5    Einnässen und psychische Auffälligkeiten

Die Hauptfrage dieses Kapitels lautet: Zeigt mein Kind zusätzlich zum Einnässen weitere seelische oder Verhaltensauffälligkeiten? Sie sollten sich genau fragen, ob es andere Bereiche gibt, über die Sie sich Sorgen machen. Falls Sie über die Entwicklung Ihres Kindes, sein Verhalten in der Schule oder zu Hause oder über sein emotionales Befinden beunruhigt sind, sollten Sie sich an einen Kinderpsychiater, Kinderpsychologen oder Kinderarzt mit entsprechender Zusatzqualifikation wenden.

5.1   Wie häufig sind psychische Störungen bei Kindern, die einnässen?

Wie schon im Eingangskapitel erwähnt, leiden die meisten Kinder tatsächlich unter dem Einnässen. Sie sind traurig, schämen sich und zeigen Selbstwertprobleme. Viele dieser Zeichen werden sich mit Erreichen des Trockenwerdens zurückbilden. Andererseits leiden 20 bis 40 % aller Kinder unter zusätzlichen, ausgeprägten seelischen oder Verhaltensproblemen. Die Zusammenhänge mit dem Einnässen sind häufig nicht klar.

So gibt es insgesamt vier verschiedene Möglichkeiten, wie Einnässen und psychische Auffälligkeiten miteinander verbunden sein können:

1. Bei einzelnen Kindern können die Auffälligkeiten Folge des Einnässens sein und werden sich mit dem Trockenwerden zurückbilden.

2. Bei anderen Kindern waren die psychischen Auffälligkeiten schon vorher vorhanden und können, z. B. bei dem sekundären nächtlichen Einnässen, sogar einen Rückfall auslösen.

3. In einzelnen Fällen, wie bei Kindern mit einem nächtlichen Einnässen und Aufmerksamkeitsstörungen, können sogar gemeinsame biologische Faktoren eine Rolle spielen.

4. Zuletzt können psychische Auffälligkeiten und Einnässen rein zufällig zusammen auftreten und es entspricht mehr Ihrem Bedürfnis, eine ursächliche Verbindung zu sehen. Möglicherweise liegt eine solche Verbindung gar nicht vor.

Unabhängig von den möglichen ursächlichen Zusammenhängen, die im Einzelfall oft auch nicht zu klären sind, gilt immer das Grundprinzip, dass das Einnässen separat behandelt werden sollte mit dem Ziel, dass Ihr Kind trocken wird. Falls weitere Probleme vorhanden sind, erfordern diese eine zusätzliche Behandlung.

5.2   Bei welchen Einnässformen sind psychische Störungen häufig?

Wie schon mehrfach erwähnt, ist das Risiko für Verhaltensauffälligkeiten bei einnässenden Kindern insgesamt zwei- bis vierfach erhöht. Ein besonders geringes Risiko haben Kinder mit einem primären nächtlichen Einnässen und einer Dranginkontinenz. Ein besonders hohes Risiko haben Kinder mit einem Miktionsaufschub und einem sekundären nächtlichen Einnässen. Diese erhöhten Risiken sind natürlich nur allgemeine, statistische Hinweise, die für Fachleute hilfreich sein können. Für Ihr Kind gilt es, in jedem Fall zu prüfen, ob nur das Einnässen vorliegt (der wahrscheinlichste Fall) oder ob es in anderen Bereichen weitere Hilfen benötigt.

5.3   Welche Verhaltensauffälligkeiten sind am häufigsten bei einnässenden Kindern?

Bei psychischen Auffälligkeiten können grob zwei große Bereiche unterschieden werden:

1. Die sogenannten internalisierenden Störungen, auch emotionale oder seelische Störungen genannt. Zu diesen Störungen zählen Depressionen, Ängste und andere Störungen.

2. Die sogenannten externalisierenden Störungen, die durch ein äußerlich sichtbares Verhalten erkannt werden können. Hierzu gehören die hyperkinetischen oder Aufmerksamkeitsstörungen (HKS oder ADHS). Diese sind durch eine gesteigerte Motorik, eine geringere Konzentrationsspanne, eine erhöhte Ablenkbarkeit und Impulsivität (Handeln ohne zu Denken) gekennzeichnet. Ferner können Störungen des Sozialverhaltens auftreten, entweder durch ein verweigerndes Verhalten oder ein regelmäßiges Übertreten der Normen.

Die landläufigen Vorurteile und Meinungen, die auch noch von Therapeuten und Ärzten vertreten werden, sehen das Einnässen als internalisierende Störung. Manche sprechen sogar von der „Blase, die weint“. Wie in diesem ganzen Ratgeber hoffentlich deutlich geworden ist, ist das Einnässen in den allermeisten Fällen nicht psychisch bedingt. Ferner konnten Untersuchungen zeigen, dass internalisierende Störungen wie Depressionen bei einnässenden Kindern sehr viel seltener sind als externalisierende Störungen.

Die wichtigste Einzelstörung, die beim Einnässen vorkommen kann, ist tatsächlich eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bzw. ein hyperkinetisches Syndrom (HKS). Von der Tendenz her ist ein einnässendes Kind also nicht ängstlich, zurückhaltend und depressiv, sondern im Gegenteil eher zappelig, unruhig, expansiv und rüttelt an den Grenzen, die ihm gesetzt werden.

Doch auch diese allgemeinen Diskussionen sind für Fachleute wichtiger als für Eltern mit ihrem individuellen Kind. Für Ihr Kind gilt deshalb die Frage: Liegt irgendeine weitere Problematik neben dem Einnässen vor? Wenn ja und falls diese auch noch nach dem Trockenwerden vorhanden sein sollte, kann eine weitere Behandlung angezeigt sein.

5.4   Wann behandelt man das Einnässen, falls weitere Probleme vorliegen?

Nach den bisherigen Ausführungen sollte die Behandlung des Einnässens mit dem Ziel einer Trockenheit immer zuerst erfolgen. Wenn Ihr Kind trocken geworden ist, reicht es oft noch aus, zu überprüfen, ob weitere Schritte überhaupt erforderlich sind. Einer reinen Psychotherapie aufgrund des Einnässens sollten Sie nicht zustimmen. Falls Ihr Kind weitere Probleme zeigt, können weitergehende Psychotherapien durchaus sinnvoll und wirksam sein.

In ganz wenigen Fällen, bei denen Ihr Kind so mit seinen Problemen beschäftigt ist, dass es sich nicht an der Behandlung des Einnässens beteiligen kann, sollte die Psychotherapie zuerst erfolgen, im späteren Schritt die Behandlung des Einnässens.