir.

Na super. Nicht einmal sie glaubt an mich.

»Ich will ja nicht richtig kämpfen. Sondern wissen, wie du mich angreifen würdest. Und was ich tun kann.«

Miél verengt seinen Blick, dann greift er nach einem Schwert, schmeißt es nach oben und fängt es an seinem Griff, nur um es kurz danach bis kurz vor meinen Hals sinken zu lassen.

»Anders als in deinen und Lirans Büchern, nicht wahr?«

Ich stocke. »Was soll anders sein?« Miél benimmt sich seltsam.

»Na ja, normalerweise bringt der Liebende eine seiner Wachen dazu, die Geliebte zu unterrichten. Er sieht nur zu und wirft ihr heiße Blicke zu, bis er erkennt, dass sie nicht richtig kämpft, und selbst in den Ring tritt. Peng puff. Ein heißer Kampf entbrennt.« Er grinst und sieht sich um. »Bin ich nicht ein viel besserer Geliebter aus einer Erzählung? Gia?«

»Nein«, antwortet die, immer noch lässig an dem Baum lehnend.

»Autsch.«

»Sheva?«

»Du wirst es selbst merken.«

Ich hebe meine Brauen. »Zwei Dinge, Miél«, sage ich und hebe zwei Finger. »Erstens.« Ich senke einen. »Du weißt ziemlich viel über diese Liebesromane, die ich und Liran lesen. Zu viel.«

Er zuckt gelassen mit den Schultern.

»Zweitens wärst du längst tot.«

Er lächelt immer noch.

»Ach wirklich, falsche Prinzessin?« Er hebt sein Kinn, was ihn überlegen wirken lässt, und ich sehe hinab auf den Dolch, den ich auf seine Milz gerichtet habe. Er ist … er besitzt keine Klinge mehr. Sie ist geschmolzen. Miél hat sie mit seiner Macht schmelzen lassen. Ich rieche den Schwefel viel zu spät und blicke wieder auf.

»Willst du dir ein neues Zweitens aussuchen? Mir hat dieses Spiel nämlich überaus gut gefallen. Du hattest dabei etwas atemberaubend Heißes an dir.«

Ich atme.

»Dir ging es nicht darum, etwas von mir zu lernen. Du wolltest Überlegenheit demonstrieren. Das geht nie gut aus. Lass dir das gesagt sein.«

Ich schlucke und versuche, keine Scham zu empfinden.

»Ich hatte einen guten Lehrer, also ja. Mir ging es nicht darum, etwas Neues zu lernen«, gebe ich zu.

Sheva klopft sich selbst auf die Schulter.

»Aber ich wollte dir etwas zeigen.« Ich nähere mich ihm. So nah, dass ich seinen Atem auf meiner Haut spüren kann. Eine seiner Locken kitzelt meine Schläfe. Und dann streiche ich mit meinen Lippen über seine und ergreife sein Schwert. Innerhalb von Sekunden drehe ich es und schlage zu. Doch genau wie er zuvor halte ich vor seinem Hals inne.

»Wenn du einem überlegenen Gegner gegenüberstehst, nutze seine Schwäche.« Als ich bei diesen Worten zu Sheva sehe, nickt er mir stolz zu.

»Genau das hast du bei Lakros getan, nicht wahr?«, wirft Gustá ein.

Ich lasse das Schwert sinken und presse die Hand auf meine Wunde im Bauch. Auch etwas, was Miél belächeln könnte, denn in einem meiner Bücher wäre die Protagonistin längst geheilt und würde wieder kämpfen.

»Das habe ich«, gestehe ich ohne Scham.

»Das war klug und mutig.«

»Mich zu entblößen war mutig?«

»Du hast was?« Miéls Stimme klingt plötzlich zornig. Ich hätte eher erwartet, dass er fragt, warum er bei den spannenden Dingen immer nicht anwesend ist. Aber das hier ist der ernste Miél und ihm scheint das gar nicht zu gefallen. Nur zu gut, dass ich ihm keine Rechenschaft schulde.

»Ich habe Lakros meine Brust gezeigt, damit er mich nicht tötet, und ihn damit überwältigt und den Kampf gewonnen«, sage ich nüchtern.

Gia beginnt zu lachen. Aber es ist ein anerkennendes Lachen.

»Findest du das witzig?«, fährt Miél sie an.

Gia verstummt sofort und schüttelt den Kopf.

Ich blinzle. »Was soll das, Miél?«

Ach, du Scheiße, der ist sauer.

Ich verscheuche Wirbel.

»Was soll was? Die Tatsache, dass ich es nicht unterhaltsam finde, dass du dich vor einem Mann ausziehst, dessen Todsünde die Wollust ist?« Seine Stimme überschlägt sich.

»Miél«, versuche ich ihm zu sagen, dass das nicht seine Sache ist, aber sein Gesichtsausdruck lässt mich zögern. Hinter dieser herablassenden Geste versteckten sich echte Trauer und Zorn. Dennoch bin ich nicht sein Eigentum.

»Ich darf mich ausziehen, vor wem ich will und warum ich will. Ich kann kaum fassen, dass ich das schon wieder jemandem erklären muss.«

»Bis es zu weit geht und du nach Hilfe rufst.«

Ich öffne den Mund. »Was?« Es ist, als würde er mir gerade sagen, dass ich selbst schuld wäre, wenn ein Mann wie Lakros sich einfach nehmen würde, was er will.

»Ich habe ihm keine Einladung geschickt weiterzugehen.«

»Ach«, lacht Miél. Gustá erhebt sich hinter ihm. »Und Liran? Hast du ihm eine Einladung geschickt? Oder wolltest du da, dass er von sich aus merkt, was du willst?«

»Miél, das meinst du nicht so«, versucht Gustá ihn zu beruhigen, doch Miél stößt ihn von sich. »Wag es nicht, mich anzufassen, Gustá.«

Gustá … gehorcht. So wie sie alle gehorchen. Immer.

»Bist du ihr Anführer?«, frage ich lachend. Wobei ich mir diese herablassende Belustigung hätte sparen können.

Miél legt den Kopf schief. »Entschuldige, falsche Prinzessin, dass ich mich noch nicht vorgestellt habe. Man nennt mich den Fürsten der Unterwelt.«

Ich schiebe die Brauen zusammen, weil ich diese Bezeichnung tatsächlich schon einmal gehört habe. Aviell hat sie kurz vor dem Angriff erwähnt und später auch Lou, immer im Zusammenhang mit einer Rebellion. Ich habe kurz gedacht, dass es der Mann mit der Maske sein könnte, der die Heroenfamilie gerettet hat.

»Miél«, knurrt nun Sheva. »Was zum Teufel ist los mit dir?« Er steht auf und packt ihn an den Schultern. Dann sieht er ihm tief in die Augen. Als er wieder zu uns blickt, steht Panik in seinen Iriden.

»Quiris«, formt er mit seinen Lippen, und ich begreife erst, als Wirbel vor Angst wimmert. Aber sie ist doch ebenfalls ein Quiri. Normalerweise dienen sie jedoch diesem düsteren Wesen und …

»Was können sie?«, frage ich Wirbel.

Blenden. Sie blenden die Menschen und Her oen.

O nein. Das ist es, was mit Miél passiert. Er ist geblendet vor Wut, und wenn es ihn erwischt hat, dann … In der nächsten Sekunde spüre ich einen Schlag gegen meine Schläfe. Gia. Sie steht lachend neben mir und schüttelt ihre Faust. Ich hingegen versuche bei Bewusstsein zu bleiben.

Ich schaue zu Miél, der immer noch zornig wirkt und nichts tut.

»Miél?«, rufe ich ihn. Er sieht sich um, bis sich unsere Blicke treffen. »Miél«, wiederhole ich, und da begreife ich, dass er die einzige Person ist, die es für mich gerade lebenswert macht. Meinem Leben einen Sinn gibt. Wie auch immer das passieren konnte. Er ist genau das.

Seine Augen nehmen einen weichen Ausdruck an und er tritt zu mir. »Navien. Alles in Ordnung?« Seine Stimme klingt normal.

»Hier ist ein Gurra«, flüstere ich und sehe mich um. Gia geht mittlerweile auf Gustá los, der sie, ohne zu zögern, umrennt und schlägt.

Ich konzentriere mich auf die Dunkelheit um uns herum. Auf … und dann entdecke ich die finstere Gestalt hinter den Sträuchern.

»Da ist er«, sage ich und gehe auf ihn zu. Er bewegt sich nicht. Was ein Vorteil ist, da ich in diesem Zustand nicht rennen könnte. Ich bin immer noch barfuß und trete auf kleine Äste und Moos. Spüre Miél hinter mir. Langsam hebe ich meine Hand und bringe ihn so zum Stehen.

Ich bin die Einzige, die der Gurra mit seinen Quiris nicht blenden kann. Da bin ich mir sicher. Nicht nur, weil ich Wirbel auf meiner Haut trage, sondern weil ich schon bei meiner ersten Begegnung mit einem Gurra sein wahres Ich sehen konnte.

Was will er? , frage ich Wirbel in meinen Gedanken.

Gurras ernähren sich von dämonischem Blut , haucht sie.

Ich erstarre. Warum hat der andere Gurra mein Blut dann nicht genommen oder es zumindest versucht?

Ich denke, er war nicht stark genug, weil er meine Geschwister alle getötet hat. Wirbel klingt aufgelöst.

Und auch ich werde nervös, als ich plötzlich direkt vor ihm stehe und in das schwarze Gesicht blicke, das eigentlich kein Gesicht ist. Seine spitzen weißen Zähne blitzen auf. Dann legt er den Kopf schief.

»Was bist du?«, fragt er und seine Stimme überzieht meine Haut mit einem Schauer.

»Eine Heroe«, gebe ich zurück und spüre, dass sich Miél nähert.

»Warum kann ich dich dann nicht blenden?«, hakt er nach, als wäre ich ein exotisches Tier, das er gerne studieren würde.

»Bleib zurück, Miél«, fordere ich, doch diese Entscheidung bereue ich, als der Gurra ihn fixiert und ich plötzlich Miéls Klinge an meinem Hals spüre.

»Ihn kann ich blenden.«

»Miél, das ist nicht echt«, versuche ich ihn herauszuziehen. Aber ich weiß nicht einmal, woraus. Ich habe nicht den blassesten Schimmer, wie die Macht des Gurras wirkt.

Wirbel? Was soll ich tun? , frage ich in meinen Gedanken.

Sie schweigt. Na super. Sonst hat sie zu allem etwas zu sagen, doch jetzt schweigt sie?

Die einzige Möglichkeit, die ich sehe, ist, dass die Quiris aufhören, ihn zu schützen. So würde sein wahres Gesicht hervortreten und keiner wäre mehr geblendet.

Hinter mir höre ich Gias lauten Schrei, ignoriere ihn jedoch. Stattdessen versuche ich mich daran zu erinnern, in welchen Situationen Wirbel meinen Körper verlassen hat, während Miéls Klinge zudrückt. Ich keuche. Und noch mehr, als mir bewusst wird, dass ich ihr immer befohlen habe, mich zu verlassen. Bis auf einmal, als sie zu schwach war, weil sie das Gift in sich aufgenommen hatte, mit dem Taron mich vergiftet hat.

Das ist keine Option. Ich kann und will nicht alle Quiris, die ihn schützen, vergiften. Das wäre nicht richtig, und ich wüsste gerade auch nicht, wie ich an Gift herankommen sollte. Also brauche ich einen anderen Plan. Und den sollte ich schleunigst parat haben, denn Miél wirkt tatsächlich, als würde er mich töten, sollte ich nur eine falsche Bewegung machen.

Kannst du mit den Quiris kommunizieren? , frage ich Wirbel und höre ein zustimmendes Geräusch. Aber es ist kaum wahrnehmbar. Sie hat Angst. Verdammt. Sollte ich sie dann wirklich Kontakt zu ihnen aufnehmen lassen? Leider gibt es keine andere Möglichkeit.

Du musst mit ihnen sprechen. Sag ihnen, dass sie in Sicherheit sind, wenn sie sich von ihm lösen.

Er wird sie alle töten , wispert sie.

Ich verziehe den Mund, atme tief ein, befehle Wirbel, sich von mir zu lösen, und suche in mir nach dieser Macht. Sie ist da. Ich weiß es. Meine Gedanken wandern zu Ark und seinen Worten. Vielleicht hat er recht, und ich kann meine Kräfte nur nicht nutzen, weil ich sie für schlecht halte. Weil ich sie abstoße. Aber wie ändere ich das? Ich denke an Miél. Daran, wie gut er im Inneren ist und dass er diese Welt besser machen will. Ich denke an die Worte, dass die Fürsten uns unser Erbe gestohlen haben. Muss daran glauben, dass es wahr ist. Nicht nur, weil es mir hilft, sondern auch, weil ich es spüren kann. Ja, es ergibt Sinn. Wir Heroen sind nicht nur viel eher die wahren Nachfahren, weil wir genau wie sie dämonische Kräfte besitzen. Wir sind eigentlich sogar stärker als sie. Und doch haben sie es geschafft, uns kleinzuhalten.

Als ich das begreife, auch wenn ich es noch nicht vollends glaube, spüre ich plötzlich etwas Neues. Es ist nicht meine Macht. Es ist … ein anderer Geist. Es ist Miél. Ich spüre ihn. Spüre eine Verbindung, wie die zu den anderen Heroen im Fürstentum der Wahrheit, nur dass diese hier stärker ist. Tiefer geht. Ich höre nicht seine Stimme. Ich fühle und vernehme seine Gedanken. Ich spüre den Krieg, den er gerade ausficht. Miél , flüstere ich durch diese neue Heroenverbindung. Und ich kann fühlen, wie die Fesseln, die seinen Geist gefangen halten, sich lockern.

Ich schärfe meinen Blick. Selbst wenn ich Miél aus dieser Manipulation befreie und er mir kein Messer mehr an die Kehle hält, ändert das nichts an der Lage. Also richte ich meinen Geist auf den Gurra. Er ist vielleicht kein Heroer. Aber er trägt dämonisches Blut in sich. Und vielleicht kann ich … Die Wucht seiner grausamen Gedanken und die Bilder, die dabei in meinen Geist strömen, lassen mich nach hinten taumeln. Ich pralle gegen Miél, der das Messer fallen lässt und mich irritiert von oben anstarrt. Der Gurra kreischt auf. Wahrscheinlich verhindere ich seinen Einfluss auf die anderen, indem ich in seinem Geist herumwühle. Ich straffe meine Schultern und trete vor. Festige diese seltsame Verbindung und versuche die Bilder auszublenden. Bilder, wie er Menschen zerfetzt und ihre Überreste isst. Mir wird speiübel.

»Raus aus meinem Kopf!«, faucht er unmenschlich.

»Dabei ist es doch so wunderschön in deinem Kopf«, entgegne ich und trete noch näher. Sein Mund mit den weißen spitzen Zähnen reißt auf.

»Raus!«, kreischt er, aber ich ziehe an den Bildern wie an einem Band. Ich reiße ihn zu mir. Ich … verschlinge seinen Geist. Und dann erscheint ein grelles Leuchten. Die Quiris lösen sich von ihm.

Miél keucht erschrocken auf, als er zu begreifen scheint, wie dieses Monster wirklich aussieht.

Ich hebe meine Hand und balle sie zur Faust. Der Gurra schreit bestialisch auf. Denn meine Macht zerquetscht seinen Geist. Ich drehe meine geballte Hand. Der Widerstand ist so groß, dass ich glaube, meine Muskeln würden reißen. Doch im nächsten Moment schnellt meine Hand zur Seite und der Gurra fällt in sich zusammen.

Keuchend sinke ich auf die Knie. Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergeht, bis ich mich umdrehe und in fassungslose Gesichter starre. Ich presse die Lippen aufeinander, als ich Scham spüre.

»Hat sie gerade seinen Geist mit ihrer Macht zerstört?«, fragt Gia ungläubig.

»Sie hat ihn zerquetscht«, verbessert Gustá. »Als wäre er ein Insekt.«

Ich schlucke bittere Galle. Schlucke und schlucke, bis ich nicht mehr gegen den Drang meiner Kehle ankomme, all das loszuwerden, was ich gerade getan habe.

Ich übergebe mich. Schon wieder.

»Navien«, höre ich irgendwann Miéls sanfte Stimme. Ich wische mir den Mund mit dem Ärmel ab und sehe zu ihm hoch. In mir breitet sich eine Leere aus, die ich nicht begreife. Dieses Wesen war böse und widerwärtig. Ich musste es töten, und doch schmerzt die Vorstellung, wie ich es getan habe und wie leicht es mir fiel. Wie sehr mich meine dämonische Seite in diesem Moment eingenommen hat und keine Güte mehr in mir war.

»Du hast nichts Falsches getan. Das weißt du, oder?«

Ich schließe kurz die Augen. »Ist das so?«, frage ich und werfe einen Blick auf die Quiris, die sich zu einem Schwarm zusammengetan haben und wie ein riesiger Lichtball aussehen. »Was ist mit ihnen? Wir können nicht für sie alle die Verantwortung übernehmen.«

»Das müssen wir auch nicht«, sagt Miél und seufzt. »Sie können ohne Gurra leben, und es geht ihnen sogar besser, wenn sie frei sind. Sie sind nicht allein, so wie es dein Quiri war.«

Ich nicke trostlos.

»Ich denke, dass es besser ist, die Nacht durchzulaufen und nicht weiter zu rasten«, entscheidet er dann und richtet sich mit Befehlen an die anderen.

Mir ist immer noch übel. »Kannst du ihnen sagen, dass sie frei sind?«, frage ich Wirbel und stupse sie leicht an.

Sie bejaht und fliegt zu ihnen.

Währenddessen erhebe ich mich, und dabei schmerzt mein Körper, als wäre jeder meiner Muskeln mit Säure gefüllt. Warum fällt es mir so schwer? Ich wurde ausgebildet, um zu töten, und doch ist es für mich schlimmer, es mit meiner Macht zu tun, als mit meinen bloßen Händen? Das ergibt keinen Sinn.

Vielleicht ist es aber lediglich das Gefühl, meine dämonische Macht genutzt zu haben. Vielleicht kämpft mein Herz damit, es wirklich als gute Macht anzuerkennen, wenn diese Kraft so etwas anrichten kann. Und noch schlimmer war dieses Gefühl in mir. Die Dunkelheit, die mich eingenommen hat.

Ich schlucke die Gedanken herunter und lasse mich von Miél auf das Pferd hieven. Die Satteldecke verstaut er in einer Tasche. Zum Waschen ist er nicht mehr gekommen. Auch diesen Gedanken versuche ich auszublenden.

Wir reiten durch die Dunkelheit, bis wir ein wenig Abstand zu den anderen haben und Miéls Stimme neben meinem Ohr ertönt.

»Es ist nichts Verwerfliches an diesem Gefühl.«

»An welchem?«, frage ich und recke mein Kinn.

»Sich zu der Dunkelheit hingezogen zu fühlen.«

Ich schlucke. Vor allem, weil er so genau weiß, was mich beschäftigt.

»Ach nein?«, hake ich nach, da kein weiteres Wort meine Lippen verlassen könnte.

»Nein. Die Dunkelheit ist ein Teil von dir, falsche Prinzessin.« Ich schlucke schwer. Meine Kehle brennt. »Deshalb fühlst du dich auch zu mir hingezogen.«

Ich pruste. »Das tue ich nicht.«

»O doch«, sagt er und ich kann das Grinsen in seiner Stimme hören.

»Du hast mich belogen und …« Ich stocke kurz. »Du bist dieser Fürst der Unterwelt.«

»Und ändert das etwas?«

»Ja, Miél. Das alles zusammen … Ihr braucht mich für irgendetwas. Und jetzt, da ich gesehen habe, was für Mächte in mir schlummern, begreife ich auch, warum. Was ich nicht verstehe, ist, woher ihr das wusstet. Und warum nicht wenigstens du ehrlich warst.«

»Wenigstens ich heißt, dass du es von mir mehr erwartet hättest als von Liran?«

Ich nicke nur.

»Und warum?«

»Weil du genau weißt, wie es ist, im eigenen Körper gefangen zu sein. Benutzt zu werden. Immer nur ein Mittel zum Zweck zu sein. Kein eigenständiges Lebewesen. Und kaum löse ich mich von den Menschen, die mich so behandelt haben, stolpere ich in die Arme der nächsten, die mich nur benutzen wollen.«

»Ich würde dich nie benutzen, falsche Prinzessin.«

»O doch. Und du entscheidest für mich. Genauso wie Liran. Ihr entscheidet, dass ich mich im Fürstentum des Hochmuts stellen soll, um in Lirans Dienste entlassen zu werden. Was, wenn ich lieber verschwinden würde? Wegrennen würde, irgendwohin, wo mich niemand findet?«

»Und wo soll das sein?«

»Ich habe einmal gehört, dass in Ustas verstoßene Heroen leben.«

»Das hast du gehört?« Ich kann sein Schmunzeln quasi vor mir sehen. »Ustas ist die Hölle unserer Erde. Dort herrscht nur Chaos, Dreck und Brutalität.«

»Und das lassen die Fürsten zu?«

»Es liegt auf keinem ihrer Gebiete. Was außerhalb der Fürstentümer passiert, ist nicht ihre Sache, und glaub mir, Navien, du willst weder in Ustas noch in einem der anderen Städte sein.« Er redet ganz ruhig und so verdammt mächtig. Als könnte er mit seiner Stimme Kriege auslösen und gewinnen.

Ich schnaube. »Weil du mich ja auch so gut kennst.«

»Ich kenne dich besser, als du denkst«, schnurrt er und umfasst meinen Bauch ein wenig fester. Hitze durchströmt mich. Kann das sein? Warum reagiere ich so auf ihn, wenn noch vor Kurzem Liran meinen Körper all das fühlen lassen hat?

»Was war das, was ich da getan habe? Und können das alle Heroen?«

»Nein. Das, was du da getan hast, kann in diesem Ausmaß wohl nur einer«, erklärt er ruhig und rau. Seine Stimme beruhigt mich. Es ist, als wäre sie mir schon immer vertraut.

»Du?«, frage ich, obwohl ich die Antwort bereits kenne.

»Ja, ich.«

»Habe ich seinen Geist getötet? Seine Seele und damit ihn?« Meine Stimme zittert, und doch hört sie sich stärker an, als ich mich fühle.

»Ja.«

»Es war schrecklich. In dem Moment hat die Dunkelheit zwar alles warm und weich gemacht. Mächtig und erfüllend. Aber einen Wimpernschlag später war da diese Leere in mir. Als hätte ich nicht nur seine Seele, sondern auch meine beschädigt.«

Miél schweigt einen Moment. Dann räuspert er sich und lehnt sich weiter an mein Ohr.

»Ich schwöre dir, dass ich mit all meiner Macht zu verhindern versuche, dass du das je wieder tun musst.«

Ich sage nichts dazu, stattdessen frage ich, was mir die ganze Zeit auf der Seele brennt.

»Was ist an mir? Warum braucht ihr mich?«

Miél versteift sich hinter mir. »Ich würde viel dafür geben, dir das sagen zu können, Navien. Aber Worte sind in deinem Fall sehr mächtig. Und einmal ausgesprochen, würden sie etwas entfesseln, wofür weder diese Welt noch du bereit bist.«

Ich verenge meinen Blick. Worte. Redet er davon, dass Worte zu mir sprechen können? Die Worte der Apokryphen zum Beispiel?

»Bitte akzeptier das.«

»Das sagt sich so leicht. Ich fühle mich mit jeder Silbe, die du sprichst, mehr und mehr hintergangen.«

»Du könntest mir aber auch einfach glauben, dass ich dich nur beschütze.«

»Ach, ist es das, was du die ganze Zeit tust? Warst du deshalb nicht mehr da, nachdem ich vergiftet wurde? Obwohl du mich vorher …« Ich spreche nicht weiter. Obgleich ich gerade einen Gurra getötet habe, schäme ich mich auszusprechen, dass er mich geküsst hat. Und dass ich mir gewünscht habe, er wäre bei mir aufgetaucht, hätte nach mir gesehen.

»Es ging nicht.«

»Warum? Weil Liran dich nicht dahaben wollte?«

»Unter anderem.«

»Und warum noch?«

»Weil …« Er stockt. »Weil das zwischen uns nie eine gute Idee war.«

»Da ist nichts zwischen uns«, zwinge ich mich zu sagen, statt ihn zu fragen, wie er das meint und warum. Ich will es nicht hören. Denn tief in mir weiß ich längst, dass ihn etwas hemmt. Genauso wie mich. Und wahrscheinlich ist es bei uns beiden Liran.

Wir reiten, bis die Sonne langsam aufgeht. Und dann höre ich Pferde hinter uns. Ich blinzle, weil ich halb geschlafen habe, und sehe mich um. Ametist und ihr Bruder halten bei uns.

»Alles in Ordnung?«, fragt Miél.

Ametist wirft ihm einen vielsagenden Blick zu. Nur dass er mir leider nichts sagt.

»Können wir allein sprechen?«

»Ich habe weder Geheimnisse vor den hier Anwesenden noch Zeit. Also sprich!«

Ametist kräuselt ihre Lippen, schaut kurz zu mir und schließlich wieder zu Miél.

»Die Verlobung zwischen Liran und Aviell wurde bekannt gegeben.«

Meine Brust gefriert so schnell zu Eis, dass ich nicht einmal etwas fühlen kann.

»Wie ist das möglich?« Miél scheint völlig irritiert zu sein.

Ametist räuspert sich. »Sie haben sich Briefe geschrieben, die beweisen, dass ihre Liebe echt ist und er sie bereits vor dem Angriff und auch vor der Verlobung mit Taron um ihre Hand bat.«

»Ist das so?«, zischt Miél voller Dunkelheit. Für einen Moment frage ich mich, warum ihn das so zornig macht? Was hat er damit zu tun?

»Miél. Ihr solltet so schnell wie möglich in das Fürstentum des Hochmuts zurückkehren«, flüstert sie, als wäre es ein guter Rat. Ihre Stimme wirkt drängend.

»Ist Liran bei ihr?« Seine Stimme klingt leer.

Ametist presst die Lippen aufeinander. »Aktuell nicht.«

»Sie hat das also allein entschieden?«, hakt er nach.

»Ja, sie hat den anderen Fürsten die Briefe vorgelegt. Doch wir wissen beide, dass es genau das ist, was Liran will. Warum also benimmst du dich so, Miél?«

»Weil ich nicht automatisch dasselbe will wie mein Bruder!«, knurrt er.

»Aber was willst du?«, höre ich mich sagen.

Er atmet hörbar ein und aus. »Ich will nicht, dass Liran aus Pflichtgefühl den größten Fehler seines Lebens begeht.«

»Und der wäre? Meine Schwester zu heiraten?«

»Ja«, haucht er.

»Warum, Miél? Was verheimlichst du mir?«

Wieder schnauft er, als würde ihm das Reden schwerfallen.

»Hör mir zu, Navien. Er liebt sie nicht. Das hat er nie. Er hat das Mädchen aus den Gedichten gemocht. Und vielleicht liebt er auch dich noch nicht. Aber er könnte. Und er will zusammen mit uns diese Welt verändern. Eine Welt erschaffen, in der er dich lieben dürfte. Doch um das zu erreichen, gibt er diese Möglichkeit auf.«

Ich verenge meinen Blick. Frage mich, ob er wirklich so selbstlos ist oder ob er tatsächlich keine echten Gefühle für mich hat. Warum sonst sollte er wollen, dass Liran mich wählt?

»Ich bin nicht die Richtige für ihn«, sage ich ernst und vor allem ehrlich. »Er ist nicht der Einzige für mich, Miél. Ich denke, dass du das gespürt hast. Und Liran, so wie jeder andere, hat jemanden verdient, der nur und wirklich nur ihn will.«

Ich schaue kurz über die Schulter. Miél schließt die Augen. Ich wünschte, ich könnte sehen, was dahinter vor sich geht. Was er denkt und fühlt.

»Reitet jetzt über die Grenze. Ich gebe euch Geleit. Die anderen kommen nach«, sagt Ametist noch drängender. Sie blickt sich unruhig um. »Sie sind hier, Miél. Wenn du im Galopp reitest, dann kommt ihr in zwei Stunden an der Grenze an. Und das ist es doch, was zählt, oder?«

Miél zögert, verkrampft sich.

»Wer ist hier?«, werfe ich ein. Keiner antwortet mir.

»Das ist es, was zählt«, kommt es scharf von Ametist. Als würde sie es ihm einbläuen müssen. »Dass Navien in Sicherheit ist.«

Es dauert noch einmal eine ganze Weile. Er kämpft so sehr mit sich, dass ich kaum atmen kann. Das hier fühlt sich fast wie ein Abschied an. Aber warum?

»Ametist, ich …«

»Miél. Es ist ernst. Die Engel. Sie sind da. Flieh!«, knurrt sie und Miél spornt das Pferd an.