1. KAPITEL
Isaac
Zitternd wachte ich auf, fest in die Decke gewickelt, die nicht einmal ansatzweise dick genug war. Eisiges Licht fiel auf mein Bett, ohne Wärme zu bieten.
Scheißtrailer. Als würde man in einer kaputten Eierschale wohnen.
Ich warf die Decke zur Seite und stapfte in den Wohnbereich. Paps lag auf der Couch anstatt in seinem Zimmer hinter der Küche. Eine Flasche Old Crow ragte zwischen den Bierdosen auf dem klapprigen, fleckigen Couchtisch auf. Der überfüllte Aschenbecher qualmte noch.
Eines Tages würde mir warm genug werden, und zwar wenn eine von Paps’ nicht richtig ausgedrückten Zigaretten einen Brand verursachte.
Sein Schnarchen erfüllte den Trailer, als ich zur Heizung rüberging. Wir mussten mit dem Thermostat vorsichtig sein – ich achtete darauf, dass er auf 18 °C stand –, aber der Trailer war schlecht isoliert und hatte keine Sockelverkleidung. Ich hielt die Hand vor die Lüftungsschlitze. Die Heizung lief und verpulverte unser Geld, ohne groß zu nützen. Unter uns pfiff ein kalter Januarwind, den ich durch den Boden spürte.
Durch das vordere Fenster sah ich den Schrottplatz, der unter einer weißen Decke lag. Dahinter befand sich unsere Wexx-Tankstelle. Sie war heute geschlossen. Nicht dass wir je irgendwelche Kunden hatten. Es war still dort draußen. Die rostigen alten Autos waren weiße Hügel, rein und makellos über dem verbogenen Metall. Ein Friedhof.
Ganz Harmony kam mir wie ein Friedhof vor, ein Ort, der einen begrub. Nur Touristen liebten es. Im Sommer kamen sie von überallher, um die Gegenwart zu verlassen und die USA um 1950 zu besuchen. Das Zentrum bestand aus sechs quadratisch angelegten Häuserblöcken mit viktorianischer Architektur, bunten Ladenfronten, einem Eis- und Burgerladen mit Jukebox und Postern von Elvis und Jerry Lee Lewis an den Wänden. Die einzige Ampel hing über der Main Street, und wir hatten einen Billigladen, der Souvenirs aus der Zeit des Sezessionskriegs verkaufte. In den grünen Hügeln zwischen Harmony und Braxton, dem nächstgelegenen Außenposten der Zivilisation, war eine wichtige Schlacht geschlagen worden. Die Touristen kamen wegen der Geschichte und eines Milchshakes und verschwanden dann wieder. Entflohen.
Ich sah zu Paps. Er war dreiundfünfzig Jahre alt und vielleicht zweimal aus Harmony rausgekommen. Einmal ins Krankenhaus in Indianapolis, als ich geboren wurde, dann noch einmal in dasselbe Krankenhaus, als meine Mutter vor elf Jahren gestorben war.
Er war wie die Autos, die wir verschrotteten, und die Tankstelle, die er manchmal aufmachte – vorzeitig gealtert, kaputt und nach seinem Lieblingskraftstoff stinkend. Er würde nicht mehr aus Harmony rauskommen, aber ich schon, und zwar todsicher.
Irgendwann.
Ich legte die Hand an die kalte Fensterscheibe. Eisige Windtentakel fuhren durch Risse in der Fensterbank. Ich hatte den ganzen Sommer auf bessere Fenster gespart – hatte für Martin Ford im Harmony-Community-Theater gearbeitet, wenn ich nicht hinterm Schalter der Tankstelle saß. Im Oktober hatte Paps versprochen, im Baumarkt neue Scheiben zu kaufen. Aber ich hatte ihm das Geld gegeben, und er war damit auf Sauftour gegangen.
Das passierte, wenn man jemandem vertraute.
Paps rührte sich, schnaubte und blinzelte, als er aufwachte. »Isaac?«
»Jepp. Willst du Frühstück?« Ich blies gegen meine kalten Finger und ging in die kleine Küche.
»Würstchen«, sagte er und zündete eine halb gerauchte Winston an.
»Es gibt keine Würstchen«, sagte ich und machte uns zwei Schüsseln mit Cornflakes. »Ich fahre nach der Schule einkaufen. Vor der Vorstellung heute Abend.«
»Und ob du das wirst!«
Grunzend wuchtete er sich von der Couch hoch und trampelte zu dem Klapptisch, der uns als Esstisch diente. Ich setzte mich ihm gegenüber und versuchte nicht darauf zu achten, wie er schlürfend und zwischen Zügen an seiner Zigarette seine Cornflakes aß.
Paps beugte sich über die Schüssel, das Gewicht seines Lebens zog ihn runter. Auf ihm lasteten die Jahre voller Mühen und Armut, die harten Winter, der Kummer und der Alkohol. Er war unrasiert, die Wangen hingen wie die Tränensäcke unter seinen feuchten Augen. Ich senkte den Blick, entschlossen, so schnell wie möglich aufzuessen und von hier zu verschwinden.
»Was ist heute Abend? Eine Vorstellung?«, fragte Paps.
»Jepp.«
»Was ist es diesmal?«
»König Ödipus« , sagte ich, als würde es nicht schon seit zwei Wochen laufen, ganz abgesehen von den vier Wochen Proben davor.
Er grunzte. »Griechische Tragödie. Ich bin nicht ganz blöd.«
»Das weiß ich«, antwortete ich gereizt. Bis jetzt hatte er nichts getrunken, und seine Gemeinheit schlummerte noch. Sein Mr Hyde erwachte meistens abends, und ich versuchte, ihm aus dem Weg zu gehen, bis er so betrunken war, dass er wegdöste.
»Und welche Rolle hast du?«
Ich seufzte. »Ich bin Ödipus, Paps.«
Er schnaubte, schaufelte sich einen Löffel Cornflakes in den Mund, und Milch bekleckerte sein unrasiertes Kinn. »Dieser Martin Ford hat einen richtigen Narren an dir gefressen.« Er zeigte mit dem Löffel auf mich. »Pass bloß auf. Der macht dich zu ’ner Schwuchtel, wenn du mit diesem Schauspielerblödsinn weitermachst. Wenn es nicht schon zu spät ist.«
Ich biss die Zähne zusammen und ballte die Hände zu Fäusten, aber ich schwieg. Er unterstellte nicht zum ersten Mal, dass Martin – der Leiter des Harmony-Community-Theaters – mich nicht aufgrund meines Talents, sondern aus anderen Gründen bevorzugte. In Wahrheit waren Martin und seine Frau Brenda mehr wie Eltern zu mir gewesen, als Paps es sich je hätte vorstellen können.
Aber das sagte ich ihm nicht. Man erwartet nicht, ein richtiges Gespräch zu führen, wenn man mit einem herumschreienden Idioten redet.
»Morgen Abend ist die letzte Vorstellung.« Ich wagte aufzusehen. Ich war nicht so dumm, ihn zu fragen, ob er kommen würde, aber der Teil von mir, der noch glauben wollte, dass er ein richtiger Vater war, gab nicht so leicht auf.
»Ach ja?«, sagte Paps. »Und was kommt danach? Du machst diese Scheiße seit Jahren. Das macht dich nur weich. Ich hinterlasse mein Geschäft keinem Homo.«
Die Worte glitten an mir ab. Ich hatte die Nummern von einem Dutzend Frauen in meinem Handy gespeichert, mit denen ich mich abwechselnd traf, und die Vorstellung, dass er mir die Pearce-Altautoverwertung oder die Wexx-Tankstelle hinterließ, war einfach lächerlich. Beides lief nicht mehr, abgesehen von den gelegentlich vorbeikommenden Reisenden, die zu blöd waren, zehn Kilometer weiter zu den glänzenden Tankstellen mit den großen Namen in Braxton zu fahren. Wir lebten von Paps’ Erwerbsminderung und meinem Lohn im Theater. Oder sagen wir, er lebte, ich existierte. Ich lebte nur, wenn ich auf der Bühne stand.
Mit seinen Worten konnte ich umgehen. Es waren seine Fäuste, auf die ich aufpassen musste.
Mehr als einmal nach einem von Paps’ Wutanfällen, nach denen wir meist beide bluteten, war ich in meinen alten blauen Dodge-Pick-up gestiegen, hatte ihn so schnell wie möglich durch die gewundenen Straßen aus Harmony hinaus gesteuert, um Indiana endlich hinter mir zu lassen. Dann stellte ich mir vor, wie Paps allein hier saß und zum Frühstück, Mittag- und Abendessen kalte Cornflakes aß, bis er sich in einem schlimmen Winter eine Lungenentzündung einfing. Oder sich vielleicht an einem Bucket mit gebratenen Hähnchenteilen überfraß und einen Herzinfarkt bekam. Und tot auf der alten Couch vermoderte, weil wochen- oder gar monatelang niemand vorbeischaute.
Ich hatte den verdammten Pick-up jedes Mal gewendet.
So etwas tat man für die Familie. Selbst wenn die Familie ein Scheißalkoholiker war, der sich einen Dreck für einen interessierte.
»Gib mir noch was«, sagte Paps, als ich aufstand und meine Schüssel in die Spüle stellte.
Ich machte ihm eine zweite Portion Cornflakes, dann zog ich mich für die Schule an.
In meinem kleinen Zimmer – Bett, Kommode, Schrank von der Größe eines Sargs – zog ich meine besten Jeans an, Stiefel, ein Flanellhemd und meine schwarze Lederjacke. Ich zog die Wollmütze und die fingerlosen Handschuhe, die Brenda Ford für mich gestrickt hatte, unter einem Stapel von Skripten hervor und steckte ein Päckchen meiner eigenen Winston in die Innentasche. Ich hatte einen heimlichen Vorrat, von dem Paps nichts wusste, sonst hätte er ihn geplündert.
Paps starrte mit trüben Augen auf den Wandkalender – ein Vertreter hatte ihn nach einem vergeblichen Versuch dagelassen, uns eine Wohnungseigentümerversicherung anzudrehen. »Heute ist der Achte?«
»Ja«, sagte ich und schulterte im selben Moment meinen Rucksack.
Er drehte sich zu mir um, ein Anflug von Reue und Schmerz lagen in den geröteten Tiefen seiner tränenden Augen.
»Du bist jetzt neunzehn?«
»Ja«, sagte ich.
»Isaac?«
Ich erstarrte, die Hand auf dem Türgriff. Die Sekunden dehnten sich.
Herzlichen Glückwunsch, mein Sohn.
»Denk an die Würstchen.«
Ich schloss die Augen. »Mach ich.«
Dann ging ich.
Mein blauer 71er-Dodge, der neben dem Trailer parkte, war vereist. Ich schaffte es, den Motor anzulassen, und ließ ihn warm laufen, während ich das Eis von der Windschutzscheibe kratzte. Die Uhr auf dem Armaturenbrett verriet, dass ich zu spät kommen würde. Ich fluchte, und mein Atem bildete Wölkchen vor meinem Mund. In einen schon vollen Klassenraum zu kommen gehörte nicht gerade zu meinen Lieblingsbeschäftigungen.
Ich fuhr so schnell, wie ich wagte, über die vereisten Straßen am Stadtrand, dann über die Hauptstraße durchs Zentrum bis zur George Mason Highschool. Ich parkte, dann rannte ich ins Gebäude und hauchte mir in die Hände. Die Wärme drinnen ließ meinen Ärger ein wenig verrauchen. Wenn ich endlich hier rauskäme, würde ich irgendwo hinziehen, wo es niemals schneite. Hollywood war okay, aber ich hätte lieber auf einer Bühne gestanden als beim Film gearbeitet. Vielleicht würde ich ja auch in New York groß herauskommen, und dann könnte es so oft schneien, wie es wollte. Ich würde immer die Heizung anlassen und keinen Gedanken daran verschwenden, was es kostete.
Ich ging durch die leeren Gänge zu Mr Paulsons Englischstunde. Zum Glück war Mr Paulson ein bisschen zerstreut – er war noch dabei, seine Sachen auf dem Schreibtisch zu sortieren. Ich blickte geradeaus, ignorierte den Rest der Klasse und ging zu dem Pult in der dritten Reihe, wo ich immer saß.
Ein Mädchen saß auf meinem Platz.
Ein atemberaubend schönes Mädchen in einer teuren Jacke mit unglaublich langen blonden Locken, die ihr über den Rücken fielen, saß auf meinem verdammten Platz.
Ich blieb vor ihr stehen und starrte sie an. Das genügte in der Regel, damit die Leute mir aus dem Weg gingen, aber dieses Mädchen …
Sie sah zu mir hoch. Ihre Augen waren wie blassblauer Topas, und sie grinste herausfordernd, was nicht zu der traurigen Schwere passte, die über ihr hing. Sie warf einen schnellen Blick auf das leere Pult neben sich und hob eine Augenbraue.
»Alles in Ordnung, Mr Pearce?«, rief Mr Paulson von vorn.
Ich starrte das Mädchen an. Sie starrte zurück.
Dann setzte ich mich schnaubend auf den leeren Platz links von ihr und streckte die Beine in den Gang. Doug Keely, der Kapitän der Football-Mannschaft, der zwei Plätze weiter saß, zischte, um Justin Bakers Aufmerksamkeit zu erregen. Justin, ein Baseballspieler, drehte sich um. Doug zeigte mit dem Kinn auf die Neue, hob die Augenbrauen und formte mit dem Mund das Wort heiß .
Justin antwortete stumm: Superheiß .
»Guten Morgen.« Mr Paulson stand vorn im Raum. Es war erst kurz nach acht, und er hatte schon Kreidestaub auf seiner gebügelten Hose. »Ich hoffe, Sie hatten alle entspannte Feiertage. Wir haben eine neue Schülerin auf der George Mason. Bitte heißen Sie Willow Holloway herzlich willkommen. Sie kommt aus New York City zu uns.«
New York.
Es raschelte im Klassenraum, als ein paar der Schüler und Schülerinnen sich umdrehten und Willow musterten. Manche hoben grüßend die Hand. Hier und dort erklang ein gemurmeltes »Hi«. Nur Angie McKenzie – Herausgeberin des Jahrbuchs und Königin der Geeks – schenkte ihr ein echtes Lächeln, das Willow nicht erwiderte.
Sie brachte ein heiseres »Hi« heraus, das mir einen Schauder über den Rücken laufen ließ. Willow Holloway sah aus wie die Weide, von der sie ihren Namen hatte: hübsch, zart und trauernd. Nicht von außen, sondern von innen. Martin Ford hatte mir beigebracht, darauf zu achten, wie Menschen in ihren Körpern wohnten, und nicht, was sie sagten oder taten. Dieses Mädchen war tiefgründig. Ihre Augen hatten sie verraten, als unsere Blicke sich begegnet waren.
Natürlich ist sie traurig , dachte ich. Sie musste New York gegen das beschissene Harmony in Indiana tauschen.
»Glühend heiß«, flüsterte Doug Justin Baker zu und betonte genüsslich jede Silbe. Justin grinste.
Idioten.
Aber sie hatten nicht unrecht. Während der ganzen Stunde musste ich ständig zu Willow Holloway sehen, und mir war extrem bewusst, wie gegensätzlich wir waren. Sie war nicht super ordentlich oder makellos – eher leicht zerzaust mit dem vollen langen Haar, das ein bisschen wild aussah. Aber ihre Stiefel und die Jeans bedeuteten Geld. Ihr ovales Gesicht war glatt wie Porzellan, als wäre sie nicht einen Tag im Leben Sonne oder Wind ausgesetzt gewesen. Und konkret an diesem Morgen war sie wahrscheinlich gut zwei Jahre jünger als ich.
Zu jung , dachte ich, auch wenn mein Blick an der Rundung ihrer Brüste unter dem Kaschmirpulli hängen blieb, und an dieser Mähne, die aussah, als wäre sie gerade aus dem Bett aufgestanden, und die ich berühren wollte.
Wer ist jetzt der Idiot?
Ich rutschte auf meinem Stuhl herum und ermahnte mich, dass ich mehr volljährige Frauen kannte, als ich verkraften konnte. Ich musste sie nur anrufen oder ihnen schreiben. Trotzdem. Für den Rest der Stunde war meinem Körper die Nähe von Willow extrem bewusst. Als es klingelte, blieb ich sitzen, um sie aufstehen zu sehen. Sie nahm ihre Bücher mit desinteressierter Sicherheit, als wäre sie seit Jahren auf der George Mason, nicht erst seit ein paar Minuten.
Mit einem nüchternen Lächeln drehte sie sich zu mir um. »Morgen kannst du deinen Platz zurückhaben.«
Ich sah ihr fest und schweigend in die Augen.
Sie zuckte mit den Achseln und ging, warf sich diese unglaubliche Masse weichen Haars über die Schulter. Es schwang zur einen Seite, dann zur anderen und beruhigte sich dann wie eine Gardine, die ihr fast bis zur Taille reichte.
Vergiss es , sagte ich mir. Zu jung, zu reich, zu … alles, was du nicht bist.
Ich war mein ganzes Leben lang arm gewesen. An den meisten Tagen war das okay. An anderen Tagen, wie heute Morgen, war es wie ein Schlag ins Gesicht.