6. KAPITEL
Isaac
Die Lichter von Harmony verschwanden im Rückspiegel, während die Straße vor mir immer dunkler und unebener wurde. Die Häuser in diesem Teil der Stadt waren klein, umgeben von Maschendrahtzäunen und nackten Bäumen, die am Himmel kratzten.
Meine Schultern verkrampften sich, als ich vor dem Trailer hielt – das Licht im Wohnzimmer war noch an. Ich atmete tief ein, um mich zu beruhigen. Vielleicht war Paps eingeschlafen und nicht auf Randale aus, sagte ich mir. Es wäre nicht das erste Mal gewesen.
Ich machte den Motor aus und legte den Umschlag mit dem Geschenkgutschein und dem Geld ins Handschuhfach. Beweise für Martin Fords Großzügigkeit in den Trailer mitzubringen hieß, einen Riesenhaufen Ärger herauszufordern.
Ich drehte den Schlüssel im Schloss und wand mich innerlich, als die Tür quietschte. Ich steckte den Kopf hinein, ein Löwenbändiger, der sich darauf vorbereitet, den Käfig zu betreten. Paps saß auf der Couch. Aufrecht und bewusstlos. Das Kinn lag auf seiner Brust, und er schnarchte feucht. Im Fernsehen liefen plärrend die Nachrichten. Eine zweite Flasche Old Crow stand neben der ersten auf dem Couchtisch. Ebenfalls leer. Es war völlig verraucht.
Ich seufzte erleichtert. Leise schlich ich mich hinein, machte den Fernseher und das Licht aus. Ich dachte daran, meinen Vater hinzulegen und zuzudecken, aber ich hatte auf die harte Tour gelernt, dass es sicherer war, ihn in Ruhe zu lassen. Ich wollte den Ödipus morgen nicht mit gebrochener Nase spielen.
Die Heizung sirrte leise, aber das Gefühl von Wärme, das ich beim Hereinkommen empfunden hatte, ließ schon nach. In meinem Zimmer zog ich nur Schuhe und Jacke aus und legte mich komplett angezogen ins Bett.
Meine Gedanken wanderten zur Vorstellung zurück. Lorraine hatte recht: Ich gab jeden Abend auf der Bühne so viel – so viel Zorn und Kummer. Es war kathartisch, das alles im Theater rauszulassen. Ödipus’ Schmerz zum Blitzableiter für meinen eigenen werden zu lassen. Ich gab so viel, weil ich so viel zu geben hatte, seit Mom gestorben war.
Ich drehte mich auf der dünnen Matratze um und versuchte nicht daran zu denken, wie es gewesen wäre, wenn Mom heute und jeden anderen Abend im Theater gewesen wäre. Vielleicht wäre Paps mitgekommen, und der zähe harte Zug an ihm wäre nicht hässlich und böse geworden, wenn sie noch bei ihm wäre. Wir würden noch wie damals, als ich ein Kind gewesen war, in einem der kleinen Häuser wohnen, an denen ich auf dem Weg hierher vorbeigefahren war, anstatt in dem heruntergekommenen Trailer. Und anstatt nur Paps besoffenes Grölen, seine Wut zu hören, wäre da Moms Summen, wenn sie im Garten arbeitete, oder wie sie laut beim Radio mitsang, wenn wir »einfach nur so« Eis kaufen fuhren.
Als Mom noch lebte, hatte ich Harmony geliebt. Der Soundtrack der Stadt, die Hintergrundmusik meines Lebens war ihre weiche Stimme gewesen. Aber sie war für immer verstummt, und als sie gestorben war, war auch ein Teil von mir totenstill geworden.
Ich rollte mich auf die andere Seite, drehte den albernen Fantasien den Rücken zu und wickelte mich fester in die Decken. Was geschehen war, war geschehen. Sie war tot, Harmony war die Hölle, und der einzige sichere Weg, dem Elend zu entkommen und meine Stimme wiederzufinden, war, von hier zu verschwinden.
Martin hat Künstleragenten eingeladen, damit sie mich spielen sehen.
Mein Schauspieltalent konnte mich woanders hinbringen. Ich spielte nicht für Lob. Komplimente widerten mich an. Aber jetzt erinnerte ich mich an den Applaus heute, das Publikum war aufgestanden und hatte nicht aufgehört zu klatschen. Der Beifall hallte in meinem Kopf wider, verdrängte den kalten Wind, der unter dem Trailer hindurchpfiff.
Und kurz bevor der Schlaf kam, erinnerte ich mich an Willow Holloways goldenes Haar, als sie unter der Leuchtschrift des Theaters gestanden und dort hinaufgesehen hatte, als würden sich die Geheimnisse des Universums darin verbergen.
Am nächsten Morgen war Paps früh auf. Ich sah durch das Küchenfenster, wie er die Reihen von Schrottautos abschritt. Er war kaum mehr als ein dicker Fleck mit der armeegrünen Jacke und der roten Schirmmütze. Vor seinem Mund bildeten sich rauchige Atemwolken.
Er lief häufig über den Friedhof seines Betriebs, wie ein Trauernder, der zwischen Gräbern spazieren ging. Er trauerte um seine Hoffnungen und Träume. Trauerte um meine Mutter. Fast hatte ich Mitgefühl mit ihm, wenn ich nicht verdammt genau wusste, dass er zurückkommen und seine Wut über sein Scheitern und die miesen Karten, die das Leben ihm ausgeteilt hatte, an mir auslassen würde.
Ich berührte eine Narbe an meinem Kinn, fast bedeckt durch den leichten Bart, wo Paps eine Lampe auf mich geworfen hatte. Ein anderes Mal hatte er eine Eisenstange vom Schrottplatz mit reingebracht und verlangt, mehr davon zu finden und zum Recycling zu bringen. Als ich nicht schnell genug aufgesprungen war, hatte er mir den Arm gebrochen. Tod eines Handlungsreisenden hatte ich im Gips gespielt.
Als er das letzte Mal versucht hatte, mich zu schlagen, hatte ich mich gewehrt und ihm ein blaues Auge verpasst, das er dann in Nicky’s Tavern herumgezeigt hatte. Da hatten die Gerüchte in der Schule angefangen. Ich sei gewalttätig, reizbar und könne zuschlagen, genau wie mein Vater. Allerdings legte sich auch niemand mit mir an, und das war mir gerade recht.
Ich wandte mich vom Fenster ab und duschte in dem winzigen Badezimmer des Trailers, fror mir die Eier ab, als kühle Luft durch die Risse am Fenster hereinwehte. Ich trocknete mich ab und zog mich schnell wieder an – dieselben Jeans wie gestern. Danach zog ich ein sauberes T-Shirt an, ein Sweatshirt drüber und dann meine Jacke.
Paps kam gerade rein, als ich rauswollte.
»Wo willst du hin?«, sagte er und stellte sich mir in den Weg.
»Weg«, sagte ich. »Später arbeite ich im Theater. Heute Abend ist die Aufführung.«
»Weg.« Ein rauchiger Atemzug kam aus seiner Nase, als er mich in den Wohnwagen zurückdrängte. »Ist unter ›weg‹ mit eingeplant, wenigstens eine verfluchte Minute in der Tankstelle zu verbringen?« Er zeigte mit dem Daumen hinter sich auf den Hof. »Oder den Anrufbeantworter nach Anfragen für Autoteile abzuhören? Gute Ware verrostet, während du auf einer Bühne herumstolzierst.«
Ich knirschte mit den Zähnen. Seit einem halben Jahr hatte niemand mehr wegen Ersatzteilen angerufen. Unser Betrieb bestand darin, dass Paps sonntags in der Wexx-Tankstelle saß und ich rostige Schrottautos zerlegte, um brauchbare Teile zu gewinnen. Niemand kam tanken, und ich hatte schon hundertmal durchgesehen, was wir hatten.
»Bei dem Frost kann ich nicht arbeiten«, sagte ich.
»Blödsinn. Der ganze Hof steht voller möglicher Erträge, die nur wegen deiner Faulheit zum Teufel gehen.«
Mein Kiefer zuckte. Eine Ladung Metallschrott auf meinem Pick-up würde nicht einmal für eine Schachtel Zigaretten reichen. Bei den miesen Preisen würde ich mich wochenlang abrackern und brauchbares Metall zum Recycler bringen müssen, bis halbwegs etwas dabei heraussprang.
»Im Theater verdiene ich mehr«, sagte ich. »Wenn der Schnee schmilzt, können wir mit dem Recycling weitermachen.«
Und vielleicht könntest du die Tankstelle betreiben, wie es in deinem Franchise-Vertrag steht.
Paps’ Gesicht wurde rot, und ich fragte mich, ob er etwas versuchen würde. Ich richtete mich zu meiner ganzen Größe auf und senkte das Kinn. Inzwischen überragte ich ihn. Seit dem gebrochenen Arm vor drei Jahren hatte ich Gewichte gehoben, um sicherzugehen, dass er es sich zweimal überlegte, bevor er mit mir Streit anfing.
Aber er war nüchtern. Der Rest Anstand, den er im Leib hatte – viel konnte es nicht sein –, war heute Morgen noch nicht in Alkohol ersoffen. Trotzdem. Er schob sich an mir vorbei, der Geruch nach Whiskey und abgestandenem Rauch stieg mir in die Nase.
»Dann verpiss dich. Versager. Ich will dich nicht sehen.«
Beruht auf Gegenseitigkeit , sagte ich mir und knallte die Tür hinter mir zu. Unverletzt, aber mit dem Gefühl, als hätte er mich trotzdem geschlagen, mitten auf die Brust.
Ich fuhr nach Braxton. In dem Klamottenladen kaufte ich zwei neue Jeans, Socken und Unterwäsche. Die Dame an der Kasse sagte, es wären noch fast fünfzig Dollar auf der Karte übrig.
Meine Güte, Marty.
Ich ließ meine Einkäufe bei ihr stehen und ging in die Kinderabteilung. Ich fand eine wetterfeste Winterjacke – eine gute, kein billiger Scheiß – in Hellblau und im Angebot für 45,99. Ich hob sie hoch, um die Größe einzuschätzen, dann nahm ich sie mit zur Kasse.
»Für Ihren kleinen Bruder?«, fragte sie, als sie das Guthaben auf null korrigierte.
»Jepp«, sagte ich.
Sie lächelte. »Wie nett.«
Im Food Court der Mall holte ich mir ein Pizzastück und eine Dr Pepper, dann machte ich mich wieder auf nach Harmony. Ich hatte noch eine Stunde, bevor ich zur Arbeit im Theater musste. Ich fuhr zurück in mein Stadtviertel, nahm den Privatweg, der östlich der Pearce-Altautoverwertung entlangführte. Am hinteren Ende, wo der Zaun des Schrottplatzes an eine Reihe kleiner Häuser grenzte, parkte ich und stieg aus.
Ein verrosteter alter Pick-up lag umgekehrt vor dem Maschendrahtzaun. Wie ein vergessenes Requisit aus einem Actionfilm. In der Kabine hörte ich eine Stimme, die verhalten Nina Simones »Feeling Good« sang.
Ich pfiff leise auf zwei Fingern.
Der Gesang verstummte und Benny Hodges kletterte aus dem Wagen. Ein Grinsen blitzte in seinem dunklen Gesicht auf, bevor er es zum gelangweilten Desinteresse eines Dreizehnjährigen herunterdimmte.
»Wie geht’s, Bro?«, fragte er, wischte sich die Hände an den Jeans ab und stieß seine Faust gegen meine. »Happy Birthday.«
»Danke.«
»Mama hat dir was gemacht. Warte, ich hol’s eben.«
Er duckte sich durch ein Loch im Zaun, seine zu kleine Jacke flatterte, als er über das schneebedeckte Gras lief. Er ging ins Haus und kam mit einem Teller mit einem kleinen runden Kuchen zurück, der mit Frischhaltefolie abgedeckt war. Gabeln steckten in seiner Tasche und klirrten, als er über den Rasen rannte.
Er kletterte wieder unter dem Zaun hindurch und hielt mir den Kuchen hin. Er war mit weißer Frischkäseglasur überzogen. Obendrauf stand in oranger krakeliger Jungenschrift Happy Birthday, Isaac!
»Karottenkuchen«, sagte er und strahlte. »Den magst du am liebsten, oder? Und ich hab die Schrift gemacht.«
»Danke, Benny«, sagte ich, und mein Herz zog sich zusammen. »Sag Yolanda auch Danke.«
»Sie ist arbeiten, aber sie hat gesagt, ich soll dir gratulieren.« Er sah zu mir auf, unverhüllte Ungeduld in den braunen Augen. »Den essen wir jetzt, ja?«
Ich lachte. »Ja, machen wir. Aber zuerst …«
Ich stellte den Kuchen auf einem Sattelschlepperreifen ab und hielt Benny die Tüte aus dem Klamottenladen hin. Benny beäugte sie misstrauisch.
»Was ist das?«
»Eine Jacke.«
»Hab ich Geburtstag oder du?«
»Deine ist zu klein. Nimm sie.«
Er zögerte. Der Stolz hinderte ihn daran zuzugreifen.
Ich seufzte. »Deine Ma sorgt dafür, dass du ein Dach über dem Kopf hast?«
»Ja.«
»Und was zu essen auf dem Tisch?«
Er nickte.
»Ganz genau«, sagte ich. »Und wie oft macht sie etwas für mich und Paps?«
Benny kratzte sich mit einem Finger am Kinn. »Einmal die Woche?«
»Mindestens. Sie kümmert sich um uns.« Ich hielt ihm die Tüte hin. »Und wir kümmern uns um dich. Nimm schon.«
Er nahm sie.
»Die Kids in der Schule haben mich geärgert …« Er zog die alte Jacke aus und die neue an. Zog den Reißverschluss bis zum Kinn hoch und strich die Ärmel glatt. Er lächelte, und einen Moment lang war er ein ganz gewöhnlicher Junge, nicht ein junger Mann ohne Vater, der gezwungen war, schnell erwachsen zu werden.
»Sie ist warm«, sagte er.
»Gut.«
Wir gaben uns die Hand, dann umarmte er mich halb und klopfte mir männlich auf den Rücken.
»Danke, Bro«, sagte er mit belegter Stimme und hielt mich ein bisschen länger fest als nötig. Ich ließ ihn.
Ich hatte Benny vor drei Jahren getroffen. Oder, besser gesagt, gefunden, hier am Zaun. Er hatte an den Reifen des Sattelschleppers gekauert und um seinen Vater geweint, der in Afghanistan getötet worden war, als Benny fünf war. Er wollte nicht so dicht am Haus heulen. Mama würde es sehen und sich Sorgen machen , hatte er erklärt. Er hatte mir gesagt, dass er sich jetzt um sie kümmern müsste. Ich hatte ihm gesagt, dass ich mich genauso um Paps kümmerte. Seitdem waren wir Freunde.
Benny ließ mich los, und der gefühlvolle Moment wehte in der kalten Luft davon.
»Wie war die Schule diese Woche?«, fragte ich, als wir den Kuchen aßen.
»Okay«, sagte Benny. »Physiktest.«
»Und?«
»Geht so.«
»Du bist zu klug für ›geht so‹. Du musst lernen. Du passt doch auf, dass du keinen Ärger kriegst?«
»Jo. Und du?«
Ich sah mit erhobenen Augenbrauen zu ihm hinunter. »Immer.«
Er lachte. »Klar. Wer ist diese Woche deine neue Freundin?«
»Hab keine.«
»Quatsch. Du bist der König der Sexdates.«
»Weiß deine Ma, dass du so redest?«
»Nö.«
»Meine Güte.«
Er zuckte mit den Achseln. »Es ist ihr egal.«
So wie ich Yolanda Hodges kannte, war es ihr ganz und gar nicht egal. Und ihr war auch nicht egal, was ich für ein Vorbild für ihren Sohn abgab. Aber eines Abends hatte ich ihn mit meinem Telefon spielen lassen, und er hatte eine nicht altersgerechte Nachricht von einer der Frauen gesehen, mit denen ich manchmal Sex hatte. Um den Druck rauszunehmen.
Natürlich hatte Benny tausend Fragen gestellt. Ich hatte ihm damals keinen Blödsinn erzählt und würde jetzt nicht damit anfangen.
»Hör zu«, versuchte ich, ein paar kluge Worte zu sagen. Mein Kiefer bewegte sich wie auf einem rostigen Scharnier. »Du musst alle Mädchen anständig behandeln. Egal was. Egal wann.«
»Mach ich.«
»Ich bin nicht untreu. Die Mädchen, die ich –«
»Vögel? Flachlege? Bumse?«
Ich sah zu ihm hinunter. Er grinste zu mir hoch.
»Meinetwegen«, sagte ich. »Diese Mädchen. Wir haben eine Abmachung. Es ist okay, dass ich nicht mit ihnen zusammen bin oder mit ihnen ausgehe oder sie ständig anrufe. Sie sind nicht meine Freundinnen und erwarten das auch nicht. Manchmal mögen Mädchen es, zu …«
»Bumsen? Vögeln? Flachgelegt zu werden?«
Ich lachte leise. »Ja. Genau. Da ist nichts verkehrt dran, solange alle einverstanden sind, okay?«
Benny schielte zu mir hoch und runzelte die Stirn. »Warum führst du so komische Aufklärungsgespräche mit mir?«
»Es ist wichtig.«
Er dachte kurz darüber nach, dann zuckte er mit den Achseln. »Okay.«
Wir aßen unseren Kuchen, als die Sonne durch das Grau brach und der rostige Pick-up glänzte. Benny summte »Feeling Good«.
»Seit wann kennst du Nina Simone?«, fragte ich.
Er blinzelte. »Wen?«
»Der Song eben.«
»Ich kenn keine Nina. Den hab ich aus dem Jay-Z-Video.«
»Okay, das kann sein.«
»Heute ist dein letzter Auftritt?«, fragte er.
»Der letzte Ödipus, ja.«
»Bist du traurig deswegen?«
»Nicht wirklich«, sagte ich.
Aus irgendeinem Grund kam die Erinnerung an Willow Holloway zurück, wie sie mit dem Programm in der Hand vor dem Theater gestanden hatte.
Ich sah zu Benny, dessen eine Wange mit Frischkäse verschmiert war, und lächelte ein bisschen. »Es war ein guter Geburtstag.«