9. KAPITEL
Willow
An diesem Nachmittag half Angie mir, Stücke und Bücher mit Monologen zum Vorsprechen anzugucken. Während sie suchte, blätterte ich durch Hamlet
und überflog Ophelias Szenen. Die Worte waren auf Englisch, aber ich brauchte eine Übersetzung. Was zum Teufel meinte
Shakespeare? Ich fand in Ophelias Text nicht rein.
»Konzentrier dich«, sagte Angie und nahm mir das Buch weg. »Du kannst nicht mit Hamlet
für Hamlet
vorsprechen. Das macht man nicht. Such dir einen anderen Monolog von Shakespeare, um zu zeigen, dass du damit klarkommst.«
»Aber ich komme nicht damit klar«, sagte ich. »Ich habe keine Ahnung, was ich tue oder worum es in diesem Stück überhaupt geht.«
Angie nahm einen falschen spanischen Akzent an: »Lass es mich dirr erklären, Señorita.« Dann redete sie normal weiter. »Nein, es ist viel zu viel. Ich fasse zusammen: Hamlet ist Prinz von Dänemark. Sein Dad, der König, ist tot, und obwohl es erst zwei Monate her ist, heiratet seine Mom Claudius, den Bruder seines Dads. Jetzt ist Claudius König. Hamlet findet das gar nicht gut.«
»Klingt nach Shakespeare.«
»Eines Nachts sehen drei Wachen ein Gespenst und erzählen es Hamlet. Der sieht es auch. Es ist sein Dad. Dad sagt, Claudius habe ihm Gift ins Ohr geträufelt und ihn umgebracht. Hamlet ist total durch den Wind. Aber vorher hat er Ophelia gedatet, Polonius’ Tochter. Polonius ist Claudius’ rechte Hand. Polonius sagt Ophelia, dass Hamlet eine Schraube locker hat und sie mit ihm Schluss machen soll.
Ophelia und Hamlet lieben sich, aber du weißt ja: das verfluchte Patriarchat! Sie gibt dem Druck nach und ist einverstanden, mit Hamlet Schluss zu machen. Ham ist am Boden zerstört und schimpft, dass alle Frauen miese, untreue Schlampen sind, Ophelia solle in ein Kloster gehen und sich bloß nicht fortpflanzen. Dann stellt Ham seine
Mom zur Rede, während Polonius heimlich lauscht und – hoppla! – Hamlet bringt Polonius um.
Ophelia, die ihren Liebsten und
ihren Dad verloren hat, verliert jetzt auch noch den Verstand. Sie dreht durch, singt ein paar schmutzige Songs über Sex und ertränkt sich im Fluss. Dann passieren noch ganz viele andere Sachen, bis so ziemlich die gesamte Besetzung tot ist. Und Vorhang.« Angie holte tief Luft und lächelte strahlend. »Hast du das?«
Ich starrte sie einen Moment an, dann fing ich langsam an zu klatschen. »Angie, ich kann nicht mal …«
»Ich weiß«, sagte sie lachend. »Ich staune selbst manchmal über mich.«
Selbst mit Angies mündlichem Kommentar sah Shakespeare für mich immer noch aus wie eine Fremdsprache. Ich würde mit fliegenden Fahnen untergehen, sollte ich versuchen, mit einem seiner Monologe vorzusprechen.
Ich wollte das Ganze schon zum millionsten Mal aufgeben, als ich die Zusammenfassung eines Stücks mit Namen Tagträumer
las. Die Hauptfiguren waren Rose, eine schüchterne, weltabgewandte junge Frau, und Cliff, der einsame Lastwagenfahrer, den sie eines Abends mit nach Hause nimmt.
Tränen traten mir in die Augen, als ich Roses Monolog las, eine Erinnerung an eine Nacht im New Yorker Zoo. Sie ging immer hin, um die eleganten Kraniche im stillen dunklen Wasser stehen zu sehen. Eines Nachts kamen ein paar randalierende Jungs durch den Zoo, redeten laut und hatten dröhnende Musik dabei. Sie bewarfen die Vögel mit Steinen, brachen ihnen die Beine und töteten sie, während Rose schrie und schrie …
Ich las ihn ein zweites Mal. Dann noch einmal, und er ging mir wirklich nah.
Ich hatte einen Monolog zum Vorsprechen.
Besteck stieß gegen Porzellan. Dad hielt in einer Hand eine Gabel, in der anderen das Telefon. Mom stocherte in ihrem Soufflé herum, dann legte sie die Gabel weg, nahm die Weinflasche und schenkte sich ein drittes Glas ein. Ich aß beim Abendessen mehr als sonst. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal solchen Hunger
gehabt hatte, nicht nur auf das Essen, sondern auf die Tage, die vor mir lagen. Ich hatte etwas, worauf ich mich freuen konnte, selbst wenn ich mich vor dem Leiter des HCT blamierte.
Aber ich versuche es. Das ist etwas.
Ich lächelte ein wenig und dachte, dass Grandma sich freuen würde. Zum ersten Mal, seit X mich markiert hatte, saß ich nicht da wie ein Eisblock und versuchte, das Abendessen zu überstehen, um dann halbherzig die Hausaufgaben zu machen und mich schließlich auf dem Fußboden in die Decke zu wickeln und zu hoffen, schlafen zu können.
»Ich habe mir eine außerschulische Aktivität überlegt.«
Die Köpfe meiner Eltern schossen synchron hoch, es sah fast komisch aus.
»Wirklich?« Mein Dad kaute langsam und schluckte runter. »Das ist erfreulich.«
»Ein bisschen zu spät«, murmelte Mom. »Die Bewerbungsfristen der besten Colleges sind schon verstrichen. Das Beste, was sie tun kann, ist erst einmal aufs Community College zu gehen – Gnade uns Gott! – und dann zu versuchen, sich zum nächsten Frühjahr zu bewerben.«
»Was ist so schlimm am Community College?«, fragte ich. »Außerdem bin ich mir nicht sicher, ob ich überhaupt studieren will.«
Sie sah gequält aus. »Natürlich studierst du. Warum solltest du nicht studieren?«
»Regina«, sagte Dad warnend. Er sah mich an. »Über das Studium können wir später reden. Sag erst, was du entschieden hast. Debattierclub? Du warst immer gut im Debattieren.«
»Ich werde für das Stück im Harmony-Community-Theater vorsprechen.«
Mein Dad sah mich starr an, die Art, wie sein Kiefer arbeitete, bedeutete, dass er viel dazu zu sagen hatte, auch wenn ich keine Ahnung hatte, was.
Mom schniefte, als würde sie etwas Unangenehmes riechen. »Theater?«
»Ja.«
Mein Vater kaute langsam die grünen Bohnen, schob sie von
einer Seite auf die andere, bevor er sie hinunterschluckte und sich den Mund mit einer Serviette abwischte. »Nun, das ist ein bisschen sehr außerschulisch …«
»Ich will das machen«, sagte ich.
»Warum?«, fragte Mom in einem Tonfall, als wollte ich mich einem Zirkus anschließen.
»Ich habe gerade gesagt, warum«, sagte ich. »Als außerschulische Aktivität.«
Mein Vater fixierte mich mit seinem härtesten Blick. »Es ist nicht wegen dieses Jungen, oder?«
Ich erstarrte.
Er weiß es. Er weiß von X. Und der Party. Und was passiert ist …
Mom sah zwischen uns hin und her. »Welcher Junge? Wer …?«
Mein Dad legte seine Serviette weg, für ihn waren meine Starre und mein Schweigen Bestätigung genug, dass alles, was er sagen würde, der Wahrheit entsprach.
»Ein Kollege hat eine Tochter auf der George Mason. Als er erfuhr, dass auch meine Tochter dorthin geht, musste ich mir einiges über einen Jungen namens Isaac Pearce anhören.«
Mit einem erleichterten Seufzer sackte ich kurz zusammen. Dann flammte Empörung in mir auf, und ich strangulierte unter dem Tisch meine Serviette. Mein Vater, der kaum die Namen meiner New Yorker Freunde kannte, kam jetzt plötzlich mit Isaac Pearce an. Warum mischte er sich in mein Leben ein, wo es zu spät war? Warum hatte ihm nicht irgendein verdammter Kollege einiges über Xavier Wilkinson erzählt?
»Wer ist dieser Isaac Pearce?«, fragte Mom.
»Ein Typ aus der Schule«, sagte ich. »Ich kenne ihn kaum –«
»Gary Vance, ein Kollege von mir, sagt, Isaac ist in der zwölften Klasse, aber viel älter als die anderen. Er hat ein Jahr aussetzen müssen, und angeblich hat er Ärger mit dem Gesetz –«
»Er musste ein Jahr aussetzen, weil seine Mutter gestorben ist und er ein Jahr lang nicht geredet hat«, schimpfte ich. »Bei dir klingt es, als wäre er schwachsinnig oder verwahrlost. Das stimmt beides nicht.«
Mein Vater schürzte die Lippen und nickte bei sich, als hätte ich gerade seinen schlimmsten Verdacht bestätigt. »Gary sagt, er wohnt
bei seinem Trinker-Vater in einem Trailer auf einem Schrottplatz und, was schlimmer ist, sein Vater ist einer unserer Franchisenehmer. Gary sagt, seine Tankstelle ist eine Schande.«
Die Hand meiner Mutter huschte an ihre Kehle. »Mein Gott, Willow.«
»Was?« Wütend betrachtete ich die selbstgerechte Miene meines Vaters. »Ihr seid ja überhaupt nicht voreingenommen. Er ist also nicht durch schmutziges Ölgeld reich geworden wie wir. Na und?«
»Schmutzig«, sagte meine Mutter schnaubend. »Wer ist hier voreingenommen?«
»Mal ganz abgesehen von den geschäftlichen Aspekten, der Junge hat einen Ruf«, sagte Dad, als wäre er der offizielle Familienhistoriker der Familie Pearce. »Offensichtlich ist er so was wie ein Schauspieler. Er spielt in Stücken am Community-Theater.«
Aus dem Mund meines Vaters klang es wie: Er verkauft Drogen an kleine Kinder.
Mom drehte sich rasch zu mir um. »Willst du deshalb Theater spielen? Um diesem Jungen hinterherzulaufen?«
»Das ist das Erste, woran ihr denkt?«, rief ich. »Wisst ihr was? Isaac Pearce ist kein Krimineller. Zufällig hat er mich heute vor so einem dämlichen Idioten beschützt, aber trotzdem, trotzdem
…« Ich schrie jetzt gegen ihre wissenden Blicke an. »Ich will nicht seinetwegen vorsprechen. Gott, könnt ihr mir einmal vertrauen, verdammte Scheiße? Ihr wolltet, dass ich etwas mache, und ich mache etwas.«
»Achte auf deine Wortwahl«, sagte Dad, und seine Stimme wurde strenger. »Und wir sollten nicht vergessen, dass du noch nie im Leben geschauspielert hast. Plötzlich willst du vor der ganzen Stadt auf der Bühne stehen?«
»Wird Isaac Pearce
auch vorsprechen?«, fragte Mom und sprach seinen Namen wie ein Schimpfwort aus.
»Ja«, sagte ich und kämpfte darum, meine Wut unter Kontrolle zu halten. »Und wahrscheinlich bekommt er die Hauptrolle, weil er brillant ist. Und, um noch mal aufs Thema zurückzukommen, ich werde wahrscheinlich keine
Rolle bekommen. Denn, Zitat: Ich habe noch nie im Leben geschauspielert
. Also vergesst einfach, was ich gesagt habe.«
»Wir möchten nicht, dass du mit solchen Jungen Umgang hast«, sagte Mom, an der offensichtlich alles, was ich gerade gesagt hatte, vorbeigegangen war. »Wir sind hergekommen, damit du neu anfangen kannst, aber du treibst dich natürlich sofort mit den schlimmsten Elementen herum –«
»Oh, mein Gott«, sagte ich und verdrehte die Augen. »Hörst du, wie lächerlich das klingt? Es gibt ganz verschiedene Arschlöcher, Mom. In der Stadt oder auf dem Land, arm oder reich.«
Vor allem Söhne von CEOs.
»Und ich treibe mich mit niemandem herum. Ich versuche nur …«
Mich in der Dunkelheit zu finden.
Dad und Mom tauschten Blicke, in denen sie ihn stumm darum bat, dem ein Ende zu setzen. Dad faltete seine Serviette auf dem Tisch, was er immer tat, wenn er eine Entscheidung getroffen hatte. »Ich werde dir nicht verbieten, vorzusprechen, wenn du glaubst, dass du das willst. Aber egal, was passiert«, sagte er, »deine Beziehung zu diesem Pearce – im Theater und in der Schule – wird absolut professionell bleiben. Er ist vor dem Gesetz ein Erwachsener. Du bist siebzehn. Verstehst du, was das bedeutet?«
»Es bedeutet rein gar nichts«, hörte ich mich sagen. »Himmel, du tratschst schlimmer als die Kids in der Schule.«
Innerlich wand ich mich, als ich daran dachte, was passieren würde, wenn Dads Informant ihm erzählte, dass Isaac suspendiert worden war, weil er Ted Bowers geschlagen hatte. Meine Eltern waren für mich keine moralische Instanz. Eins der vielen Dinge, die mir egal waren, seit X mit mir fertig war. Aber sie konnten alles sehr kompliziert machen, falls ich durch irgendein Wunder eine Rolle in Hamlet
bekam.
Ich dämpfte also die Stimme. »Es ist keine große Sache«, sagte ich. »Ich spreche vor, weil ich etwas Neues ausprobieren will. Es hat nichts mit irgendeinem Typen zu tun.«
»Das will ich hoffen«, sagte Mom. »In dieser Stadt gibt es ohnehin nicht gerade viele gute Familien.«
»Um Himmels willen, Regina«, sagte Dad. »Hast du mal einen Blick aus dem Fenster geworfen? Die Häuser in dieser Straße sind alle so groß und schön wie unseres.«
»Es gibt ein New-York-City-wohlhabend und ein Provinz-wohlhabend«, sagte Mom und hob das Weinglas an die Lippen. »Das ist ein Unterschied, und das weißt du.«
»Du bist also gegen den gesamten Bundesstaat Indiana voreingenommen«, sagte ich. »Und Dad ist gegen einen armen Typen voreingenommen, der in einem Trailer wohnt. Herzlichen Glückwünsch, ihr seid beide gleich oberflächlich.« Ich stand auf und nahm meinen Teller. »Mir ist der Appetit vergangen.«
Ich hatte nie so mit meinen Eltern geredet. Nie! Aber ich ignorierte Moms leisen Aufschrei und Dads gebrüllten Befehl, dass ich mich wieder hinsetzen solle. Ich stampfte in die Küche und stellte den Teller in die Spüle.
Und dann fühlte ich mich schlecht.
Ich seufzte. Hätten die Dinge anders gelegen, wäre ich genauso pampig und voller Vorurteile gegen Indiana gewesen wie Mom. Garantiert. Ich kam aus Manhattan. War dort geboren und aufgewachsen. Mein altes Ich hätte über die George Mason die Nase gerümpft und über jeden und alles ein Urteil gefällt, bevor es auch nur einen Fuß hineingesetzt hätte.
X hatte das verändert. Du kannst auf niemanden herabsehen, wenn dein eigenes Selbstwertgefühl in den Dreck geworfen, in Stücke gerissen und angepisst worden ist.
Ich mochte
Harmony. Ich mochte Angie und ihre Clique. Ich mochte Isaac, weil er heute in der Schule für mich eingetreten war und wegen der Möglichkeiten, die er mir durch den Ödipus
gezeigt hatte. Jemanden zu mögen fühlte sich nach den Monaten erstarrter Apathie wie etwas Zerbrechliches an. Ich musste es schützen, bevor es mir aus den Händen glitt und ebenfalls zerbrach.
Ich ging wieder ins Esszimmer. »Es tut mir leid, dass ich so mit euch geredet habe. Ich schwöre, ich spreche nicht wegen irgendeines Jungen vor, sondern weil ich es will. Darf ich hochgehen und meine Hausaufgaben machen?«
Meine Eltern starrten mich an.
»Hausaufgaben?«, fragte Mom. »Das ist das erste Mal, dass du dieses Wort –«
»Ja«, unterbrach mein Vater sie. »Aber noch so ein Ausbruch, und du kannst das Theaterstück vergessen. Haben wir uns
verstanden?«
»Verstanden.«
Und das hatte ich wirklich. Dad hatte auf der Arbeit absolut nichts zu sagen, aber in unserem Haus war er der Boss und regierte mit eiserner Hand. Vorher hatte mich das nicht gestört, weil ich immer seiner Meinung gewesen war. Daddys kleines Mädchen.
Xavier hatte auch das ausgeixt.
Ich rannte nach oben. Hinter der verschlossenen Tür holte ich den fotokopierten Monolog aus Tagträumer
aus dem Rucksack. Ich las die Worte immer wieder, verlor mich in Roses Welt. Machte ihre Worte zu meinen.
Es war leicht.
Sie gaben Rose eine Spritze, damit sie aufhörte zu schreien. Sie schrie nach außen, wie ich innerlich schrie. Immer weiter, den ganzen Tag, jeden Tag schrie es tief in mir. Schreien wie kotzen. Schreien, bis das Geräusch meine Knochen zersplittern ließ. Wenn ich den Mut aufbrachte, in den Spiegel zu sehen, erschrak ich, dass ich noch ganz war. Ich hatte Bücher über Leute gelesen, die verrückt wurden. Wie war es möglich, dass ich noch diesen »Einen Schritt nach dem anderen«-Scheiß machte?
Du brennst noch
, flüsterte Grandma.
Ich klappte meinen Laptop auf und gab die URL für das Theater ein. Die Seite lud und man sah ein schmeichelhaftes Bild des Backsteingebäudes unter einem blauen wolkenlosen Sommerhimmel. Gleich darunter kamen Bilder vom letzten Stück, König Ödipus
, fast alle vom bärtigen und blutüberströmten Isaac Pearce, dessen nackte Emotionen vom Bildschirm trieften.
Unten auf der Seite war ein Anmeldeformular für das Vorsprechen. Ich gab meinen Namen und die Kontaktdaten ein, dann klickte ich auf Senden
.