3. KAPITEL
Willow
Angie stand zehn vor sieben in der Einfahrt und hupte. Ich ging raus, warm eingepackt in meiner weißen Winterjacke und mit der rosa Strickmütze. Angie reckte den Hals aus dem Fenster ihres grünen Toyota Camry und betrachtete das Haus.
Sie ließ einen Pfiff hören, als ich in den Wagen stieg. »Sähr elegonte chez Holloway«, sagte sie mit einem fürchterlichen französischen Akzent und küsste ihre Fingerspitzen. »Dein Dad ist im Ölgeschäft?«
»Gut geraten«, sagte ich. »Er ist leitender Angestellter bei Wexx.«
»Ah, hier gibt’s überall diese Tankstellen. Sogar Isaacs Versagerdad betreibt eine neben seinem Schrottplatz. Und was gibt’s hier für euch zu holen?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Sein Boss will, dass er das Geschäft im Mittleren Westen auf Vordermann bringt. Und das macht er.«
»Du klingst, als wäre es total okay für dich.« Angie fuhr vorsichtig, aber nicht ängstlich auf der gewundenen verschneiten Emerson Road, die mein Viertel mit dem Zentrum verband. Schnee türmte sich zu beiden Seiten der Straße. »Ich würde durchdrehen, wenn ich im letzten Jahr umziehen müsste.«
»Ich hatte keine Wahl. Hast du immer hier gewohnt?«
»Mein ganzes Leben«, sagte Angie. »Aber ich bleibe nicht. Ich habe mich in Stanford, an der UCLA, Berkeley – praktisch jeder Uni in Kalifornien – beworben, die mich nehmen würde. Ich will Sonne und Strand.« Sie schürzte die Lippen, als ich schwieg. »Und du? Wo hast du dich beworben?«
»Nirgends«, sagte ich.
Angie wurde vor einem Stoppschild langsamer. »Wirklich? Du willst nicht aufs College?«
»Nein.« Ich rutschte auf dem Sitz herum. »Ich meine, ich habe mich noch nirgends beworben. Aber das mache ich. Bald.«
»Hey, du musst dich ranhalten. Die Zeit läuft.«
»Ich weiß«, sagte ich und biss die Zähne zusammen.
Das war das Gemeine am Leben: Es ging einfach weiter, auch wenn es dringend langsamer werden und einen Moment stehen bleiben sollte, während man versuchte, sich wieder zusammenzusetzen.
»Du willst bestimmt nach Yale. Oder Brown?«, fragte Angie, als wir am Ende der Kurve ankamen und die Lichter des Zentrums von Harmony vor uns auftauchten. »Ich stelle mir für dich etwas Vornehmes, Neuengland-Mäßiges vor.«
»Vielleicht.«
»Hey, alles okay?« Angie sah mich von der Seite an. »Mir ist klar, dass ich dich nicht sehr gut kenne – Hashtag Untertreibung –, aber du scheinst mir ein bisschen … IDK, fertig. Mehr als heute Vormittag.«
»Ich hab nur ein Nickerchen gemacht und war danach ein bisschen verschlafen«, sagte ich. »Und hast du gerade IDK gesagt? Ich meine gesagt? «
»Ich bin ein Kind des technologischen Zeitalters.«
»Und so was willst du beruflich machen?«, fragte ich. Ich wollte vor allem die Aufmerksamkeit von mir ablenken, war aber auch neugierig. »Etwas Technisches?«
»Tatsächlich«, sagte Angie. »Mein Ding ist Robotik. Ich will Gliedmaßenprothesen für Amputierte bauen. Mein Traum ist, in einem Team zu arbeiten, das solche Teile baut wie die Hand von Luke Skywalker. Von außen realistisch, von innen Terminator.«
»Guckst du viele Filme?«
»Geek. Zu hundert Prozent.«
Ich lächelte leicht, aber es schwand schnell, als ich über Angie und ihre Träume nachdachte. Sie war großzügig und freundlich und wollte nach Stanford gehen und etwas Gutes bewirken. Ich sehnte mich nach so einem Funken. Einem Feuer, das mich vorantrieb, in eine Zukunft mit einer Karriere und Zielen und Absichten. Einem Ziel, das größer war als das Überleben einer weiteren schlaflosen Nacht.
Du bist aus dem Haus gegangen , sagte eine Stimme, die ein bisschen wie die meiner Grandma klang. Du tust dein Bestes. Das ist etwas.
Das tröstete mich ein bisschen, und ich wurde mit der Postkartenansicht des Zentrums von Harmony belohnt. Leuchtende Weihnachtsgirlanden hingen noch an den viktorianischen Gebäuden, die meisten der breiten Fassaden beherbergten mehrere Geschäfte. Wir kamen an einem Waschsalon vorbei, dem Billigkaufhaus, Daisy’s Coffeehouse und einem Kosmetikstudio. Das Neonschild von Bills Eisenwarenladen leuchtete grellrot neben der Leuchtschrift des Einsaalkinos. Der Schnee war auf ordentliche Haufen geschippt, und ein paar Leute waren auf dem Bürgersteig unterwegs.
»Es ist wunderschön«, murmelte ich.
»Ja?« Angie verdrehte den Hals, als wir darauf warteten, dass die einzige Ampel im Ort auf Grün sprang. »Ja, wahrscheinlich schon. Hast du viel von Harmony gesehen? Ich weiß, es ist alles unter dem Schnee begraben, aber dafür, dass wir nur ein Fleck auf der Landkarte sind, gibt es ein paar wirklich coole Sachen.«
»Zum Beispiel?«
»Es gibt ein richtig tolles Heckenlabyrinth, genau nördlich von uns.«
»Ein Heckenlabyrinth?«
»Die Hecken sind nicht hoch, und es ist nicht so kompliziert, dass sich Touristen darin verirren, aber in der Mitte ist eine gemütliche kleine Hütte mit einer Windmühle. Rein dekorativ.«
Oder romantisch , flüsterte ein Gedanke.
»Im Westen der Stadt gibt es einen wirklich coolen Friedhof, der bis zum Sezessionskrieg zurückgeht. Und wir haben ein Amphitheater, wo es Festivals gibt und Veranstaltungen der Stadt. Wenn man Fast Food braucht oder Outlet Stores, dann fährt man zehn Minuten Richtung Norden nach Braxton. Und wenn man eine richtige Stadt will, dann gibt es Indy, zwanzig Minuten hinter Braxton.«
Sie parkte vor einem Gebäude mit dem Schild The Scoop .
»Und hier haben wir unseren typischen Oberstufentreff, wie aus einem Film von John Hughes«, sagte Angie und machte den Motor aus. »Aber sei gewarnt: Es gibt Burger, Pommes und Eis. Falls du eher der Salat- und Sprossentyp bist. Ich nicht, falls du es noch nicht bemerkt hast.« Lachend klopfte sie sich auf die rundlichen Hüften.
Ich folgte ihr in das Lokal. Es war gerammelt voll mit Schülern der George Mason und ein paar Familien mit kleinen Kindern.
»Und schau, unsere Cliquen haben ihre übliche Stellung bezogen.« Mit dem Kinn deutete Angie auf mehrere Gruppen, die sich um Tische oder in Sitznischen drängten. »Das da sind meine Freunde«, sagte Angie. »Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass ich ihnen Bescheid gesagt habe.«
»Nein, kein Problem«, sagte ich und versuchte mich an die Namen der Leute zu erinnern, die Angie mir heute beim Mittagessen vorgestellt hatte. Ihr Freund, Nash Argawal – ein niedlich aussehender Typ indischer Abstammung. Caroline West, ein zierliches Mädchen mit braunen Haaren. Und Jocelyn James, eine riesenhafte Blondine, Kapitänin der Basketballmannschaft.
»Wenn ich uns einordnen müsste wie in Girls Club , dann sind wir die großartigsten Leute, die du je kennenlernen wirst«, sagte Angie. »Schräge, diverse Wissenschaftsgeeks und Leute mit noch ungeklärter sexueller Orientierung.« Sie beugte sich zu mir, als wir uns der Nische näherten. »Auf dem Papier sind wir alle Heteros, aber Caroline hat Jocelyn mal auf einer Party geküsst, und, um die unsterblichen Worte von Katy Perry zu zitieren, ›they liked it‹.«
Ich hatte Angies Freundeskreis schon als absolut sympathisch eingeordnet, als Nett mit großem N. Leute, die man wirklich leicht kennenlernen konnte. Leute, die einen nicht als Schlampe brandmarkten oder einen fragten, warum um alles in der Welt man ein Oben-ohne-Bild an einen älteren Typen geschickt hatte, falls man ihnen hässliche Geheimnisse erzählte. Oder warum man ebendiesen Typ in sein Schlafzimmer gelassen hatte. Sie wären sogar entsetzt, wenn sie erführen, dass man sich nicht daran erinnern konnte, ihn überhaupt reingelassen zu haben.
»Hey Leute, ihr erinnert euch an Willow«, sagte Angie, als sie sich neben Nash auf die Bank setzte. Caroline rutschte dichter an Jocelyn heran, um Platz für mich zu machen. »Ich dachte, ich schnappe sie mir, bevor die Cheerleaderinnen Ansprüche anmelden.« Sie sah mich unsicher an. »Oder willst du Cheerleaderin werden?«
Sie deutete mit dem Kinn zu einem Tisch, wo sich ein paar hübsche Mädchen mit langen Haaren und glitzerndem Lipgloss unterhielten und dabei auf ihre Handys guckten. Am Tisch daneben saßen Typen in Collegejacken und sahen sich das Spiel an, das plärrend auf einem Fernseher in der Ecke lief.
»Nein, will ich nicht«, sagte ich.
Nicht mehr.
In meinem alten Leben war ich nicht nur Cheerleaderin gewesen, sondern auch zweite Vorsitzende des Abschlussballkomitees, Kassenwartin meiner Klasse und Mitglied des Debattierclubs. Ein Haufen Aktivitäten, die jetzt die blassen Erinnerungen einer anderen Person zu sein schienen.
»Es wäre auch okay«, sagte Angie. »Unsere Plastics sind gar nicht so plastikmäßig.«
»Eigentlich sind alle ziemlich nett«, sagte Jocelyn und winkte einem Mädchen auf der anderen Seite des Lokals. »Wenn man seit dem Kindergarten mit denselben Leuten aufwächst, ist es ziemlich schwierig, zickig zu sein.«
Nash lächelte mich an. »Wenn man weiß, dass die Ballkönigin früher Brei gegessen hat, kann man sie nicht so ernst nehmen.«
»Trotzdem könnten sie versuchen, dich uns wegzuschnappen«, sagte Angie. »Du bist so neu und glänzend.«
»Mich wem wegschnappen?«, fragte ich.
Angie wechselte einen Blick mit Nash. »Ich hatte vielleicht Hintergedanken, als ich die Gang zusammengetrommelt habe. Gedanken, die nichts mit griechischer Tragödie zu tun haben.«
»Sie will dich für unser Jahrbuchteam«, sagte Nash und verzog das Gesicht, als Angie ihn in die Rippen stieß.
»Ich wollte das besser verkaufen«, sagte sie.
»Dafür ist nicht genug Zeit«, sagte Nash. »Das Stück fängt in einer Dreiviertelstunde an.«
Angie verdrehte die Augen und wühlte in ihrer Tasche. »Na gut.« Sie holte das letzte Jahrbuch heraus und schob es mir zu. »Wie wir vorhin besprochen haben, stehen jetzt College-Bewerbungen an, und du brauchst außerschulische Aktivitäten, oder?«
Ich nickte und schlug das glänzende Fotobuch auf. »Mein Dad hat es befohlen – und so soll es sein.«
»Und?« Angie klatschte in die Hände. »Sind wir nicht perfekt dafür geeignet?«
»Vielleicht«, sagte ich und blätterte durch die Seiten.
Ich hatte nicht das geringste Interesse daran, zum Jahrbuchteam zu gehören. Oder wieder Cheerleaderin zu werden. Oder den Anordnungen meines Vaters überhaupt zu folgen. Ich sah mir die Gesichter auf den Fotos an – Schüler, die zusammen lachten, an Projekten arbeiteten, in Talentshows sangen und Preise für Wissenschaftsprojekte gewannen. Das ganze Buch war normalen Leuten gewidmet, die normale Sachen machten. Ich wusste, dass viele von ihnen – wahrscheinlich mehr, als ich ahnte – ihren eigenen Scheiß aushalten mussten, aber es sah aus, als würden sie viel besser darüber hinwegkommen als ich.
Ich kam über gar nichts hinweg.
Eine Kellnerin nahm unsere Bestellung auf, und während die anderen sich unterhielten, blätterte ich weiter durch das Jahrbuch. Ich kam auf eine Seite mit städtischen Aktivitäten. Und da war Isaac Pearce auf der Bühne. Festgehalten in einem dramatischen Schwarz-Weiß-Foto. Ich beugte mich vor.
»Oh, Miss Holloway«, sagte Angie. »Wir sind wirklich neugierig auf Mr Pearce, nicht wahr?«
Ich ignorierte sie und betrachtete die Fotos von Isaac mit den Bildunterschriften: Angels in America , Vergrabenes Kind , Alle meine Söhne .
»Macht er das schon lange?«, fragte ich.
»Seit der Grundschule«, sagte Angie.
»Verstehe«, sagte Nash und verdrehte die Augen. »Es geht heute gar nicht darum, die Schauspielkunst zu würdigen, sondern ein neues Mitglied für den Isaac-Pearce-Fanklub anzuwerben.« Er sah seine Freundin an. »Ich hoffe, du hast der Neuen gesagt, dass sie auf dem Holzweg ist.«
»Ich bin auf gar keinem Weg«, sagte ich und spürte einen tiefen Schmerz in mir. Der Gedanke, je wieder mit jemandem zusammen zu sein, war abstoßend. Die Vorstellung, dass ein Junge dicht neben mir stand. Dass ich bei einem Date in der Enge seines Autos saß. Geküsst wurde. Oder berührt. Dass der Körper eines Jungen sich an mich presste, ohne dass ich seine Absichten kannte. Oder seine Kraft.
Ich klappte das Jahrbuch zu, und weg waren die Bilder von Isaac und auch die Gedanken, die mich in eine ausgewachsene Panikattacke steuerten.
»Er ist hübsch anzusehen«, sagte Jocelyn, »aber er vögelt Studentinnen in Serie. Uns Kinder sieht er nicht mal an.«
»Kinder?«, fragte ich. »Er ist in unserem Alter.«
Alle schüttelten den Kopf.
»Nein?«
»Nein. Seine Mom ist gestorben, als er acht war«, sagte Angie. »Er hat etwa sechs Monate lang kein Wort gesagt und musste ein Jahr aussetzen.«
Ich runzelte die Stirn. »Er hat sechs ganze Monate nicht geredet?«
Angie nickte. »Vielleicht länger. Er war in der dritten Klasse. Irgendwann ist er nicht mehr in die Schule gekommen, aber davor … es war total schräg, dieser kleine Junge, der kein Wort gesagt hat.« Sie schüttelte den Kopf. »Der Arme.«
In meiner Vorstellung sah ich einen blonden Jungen mit rauchgrünen Augen, dem das Unglück die Worte direkt herausgeprügelt hatte. »Wie kam es, dass er wieder angefangen hat zu reden?«
»Miss Grant, die Lehrerin in der Vierten, hat ein kleines Stück aufgeführt und ihn überredet, mitzuwirken.« Angie hob die Hände. »Der Rest ist bekannt.«
Ich nickte langsam. Sie hatte ihm die Worte von jemand anderem gegeben.
»Aber er hat in der Schule ein Jahr verloren«, sagte Nash.
Caroline nickte. »Er ist achtzehn. Nein, wartet …« Sie zählte an ihren Fingern ab. »Wahrscheinlich ist er jetzt neunzehn, oder?«
»Das muss hart sein«, sagte ich.
Jocelyn zuckte mit den Achseln und tauchte eine Pommes in den Ketchup. »Es hat sich gelohnt. Er wird ein berühmter Schauspieler werden.«
»Apropos«, sagte Nash und sah auf die Uhr. »Wir sollten gehen. Ödipus wird sich nicht allein die Augen ausstechen.«
Angie schlug ihn auf den Arm. »Hallo? Spoilerwarnung!«
»Ich kenne die Geschichte«, sagte ich und musste einfach lächeln. Und ich musste Angie einfach mögen, die sich bei mir einhakte, als wir den Fußweg entlanggingen. Zuerst erschrak ich ein bisschen; ich war kein Fan davon, berührt zu werden, aber Angie war Wärme auf meinem Eis, und ich ließ sie, als unser Atem in der glitzernden winterlichen Straße Wölkchen erzeugte.
»Und? Was hältst du von meinem Angebot?«, fragte sie. »Das Jahrbuch kommt in die entscheidende Phase, und ich könnte die Hilfe wirklich gebrauchen.«
»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ich glaube, es ist nicht so mein Ding.«
Sie zog eine Grimasse. »Bist du sicher? Weil –«
»Ja, ich bin sicher«, sagte ich mit harter Stimme. Ich zwang mich, wieder weicher zu klingen. »Sorry. Wir sind vor neun Tagen umgezogen. Ich bin noch dabei, mich zu orientieren.«
»OMG, natürlich«, sagte Angie mit einem breiten Lächeln. »Ich bin total aufdringlich …«
»Glaubst du?«, murmelte Nash.
Angie warf ihm über die Schulter einen bösen Blick zu und beugte sich wieder zu mir. »Mach dein Ding, Holloway«, sagte sie. »Was auch immer das ist. Aber meine Tür steht immer offen. Immer.«
»Danke.«
Angies Worte wärmten mich noch auf dem Rest des Wegs zum Harmony-Community-Theater.
Mach dein Ding, was auch immer das ist.