8. KAPITEL
Isaac
»Nun, Isaac?« Mr Dillings, der Rektor, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und trommelte mit den Fingern auf seiner Brust. »Als Pädagoge ist es nicht meine Gewohnheit, Schüler zu ermutigen, das Jahr nicht zu beenden und den GED-Test zu machen … aber ich fürchte, wir sind langsam am Ende angelangt.«
Ich erwiderte unverwandt seinen Blick. Das kam nicht zum ersten Mal zur Sprache. Als ich mitten im letzten Schuljahr achtzehn geworden war – und in eine Prügelei mit drei von Ted Bowers’ Kumpels geraten war –, hatte Dillings auch schon vorgeschlagen, dass ich das GED machte. Ich hätte einen Vollzeitjob annehmen und Paps mit den Rechnungen helfen können, und die Demütigung, ein Jahr ausgesetzt zu haben, hätte sich einfach in Luft aufgelöst.
Aber das General Education Diploma war nicht dasselbe wie ein normaler Highschool-Abschluss. Es roch nach Schulabbrecher. Und ich wollte zur Schule gehen. Der Tod meiner Mutter hatte mich aus dem Fluss des Lebens gerissen, und ich hatte wie ein Fisch auf dem Trockenen gelegen und zappelnd nach Luft geschnappt. Ich war wieder in den Fluss gestiegen, in der Hoffnung auf ein kleines Stück Normalität. Stattdessen hatten die Armut, der Alkoholiker-Dad und das verlorene Schuljahr sich gegenseitig verschlimmert, bis nur noch das Schauspielen mich retten konnte. Auf der Bühne spielte ich, um die Dämonen auszutreiben, die in meinem Herzen brüllten. In der Schule spielte ich den Kriminellen, damit man mich nicht in Stücke riss.
Meine Mutter hatte gewollt, dass ich die Schule abschloss.
Geh weiter zur Schule, Schatz , hatte sie immer wieder gesagt. Die Welt wird versuchen, dir Dinge wegzunehmen, aber niemand kann dir deinen Verstand wegnehmen und das, womit du ihn füllst .
Tausendmal hatte ich aufhören wollen, und ihre Worte hatten mich immer dazu gebracht, weiterzumachen. Außerdem wollte ich Benny ein Vorbild sein. Was würde es ihm vermitteln, wenn ich von der Schule abging?
»Es ist an der Zeit, nicht wahr?«, fragte Mr Dillings. »Es sind nur noch sechs Monate bis zum Abschluss. Wenn es Ihnen wichtig ist, können Sie mit den anderen an der Abschlussfeier teilnehmen …« Stumm gab er mir zu verstehen: Wir wollen Sie hier nicht mehr .
»Klar«, sagte ich und stand auf. »Ich bin hier fertig.«
Dillings ließ einen erleichterten Seufzer hören und stand mit mir auf. Er zog sein billiges Jackett zurecht. »Ich denke, es ist das Beste. Sie sind ein kluger junger Mann mit einem großartigen Talent. Ich habe keine Zweifel –«
Ich ging hinaus und machte die Tür hinter mir zu, unterbrach, was auch immer er mir für einen Rat aufdrängen wollte.
Die Gänge waren leer. Niemand sah mich, als ich die George Mason Highschool verließ. Ich holte nicht einmal mehr meine Sachen aus dem Schließfach und ging über den Parkplatz zu meinem Dodge. Ich machte den Motor an, aber ließ ihn im Leerlauf. Ich wusste nicht, in welche Richtung ich fahren, welche Straße ich nehmen sollte.
Paps würde erwarten, dass ich in unserem toten Betrieb arbeitete, aber da konnte man nichts verdienen. Und dass Martin sich im Theater eine Vollzeitkraft leisten konnte, bezweifelte ich. Vielleicht konnte ich mir in einer Werkstatt in Braxton einen Job suchen und ein bisschen richtiges Geld verdienen, um mein lächerliches Sparkonto aufzubessern.
Ich blickte zur George Mason zurück.
»Und wennschon«, sagte ich, als könnte ich die Worte in meinem Herzen zementieren, wenn ich sie laut aussprach. »Ich scheiß auf diese Schule.«
Willow Holloway …
Natürlich tauchte ein schönes Mädchen wie sie genau drei Tage vor meinem Rauswurf auf. Ich kannte sie nicht, und sie kannte mich nicht, aber sie war der erste Lichtblick in der beschissenen Welt außerhalb der Bühne. Es würde nie etwas zwischen uns passieren, aber ich hatte begonnen, mich darauf zu freuen, in Englisch neben ihr zu sitzen. Ihren lieblichen Duft zu riechen und zu sehen, wie ihr das weiche Haar über die Schultern fiel. Mein Blick war ihr überallhin gefolgt, und ich hatte sofort gesehen, dass Ted und seine Gang ihr wahnsinnige Angst gemacht hatten.
Der verfluchte Ted Bowers. Er hatte Willow angesehen, als wäre sie eine Mahlzeit, die er verschlingen würde. Als hätte er das Recht , sie zu verschlingen. Ich hatte ihm das obszöne Grinsen direkt aus dem Gesicht boxen wollen, aber hatte mich zurückgehalten. Erst als Ted eine Bemerkung über meine Mutter gemacht hatte, hatte ich die Kontrolle verloren.
Ich zündete mir eine Zigarette an und bewegte vorsichtig meine schmerzenden Finger. Es fühlte sich scheiße an, von der Schule geflogen zu sein. Aber wenigstens hatte ich Ted Bowers eine verpasst, für meine Mutter und für Willow Holloway, und das machte es erträglicher.
Ich legte den Gang ein und fuhr vom Parkplatz.
Zurück beim Trailer parkte ich im Hof, aber stieg nicht aus. Der Gedanke, hineinzugehen und Paps entgegenzutreten, machte mich so verdammt müde. Er hatte ständig gemeckert, ich solle die Schule aufgeben und mehr arbeiten, aber dass ich von der Schule geflogen war, würde ihm nur eine Rechtfertigung liefern, seine nie versiegende Wut an mir auszulassen.
Anstatt reinzugehen, lief ich über schmutzigen Schnee und Matsch zum östlichen Ende des Grundstücks. Bei dem Reifen des Sattelschleppers wollte ich gerade eine Zigarette aus einer frischen Packung Winstons klopfen, als eine leise Stimme mich innehalten ließ. Es war höchstens zehn Uhr morgens, aber Benny saß unter dem umgedrehten Pick-up und rappte flüsternd vor sich hin.
Ich packte die Zigaretten weg und pfiff. Benny streckte den Kopf hervor, riss die Augen auf und nahm die Kopfhörer aus dem Ohr.
»Hi Isaac, Mann. Was machst du hier?«
»Ich könnte dich dasselbe fragen.« Ich warf ihm einen strengen Blick zu. »Warum bist du nicht in der Schule?«
Er starrte zurück. »Und du?«
Ich schob die kalten Finger in meine Jackentasche. »Ich hör auf. Ich mach stattdessen das GED.«
Benny kam unter dem Pick-up hervor. »Du brichst die Schule ab?«
»Ich bin neunzehn«, sagte ich. »Ich bin erwachsen. Es ist die richtige Entscheidung. Du andererseits schwänzt, und deine Mom könnte deswegen Ärger kriegen.«
Er zog eine Grimasse, aber ich sah das schlechte Gewissen in seinen Augen. »Ich hatte keine Lust.« Er zupfte an der Jacke, die ich ihm gekauft hatte. »Wenn man kein Geld hat, kann man genauso dafür geärgert werden, neue Sachen anzuhaben wie alte.«
»Aha. Machst du das oft?«
»Nein.«
»Ist das die Wahrheit?«
»Es ist die Wahrheit«, sagte er, und ich glaubte ihm. Es war unser Ding – ich und dieser dreizehnjährige Junge und unsere schräge Freundschaft. Wir waren ehrlich zueinander, bei allem.
Ich setzte mich auf den Sattelschlepperreifen. Benny hockte sich neben mich.
»Was ist passiert?«, fragte er.
»Ich hab einem Typen eine reingehauen.«
Benny riss die dunklen Augen auf. »Echt? Wem? Warum?«
»Einem Arschloch, das einem Mädchen zu nahe gekommen ist.«
»Ohh, ein Mädchen?« Er stieß mich gegen den Arm.
»Ja. Es gibt Mädchen auf der George Mason.«
»Wer ist sie? Wie heißt sie?«
»Das ist egal. Ich werd sie wahrscheinlich nicht wiedersehen. Oder vielleicht doch …« Ich verstummte, dachte an Willows Reaktion, als Paulson das Vorsprechen für Hamlet erwähnt hatte – als hätte jemand ihren Namen gerufen.
»Du willst sie wiedersehen«, sagte Benny und grinste. »Yeah, du willst. Du magst sie.«
Ich stieß ihn mit dem Ellbogen an. »Wie zum Teufel kommst du darauf?«
»Erstens bist du ihretwegen von der Schule geflogen«, sagte er. »Und zweitens ist dein Gesicht gerade ganz weich und schnulzig geworden.«
»Ist es nicht«, sagte ich.
»Wie heißt sie?«
»Willow.«
Er zog die Nase kraus. »Das ist der weißeste Weiße-Mädchen-Name, den ich je gehört hab.«
Ich lachte. »Außerdem ist sie superreich. Und jung.«
Und absolut tabu.
Mein Lächeln schwand. »Warum rede ich überhaupt mit dir über sie? Schwing deinen Arsch in die Schule! Morgen und übermorgen komme ich vorbei, um sicherzugehen.«
Benny verdrehte die Augen. »Ist ja gut.«
Wir schwiegen.
»Wirst du die Schule vermissen?«, fragte er.
»Nein.« Ich sah ihn von der Seite an. »Doch. Zum Teil.«
»Ja?«
Ich nickte. Ich hätte gern eine geraucht. Benny wusste, dass ich rauchte, aber in seiner Gegenwart ließ ich es bleiben.
»Welchen Teil?«, fragte er. »Mir fällt nämlich nichts ein, was ich vermissen würde.«
»Du würdest es vermissen, Sachen zu machen, die Kids tun. Mit deinen Freunden Sport machen. Nach der Schule mit ihnen abhängen. Auf Partys gehen.«
»Ja, vielleicht«, räumte Benny ein.
»Ich werde nicht den ganzen Tag abhängen und nichts tun. Ich werde arbeiten müssen.« Ich zupfte an seinem Ärmel. »Und du musst zur Schule. Jetzt. Ich fahr dich hin.«
»Auf keinen Fall. Sie würden Ma auf der Arbeit anrufen. Ich hab keine Entschuldigung.«
»Ich schreib dir eine.« Ich stand auf. »Komm schon. Es ist kalt.«
Er seufzte und hüpfte theatralisch von dem Reifen runter. »Hey, wird dein Dad sauer sein, dass du nicht mehr zur Schule gehst?«
»Wahrscheinlich.«
»Wird er versuchen, dich zu schlagen?«
»Vielleicht.«
»Isaac.« Benny blieb stehen und sah ängstlich zu mir auf. »Du wirst bald aus Harmony weggehen.«
Ehrlichkeit. Auf der Bühne und bei Benny. Daran hielt ich fest.
»Ja«, sagte ich. »Werde ich.«
Benny schluckte, wischte sich über die Augen und nickte dann. »Gut.«