4. KAPITEL
Willow
Verglichen mit den anderen Gebäuden im Zentrum war das Harmony-Community-Theater fast peinlich heruntergekommen. Die Säulen am Eingang aus der Zeit der vorletzten Jahrhundertwende waren durch jahrelange Autoabgase verdreckt. Die Vortreppe hatte Risse. Drinnen tanzten Staubflocken in der weichen Beleuchtung der eleganten Deckenlampen aus Buntglas.
Nachdem wir an dem kleinen Schalter Karten gekauft hatten, unterhielt Angie sich mit ihren Freunden, während ich durch die Lobby ging und die Galerie mit Schwarz-Weiß-Fotos betrachtete. Ein paar waren historische Aufnahmen des Gebäudes. Den Bildunterschriften zufolge war das Theater seit 1891 in Betrieb. Damals war Harmony eine Ansammlung weniger Häuser gewesen, die durch breite unbefestigte Straßen getrennt waren. Pferdekutschen und Frauen in langen Kleidern und mit großen federbesetzten Hüten überquerten die ausgedehnten Erdflächen.
An einer Wand hingen Fotos von früheren Aufführungen – wie im Zeitraffer wurden Stile, Kostüme und Stücke von 1900 bis heute gezeigt. Bei den Bildern der letzten fünf Jahre wurde ich langsamer. Isaac Pearce war auf fast allen. Er hatte nicht immer die Hauptrolle, aber er war immer dabei.
Und er sieht jedes Mal anders aus , dachte ich.
Selbst in den früheren Stücken, als sich in dem weicheren, rundlicheren Gesicht seine Jugend zeigte, konnte er seinen Ausdruck oder seine Körperhaltung subtil verändern – was ihn in jeder Rolle in einen völlig anderen Mann verwandelte.
»Lass die Fotos«, sagte Angie und zog an meinem Ärmel. »Zeit, sich am echten Anblick zu erfreuen.«
Wir betraten den Theatersaal mit den zwei Sitzbereichen. Die Samtpolster waren einmal leuchtend rot gewesen, jetzt waren sie zu einem müden Braun ermattet. Die roten Samtvorhänge vor der Bühne hatten auch schon bessere Tage gesehen. Wandleuchter schickten Lichtsäulen die Wände hinauf bis zu den verschränkten Bögen an der Decke.
König Ödipus lief schon seit zwei Wochen in der kleinen Stadt, aber nach meiner Schätzung war das fünfhundert Personen fassende Theater drei viertel voll.
»Haben nicht alle in Harmony das Stück schon gesehen?«, fragte ich Angie, als wir uns setzten.
»Mehr als einmal«, sagte Angie. »Morgen ist die letzte Vorstellung, und die ist ausverkauft. Die Leute kommen von überallher. Aus Braxton und Indy.«
»Sogar aus Kentucky«, sagte Jocelyn auf meiner anderen Seite. »Theater ist wichtig im Mittleren Westen.«
»An den Universitäten in Ohio und Iowa gibt es renommierte Institute für darstellende Kunst«, sagte Nash. »Unser kleiner Ort zieht einige VIPs an.«
Angie polierte ihre Fingerknöchel an der Vorderseite ihres Sweatshirts. »Wir sind was Besonderes.«
»Wenn es so besonders ist, warum können sie es sich nicht leisten, es zu renovieren?«, fragte ich und rutschte auf dem Sitz herum, weil sich eine Sprungfeder in meinen Hintern bohrte.
Angie zuckte mit den Achseln. »Martin Ford – der Besitzer – hat es vor zehn Jahren übernommen. Der Vorbesitzer hat den Laden total runtergewirtschaftet. Fast wäre er bankrottgegangen. Ford bemüht sich, es so gut es geht über Wasser zu halten.«
»Können die keinen Zuschuss oder so was kriegen? Vielleicht von einer Stiftung?«
»Ich bin mir sicher, Mr Ford tut, was er kann«, sagte Jocelyn.
Caroline nickte. »Er liebt das Theater. Er ist nicht nur der Besitzer, er führt bei allen Stücken Regie.«
»Und fast alle Schauspieler kommen aus Harmony«, sagte Angie. »Er will, dass es bodenständig bleibt.« Sie zeigte auf das Programm. »Er spielt auch selbst mit.«
Ich sah mir die Besetzung an und fand den Namen Martin Ford neben Teiresias, blinder Seher .
»Also gibt er Isaac die ganzen Rollen?«
»Mehr als das«, sagte Angie. »Er wählt Stücke, von denen er weiß, dass Isaac darin glänzen kann. Isaac ist sein Protegé.«
»Ich denke, du suchst ein anderes Wort: Isaac sichert seine Einkünfte«, sagte Nash abwesend und wickelte sich zärtlich eine von Angies Locken um den Finger.
»Das sind vier Wörter.« Sie beugte sich zu mir. »Nash ist nur eifersüchtig, weil er in einer Toga nicht so gut aussieht.« Die Lichter im Zuschauerraum wurden gedimmt. »Wenn man vom Teufel spricht.«
Die Lichter gingen ganz aus, und als sie wieder angingen, hatte der Vorhang sich auf eine dunkle leere Bühne geöffnet. Große weiße Würfel und Säulen deuteten einen Raum an. Auf dem weißen Hintergrundvorhang war Theben mit groben schwarzen Strichen skizziert. Ein minimalistisches Bühnenbild, das es den Worten überließ, die Aufmerksamkeit des Publikums zu fesseln.
Ein Priester trat auf die Bühne, umgeben von Frauen und Männern in weißen Togen, die pantomimisch Angst, Verwirrung oder Verzweiflung darstellten.
Dann kam Isaac Pearce auf die Bühne, und es ging ein Raunen durch das Publikum; eine Welle elektrisierter Erwartung.
Da ist er.
Sein schönes Gesicht war zum Teil von einem falschen Bart bedeckt, was ihn von einem Neunzehnjährigen im Amerika des einundzwanzigsten Jahrhunderts in einen mächtigen und allwissenden König verwandelte. Ich hatte nie im Leben eine religiöse Erfahrung gehabt, aber in diesem Moment hätte ich schwören können, dass das Licht, das auf ihn hinabstrahlte, von den griechischen Göttern kam. Er war göttlich. Übernatürlich.
Unantastbar.
Er hob die Arme, als er sprach, seine dröhnende Stimme forderte – nein, beherrschte unsere Aufmerksamkeit.
»O Kinder! Kadmos’ des alten, neuer Stamm!
Was sitzt ihr flehend mir auf diesen Stufen da, […]
indes die Stadt von Weihrauch überquillt,
zugleich von Bittgesängen und von Schmerzgestöhn?
Dies hielt ich nicht recht, von Boten, Kinder,
von andern nur zu hören, und so komm ich selbst hierher,
von allen der Berühmte, Ödipus, genannt.«
Ich starrte mit offenem Mund.
Von allen der Berühmte, Ödipus, genannt.
»Oh, mein Gott«, flüsterte ich.
Aus dem Augenwinkel konnte ich Angie grinsen sehen, auch wenn sie den Blick nicht von der Bühne abwendete. »Ich hab’s dir ja gesagt …«
Wir sprachen kein weiteres Wort, bis der Vorhang fiel. Obwohl sich diese Sprungfeder in meinen Hintern bohrte, rührte ich mich kaum. Und selbst ein Feueralarm hätte mich nicht von der Handlung auf der Bühne ablenken können.
Wie jede andere Highschool-Schülerin hatte ich Ödipus im Englischunterricht gelesen, mit dem Kommentar daneben und ständig gähnend, denn wen interessierte schon ein Typ, der mit seiner Mutter schlief?
An diesem Abend interessierte er mich. Alles interessierte mich. Ich erlebte es mit. Mit Isaac auf der Bühne war ich dort in Theben, sah, wie die Geschichte sich entfaltete, und konnte nicht wegsehen. Ich hielt den Atem an, als Ödipus sich in sein schreckliches Schicksal stürzte und versuchte, das Rätsel zu lösen, das er mit jeder einzelnen Person in diesem Theater gemein hatte. Ein Rätsel, das ich selbst unbedingt ergründen wollte.
Identität. Bestimmung. Selbst.
Die Wahrheit , flüsterte eine Stimme in meiner endlosen Dunkelheit. Was ist von mir übrig?
Als Ödipus erfuhr, dass der Reisende, den er vor Jahren ermordet hatte, sein Vater gewesen, und die Frau, die er geheiratet hatte, seine Mutter war, war sein Schmerz furchtbar und mächtig. Er vernichtete ihn fast. Sein gequältes Leugnen hallte durch den Saal, als würde es das Fundament erschüttern. Als könnte er das ganze Gebäude zum Einsturz bringen, als er auf die Knie fiel.
Der Schmerz des Königs, als Jokaste – seine Frau und Mutter – sich erhängte, holte uns als Publikum so nah heran, dass es unangenehm war.
Ödipus riss die goldenen Broschen von ihrem Kleid und stach sich damit die Augen aus, und das Kunstblut, das unter seinen Handflächen hervorquoll, war so echt wie das Blut, das entsetzt in unseren Adern pochte. Seine Qual erfüllte jeden Schrei, jede Silbe, jedes Keuchen. Und wir hatten keine Wahl, als es auch zu fühlen.
Vage war mir das Schniefen auf den Plätzen in meiner Nähe bewusst: Leute reichten sich Taschentücher und seufzten stockend. Aber erst als Ödipus, endlich von dem schrecklichen Gewicht der Prophezeiung befreit, aus seiner Heimat verbannt wurde, liefen mir die Tränen über die Wangen. Der gefallene König, in der Dunkelheit ausgesetzt und gezwungen, allein durch die Welt zu ziehen.
Sobald der Vorhang fiel, sprangen wir auf und applaudierten. Die Menge brüllte, als Isaac sich verbeugte. Hinter dem Bart und den Blutstriemen sah er erschöpft aus. Dann lächelte er. Das strahlende, atemberaubende, triumphierende Lächeln eines Menschen, der einen dunklen Ort bereist und es wieder hinausgeschafft hatte.
Ich klatschte immer weiter, Tränen liefen ungehindert, als die kleine Flamme in mir aufflackerte und sich nach der Bühne reckte.