2. KAPITEL
Willow
»Bitte heißen Sie Willow Holloway herzlich willkommen. Sie kommt aus New York City zu uns.«
Ich lächelte meine neue Klasse höflich an. Die Sportler in den Collegejacken hatten trotz ihres freundlichen Lächelns klare Hintergedanken. Das Mädchen mit den dunklen Locken und den Sommersprossen im blassen Gesicht würde sich zweifellos sofort nach dem Pausenklingeln auf mich stürzen. Dieser harte, rebellisch wirkende Typ, auf dessen Platz ich mich gesetzt hatte …
Ich konnte alle leicht ignorieren, nur ihn nicht.
Mein Gott, ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie einen so umwerfenden Typen gesehen. Fast eins neunzig mit breiten Schultern, schlanken Muskeln und Filmstargesicht. Hohe Wangenknochen, gemeißeltes unrasiertes Kinn, dichte Augenbrauen, volle Lippen. Seine Augen waren graugrün wie die See vor Nantucket im Winter.
Alles an ihm war stürmisch und kalt, mit einer gefährlichen Strömung in der Tiefe. Seine schwarze Lederjacke roch leicht nach Zigarettenrauch, und es hätte mich nicht überrascht, wenn er in seinem Stiefel ein Klappmesser aufbewahrte. Es fühlte sich sogar gefährlich an, wie er mich ansah. Mein Körper reagierte sofort und überall, als würde sein forschender Blick mir unter die Haut gehen. Er sah mich an, als könnte er mich sehen .
Du überreagierst, Mädchen. Aber so was von.
Ich konzentrierte mich auf das Fenster und die trostlose Landschaft aus grauem Himmel und schmutzigem Schnee. Einfach alles war falsch. Der erste Schultag gehörte ans Ende des Sommers, wenn die Hitze dem kühlen Herbstwind noch nicht ganz gewichen war. Nicht mitten in den Winter mit Schneedecke auf der Erde und nur wenigen Monaten bis zum Abschluss.
Hätte es mir noch etwas ausgemacht, ob ich Freunde fand oder nicht, wäre das ätzend gewesen. Aber ich war in meinem eigenen ewigen Winter gefangen. Versiegelt in gefühllosem Eis, wie diese Mumien, die im Discovery Channel gezeigt wurden. Sie sahen fast lebendig aus, aber im Inneren … nichts.
Ich war immer gern zur Schule gegangen. Ich hatte mich auf die Schule gefreut. Meine Freundinnen waren manchmal mies drauf oder dramatisch, aber sie waren meine Freundinnen. Die Schulaufgaben waren entweder zu viel oder todlangweilig, aber ich war stolz auf meine Noten. Ich hatte es schrecklich gefunden, dass mein Durchschnitt in den Monaten nach der Party immer schlechter geworden war und mit ihm meine Aussichten auf ein gutes College. Ich hatte es schrecklich gefunden, meinen Eltern Sorgen zu bereiten, auch wenn sie sich nur am Rande für mich interessierten.
Ich sah mich aus der Sicherheit meines Eissargs im Klassenraum um. Ich wollte ja freundlich sein. Aber Freundlichkeit führte zu Freundinnen. Und Freundinnen führten zu Telefonaten und Nachrichten und nächtlichen Gesprächen unter der Bettdecke. Warme, gefährliche Umstände, bei denen die Eiswände schmelzen könnten und die schrecklichen Geheimnisse schließlich herauskämen, während sich ein unendlicher Strom von Tränen ergoss.
Vergiss es . Diese Leute hier konnten mich mögen oder hassen oder – meine bevorzugte Variante – ignorieren, und ich würde den Unterschied nicht bemerken. Nicht mal bei dem James Dean neben mir. Er konnte seinen blöden Platz morgen zurückkriegen. Ich konnte ihn und seine stürmischen grauen Augen, die bis unter meine Haut zu blicken schienen, nicht gebrauchen.
Mit dem dunkelhaarigen Mädchen hatte ich recht gehabt. Nach der Englischstunde ging ich ihr aus dem Weg, aber sie erwischte mich später am Morgen, als ich aus Wirtschaftswissenschaften kam. Sie ging plötzlich neben mir her, voller Selbstvertrauen in Stiefeln, Leggins und einem schwarzen Schlabberpulli, auf dem stand: Mein Kopf sagt SPORT, aber mein Körper sagt TACOS .
»Hi. Angie McKenzie, Jahrbuchredaktion«, sagte sie. Fast erwartete ich, dass sie mir eine Visitenkarte überreichte oder wie FBI-Agenten im Fernsehen einen Ausweis hochhielt. »Du kommst aus New York? Was hat dich hierher verschlagen?«
»Der Job meines Vaters«, sagte ich.
»Wow. Blödes Timing, oder? Mitten im letzten Jahr?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Ich werd’s überleben.«
Sie grinste durchtrieben. »Sieh mal einer an. Engelsgesicht und das Haar einer Disney-Prinzessin, und alles nur Fassade für ’ne ganz harte Braut!«
Trotz meiner Bemühungen schlich sich ein Lächeln auf meine Lippen. Angie war eines dieser skurrilen Mädchen, die man sofort mögen musste, verdammt. Meine beste Freundin Michaela (ehemals beste Freundin , dachte ich) war auch so.
Ich bekam das Lächeln unter Kontrolle. »Genau«, sagte ich. »Das Haar ist nur Tarnung.«
»Tarnung wie aus der Shampoo-Werbung«, sagte Angie. »Ich bin echt neidisch. Nash, mein Freund seit, na ja, schon immer … jedenfalls nervt er ständig, ich soll mir die Haare wachsen lassen, aber es würde niemals so aussehen wie bei dir.« Sie griff in ihre dunklen Locken und schüttelte sie. »Könnt ihr Frizz sagen, Kinder? Ich wusste, ihr schafft das!«
Ich musste lachen. »Du bist echt schräg. Ich meine auf ’ne gute Art«, fügte ich hinzu. Ich befand mich vielleicht in selbst auferlegter Kryostase, aber deshalb war mir noch lange nicht egal, ob ich ihre Gefühle verletzte.
Angie lachte mit und ihre pinkfarbenen Kreolen hüpften auf und ab. »Ha. Schräg ist mein Lebensinhalt.«
Wir waren vor meinem Schließfach am Ende des Gangs im zweiten Stock angekommen. Glastüren führten zu einer kleinen Außentreppe mit gemauerten Wänden und Metallgeländer. Der umwerfende Typ aus der Englischstunde stand da mit einer Strickmütze und fingerlosen Handschuhen, die beide nicht aussahen, als wären sie warm genug. Er lehnte superlässig am Geländer und rauchte eine Zigarette. Der Rauch verdichtete sein Atemwölkchen, dann wurde beides vom Wind fortgerissen.
»Wer ist das?«, fragte ich.
»Isaac Pearce«, sagte Angie. »Er ist superscharf, oder? Aber vergiss es. Er datet nur ältere Mädchen. Und mit ›datet‹ meine ich, er hat wahnsinnigen gefühllosen Sex mit ihnen. Glaub ich zumindest.«
Eine Phantomhitze durchströmte mich, wie das Jucken, das ein Amputierter an dem Bein fühlen konnte, das nicht mehr da war. Ich lehnte mich an die Schließfächer, fummelte an meiner Tasche, meinem Haar, dann wieder an der Tasche herum.
»Echt? Er steht auf Ältere?«
Angie nickte. »Obwohl man sich nur schwer vorstellen kann, dass er eine anruft und fragt, ob sie sich mit ihm trifft. Am Telefon, meine ich. Mit Worten.«
»Wie meinst du das?«
»Er spricht nicht«, sagte sie.
Ich blinzelte. »Er ist stumm?«
Sie verdrehte die Augen. »Na ja, er kann sprechen. Er tut es nur nicht oft. Es sei denn, er steht auf einer Bühne und spielt …«
Sie verstummte, und ich sah zu Isaac Pearce, der hinter den Glastüren am Geländer lehnte, der Kälte trotzte und für jeden sichtbar eine Zigarette rauchte, ohne sich darum zu kümmern, ob ein Lehrer ihn erwischte.
»Er ist Schauspieler? Er sieht …« Ich verstummte, meine Worte waren absolut ungenügend. Heiß. Harter Typ. Herzensbrecher. Verschleißt Frauen. Jede Nacht eine andere  …
»… tough aus«, schloss ich.
»Muss er auch sein. Sein Vater prügelt ihn windelweich.«
Schnell blickte ich wieder zu Isaac. Ich wollte wissen, ob die Spuren der Misshandlung auf ihm zu sehen waren oder ob seine schlimmsten Narben wie meine im Inneren verborgen blieben.
»Sein Vater schlägt ihn?«
»Sagen die Leute. Aber gerade hat man seinen Vater eine ganze Weile nicht gesehen, das aktuelle Gerücht ist also, dass Isaac ihn umgebracht und die Leiche auf ihrem Schrottplatz versteckt hat.«
Ich verzog das Gesicht. »Was? Komm schon …«
Angie zuckte mit den Achseln und zog die sommersprossige Nase kraus. »Es ist nur ein dummes Gerücht, aber ich könnte es ihm nicht verdenken. Sie wohnen am Stadtrand in einem alten Trailer, sonst ist da nur der Autofriedhof.« Ihr schauderte.
Jetzt suchte ich nach Anzeichen für Isaacs Armut und fand sie sofort: die abgewetzten Schuhe und die ausgeblichenen Jeans. Arm, aber stolz. Nichts an ihm bettelte um Mitleid.
»Okay, aber er hat nicht seinen Dad umgebracht«, sagte ich.
Angie winkte ab. »Irgendwann taucht Charles Pearce in der Stadt auf. Dann verstummen die Gerüchte für ein paar Wochen, bis sie von Neuem losgehen. Das ist so, seit vor etwa zehn Jahren Isaacs Mom gestorben ist. Damals kam er ständig mit blauen Flecken zur Schule. Jetzt nicht mehr. Ich meine, sieh ihn dir an. Inzwischen ist er stark genug, um sich zu wehren. Warum sollte er es nicht tun?«
Ich hatte darauf keine Antwort. Ich wollte nicht darüber nachdenken, wie schrecklich es wäre, nicht nur vom eigenen Vater geschlagen zu werden, sondern auch noch zurückschlagen zu müssen. Sich wehren zu müssen.
»Auf der Bühne ist Isaac völlig anders«, sagte Angie. »Übermenschlich sexy und unglaublich genial. Er spielt immer die emotionalen Rollen – schreit und weint auf der Bühne. Vor ein paar Jahren haben sie im Community-Theater Angels in America aufgeführt, und er und ein anderer Typ haben sich geküsst . Man sollte denken, das wäre sein Todesurteil gewesen, aber nein. Er ist unantastbar.«
Unantastbar .
Das Wort klang für mich wie ein Wiegenlied. In den vier Silben lag alles, was Schutz bedeutete. Alles, was ich sein wollte und nicht war.
Isaac ist es auch nicht , dachte ich. Für seinen Dad ist er nicht unantastbar.
»Du solltest dir heute oder morgen das aktuelle Stück ansehen«, sagte Angie. »Schau dir Isaac auf der Bühne an.«
»Ist er gut?«
Sie schnaubte. »Gut? Es ist eine Erfahrung, die dich völlig verändert. Ich steh gar nicht so auf Theater, aber Isaac Pearce auf der Bühne zu sehen …« Sie warf mir einen listigen Blick zu. »Ich sage nur, bring dir eine Ersatzunterhose mit.«
»Mach ich vielleicht«, sagte ich. »Hingehen , meine ich.«
»Lass uns heute Abend gehen«, sagte sie fröhlich. »Es läuft König Ödipus . Ich weiß, ich weiß, griechische Tragödien sind todlangweilig, aber mit Isaac in der Hauptrolle …« Sie ließ ihre Schultern erzittern. »Ich habe es schon zweimal gesehen. Morgen ist die letzte Vorstellung, aber für dich quetsche ich noch ein drittes Mal rein.« Sie stupste mich gegen den Arm. »Bin ich nicht das allerbeste Empfangskomitee für jemanden, der neu in der Stadt ist?«
»Keine Ahnung, du bist die Erste, die ich treffe.«
Angie angelte einen Kuli aus ihrem Rucksack, schnappte sich meine Hand und schrieb mir ihre Telefonnummer auf die Handfläche. Ich wand mich; ihr Stift war nur Zentimeter von den verborgenen schwarzen X auf meinem Handgelenk entfernt.
»Heute um acht«, sagte sie. »Schreib mir, wenn du das Okay von deinen Eltern hast. Ich warte vor dem Theater auf dich.«
Ich blinzelte angesichts der Verabredung, die mir so plötzlich aufgedrängt worden war. Meine Freitagabendpläne drehten sich in der Regel um Lesen, Teetrinken oder Binge-Watching von Black Mirror auf Netflix. Ein ruhiger Abend im Eispalast.
»Ja, okay, ich schreib dir«, hörte ich mich sagen.
»Cool.« Angie strahlte. »Und setz dich beim Mittagessen zu mir und meinen Freunden. Du kannst den Die-Neue-isst-allein-Quatsch einfach überspringen.«
»Danke.«
»Empfangskomitee Royal!«
Es klingelte. Sie warf mir eine Kusshand zu und lief zum Unterricht. Ich ließ mir Zeit und blickte über die offene Tür meines Schließfachs zu Isaac. Er sah auf.
Eine Sekunde lang trafen sich unsere Blicke durch die beschlagenen Glastüren. Wieder haute die gefährliche Schönheit dieses Typen mich um. Er war wie ein Dolch. Durchbohrte dich mit einem Blick, wenn du nicht wusstest, wie du ihm begegnen solltest.
Und ich hatte ihm in Englisch den Platz weggenommen.
Vielleicht sollte ich das in Zukunft lieber lassen …
Isaac hob das Kinn, dann drückte er die Zigarette aus und schlenderte ins Gebäude zurück. Er ging an mir vorbei und roch nach Rauch, der Kälte des Winters und einem Hauch von Pfefferminz. Er redete mit niemandem, und niemand redete mit ihm. Aber die anderen Schüler starrten ihn alle an. Wie ich. Wirklich alle. Völlig gebannt.
In New York hatte ich nie Autofahren gelernt. Es war einfach nicht nötig gewesen. Ich hatte nicht mal einen Übungsführerschein. Also fuhr ich mit dem Schulbus nach Hause. Er rumpelte und schlingerte durch Harmonys Osten, wo die Straße in Kurven über ein paar Hügel führte. Die Häuser auf dieser Seite der Stadt waren riesig, mit großen ausgedehnten Gärten. Auf mehr als einem Grundstück prangten Pferdekoppeln und Scheunen. Ich hätte nie gedacht, jemals so viel Platz ums Haus herum zu haben. Vorgärten, Hintergärten, Seitengärten. Und überall Bäume. Jetzt im Winter waren sie kahl, aber es war leicht, sie sich grün und belaubt im Sommer vorzustellen oder knallorange und rot im Herbst. Einfach und erfreulich. Ich ertappte mich dabei, mich darauf zu freuen.
Meine Mutter war nicht ganz so begeistert.
»Ich hoffe, unsere Hausratversicherung deckt auch Indianerüberfälle ab«, hatte sie zu Dad gesagt, als wir angekommen waren. »Und Heuschreckenplagen.«
Er hatte so getan, als würde sie einen Witz machen, aber ich wusste, dass Mom es todernst meinte. Das Landleben würde ihr nicht gefallen. Sie war in der Gesellschaft Connecticuts aufgewachsen, hatte in Wellesley studiert und war ein fester Bestandteil der Upper West Side gewesen. Ich gab ihr sechs Monate in Harmony, bevor sie meinen Dad vor ein Ultimatum stellte: zurück nach New York oder gleich eine neue Wohnung in Scheidungshausen.
Als ich an diesem ersten Tag in meiner Straße aus dem Schulbus stieg, sog ich die klare, kalte Luft tief in meine Lungen. Es war eine völlig andere Kälte als in New York. Sie war sauberer. Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber ich hatte das Gefühl, leichter atmen zu können.
Unser altes Haus war für Manhattan geräumig gewesen, aber das neue war riesig . Keine Scheune oder Koppel für Regina Holloway – sie hatte darauf bestanden, ein komplett umgestaltetes Haus zu kaufen. Wie Winona Ryders Stiefmutter in Beetlejuice wollte sie den ländlichen Charme aus dem Haus herausreißen und durch kalte Eleganz ersetzen. Ich hätte ein altes Landhaus mit vergilbten Blümchentapeten und warmen Holzgeländern an der Treppe geliebt. Je gegensätzlicher zu unserem alten Haus, desto besser. Keine unbewussten Erinnerungen oder Rückblicke auf meine heimliche Party und das, was in jener Nacht in meinem Zimmer passiert war.
Ich schloss die Haustür auf und trat ins Warme. Wir hatten eine große Eingangshalle mit einem Kronleuchter, der eigentlich in einen Ballsaal gehört hätte. Ich zog die schneeverkrusteten Stiefel aus und ging über den beigegrauen Hartholzboden durch das Labyrinth aus Sofas und Sesseln und aufgerollten Teppichen – alles noch in Plastikfolie verpackt.
Das Haus war leer und still. Unsere New Yorker Möbel genügten nicht, um all den Raum zu füllen, und Mom war in Indianapolis, um mehr zu kaufen. Dad war bei der Arbeit – wo sonst? – und schuftete für Mr Wilkinson, um Moms Ausgaben stemmen zu können.
Die Küche war größtenteils ausgepackt. Ich machte mir Erdbeertee und nahm ihn mit in mein Zimmer. Mein neues Bett sollte heute geliefert werden. Es war das Einzige, worum ich vor dem Umzug gebeten hatte. Mein Argument war, dass wir jetzt genügend Platz hatten, und Dad – wahnsinnig froh, dass ich nicht wegen Indiana meckerte – kam meinem Wunsch gerne nach.
Ich steckte den Kopf in den Raum und atmete aus.
Yay.
Mein altes Bett und die mit einem X markierte Matratze waren weg. Auf dem Müll oder beim Recycling. An seinem Platz stand ein ein Meter fünfzig breites Himmelbett mit hauchdünnen Vorhängen.
In diesem Bett werde ich schlafen , schwor ich. Wie ein normales Mädchen.
Ich stellte den Tee auf den Tisch daneben und legte mich auf die in Plastik verpackte Matratze. Ich faltete die Hände auf meinem Bauch und schloss die Augen.
»Unantastbar«, flüsterte ich.
Nach den zahllosen Nächten, die ich schlecht geschlafen hatte, packte mich die Müdigkeit schnell mit ihren Klauen und zog mich nach unten. Tief in die schwarze Dunkelheit. Gedämpfte, pulsierende Musik kam durch die Wände und den Boden. Ein warmer, nach Bier und Erdnüssen riechender Mund auf meinem. Hände um meinen Hals. Und dieses Gewicht. Xaviers erdrückendes, erstickendes, zerstörendes Gewicht …
Ich fuhr senkrecht hoch, ein Schrei blieb mir in der engen keuchenden Brust stecken. Ich blinzelte, bis ich das neue Zimmer in unserem neuen Haus sah. Das Nachmittagslicht war verschwunden. Der Radiowecker zeigte 18:18. Stockend atmete ich ein, wischte mir die Tränen von den Wangen und rutschte auf den Fußboden.
Kein Bett war mehr sicher.
Ich saß da, die Beine ausgestreckt wie die einer Puppe, und dachte an den Song »Living Dead Girl«. Ich überlegte, mich in die Bettdecke und die Wolldecke zu wickeln und so auf den nächsten Morgen zu warten. Dann fiel mir Angies Einladung zu Isaacs Vorstellung ein.
Der Albtraum haftete noch an mir, und es kam mir unmöglich vor, mich aus dem Haus zu wagen und unter Leute zu gehen. Aber ein Theaterstück anzusehen war vielleicht ein bisschen wie ein Buch zu lesen – man konnte darin eintauchen und fliehen. Ich könnte mich im alten Griechenland verlieren und ein wenig Abstand zu meiner eigenen lächerlichen Tragödie gewinnen.
Ich zog den Arm unter der Decke hervor und starrte auf die Telefonnummer auf meiner Handfläche.
Wollte ich wirklich zu dem Stück gehen? Warum?
Um mich mit Angie anzufreunden.
Um dieses angebliche Schauspielwunder, Isaac Pearce, zu sehen.
Um rauszukommen.
Um normal zu sein.
Ich schob den Ärmel hoch und verglich Angies geschwungene, mit blauem Kuli gemalte Ziffern mit meinen hässlichen schwarzen X.
Dann nahm ich mein Telefon und schrieb Angie eine Nachricht.
Ich bin’s, Willow. Ich komme mit. Sehen wir uns 19:45?
Die Antwort kam fast sofort. Mach 19 Uhr draus, dann ist Zeit für Burger und Milchshakes im Scoop. Wie kommst du hin?
Ich hatte keine Ahnung, wie ich da hinkommen würde, und in Harmony gab es wahrscheinlich nicht so viele Taxis wie in New York.
Keine Ahnung. Kannst du mich abholen?
Ja, Eure Majestät. <3
Ich schickte ihr meine Adresse, dann schrieb ich meinen Eltern.
Gehe mit Freunden essen, dann ins Theater. Bin gegen 23 Uhr zu Hause.
Meine Mutter wollte wissen, mit wem ich ausging – sie hatte sich bereits die Meinung gebildet, dass ganz Harmony von Bauerntölpeln und Hinterwäldlern bevölkert war. Dad bestand darauf, dass ich um »23 Uhr und keine Minute später« zu Hause war.
Ich ignorierte ihre Nachrichten, als ich mich fertig machte. Es ging Mom nichts an, und ich hatte Dad nicht um Erlaubnis gefragt.