15. KAPITEL
Willow
Samstagvormittag schnappte ich mir mein Telefon und schrieb Angie.
Hilfe!
Bist du von Piraten entführt worden? , schrieb sie zurück. Samstags schlafe ich nämlich aus, Holloway.
Ich muss den Tag mit Isaac verbringen.
Mein Telefon leuchtete auf. Ich sah Angies Nummer und ging ran. »Ja, ich meine es ernst.«
»Warum? Wann? Wie ist das passiert?« Ihre Stimme war zur Hälfte schläfrig und zur Hälfte empört. »Wow. Ist das – dramatische Pause – ein Date?«
»Auf keinen Fall«, sagte ich und meine feste Stimme täuschte über das Flattern in meinem Magen hinweg. »Mr Ford hat uns gebeten, etwas zusammen zu machen und uns besser kennenzulernen. Damit wir auf der Bühne nicht so verlegen sind.«
»Hört sich glaubwürdig an«, sagte Angie. »Und was ist mit dem SOS?«
»Ich brauche eine Mitfahrgelegenheit in die Stadt, um Isaac zu treffen.«
»Kann Isaac nicht fahren? Wenn ich mich nicht irre, hat er einen alten blauen Pick-up. Moment mal.« Ihre Stimme wurde leiser. »Dir ist es doch nicht peinlich, in seinem Wagen gesehen zu werden, oder?«
»Meine Güte, ich bin nicht komplett oberflächlich.«
»Ich weiß, aber wir kleinen Leute müssen gegen die Bourgeoisie zusammenhalten.«
»Du hast zu oft Marie Antoinette gesehen.«
»Das geht gar nicht. Sofia Coppola ist eine Göttin.« Sie gähnte. »Worüber haben wir noch gleich gesprochen?«
»Meine imaginären Vorbehalte gegen Isaacs Pick-up«, sagte ich. »Das eigentliche Problem ist mein Dad. Er hat mir verboten, Isaac außerhalb der Proben zu sehen. Er wird mir niemals glauben, dass wir den Tag miteinander verbringen, weil der Regisseur das angeordnet hat. Er wird mich aus dem Stück nehmen.«
»Hmmm, ein echtes Dilemma. Also gut, Cinderella. Wann brauchst du mich?«
»Ich treffe mich um eins mit Isaac.«
»Deine Kutsche wird Viertel vor eins vorfahren, aber den Rest des Tages muss ich Jahrbuchzeug erledigen. Ich kann deinen Hintern nicht wieder nach Hause schaffen, wenn dein Nicht-Date mit Isaac Pearce vorüber ist.«
»Ich überleg mir was. Danke, Angie.«
Ich setzte mich auf die Fensterbank in meinem Zimmer und betrachtete die Umgebung. Langsam wurde es wieder grün. Der Schnee war weg, und an dem klaren Himmel, wie ich ihn in Manhattan nie gesehen hatte, stand hoch und strahlend die Sonne. Sie warf lange Streifen auf den Hartholzboden und den Deckenhaufen, der noch dort lag.
Ich hatte nicht wirklich gut geschlafen, aber keine Angstanfälle gehabt. Stattdessen war ich mit den Gedanken, immer wenn ich aufgewacht war, bei den Proben gewesen.
Und bei Isaac.
Er war bei der Probe kalt und grob zu mir gewesen. Nein, Korrektur, Hamlet war grob zu Ophelia gewesen. Die Szene verlangte es, und ich musste das aushalten. Dafür hatte ich mich gemeldet. Ich konnte professionell sein und es nicht persönlich nehmen. Das hatte ja nichts mit uns zu tun – er spielte eine Rolle. Und außerdem: Je realistischer er war, desto besser die Aufführung.
Die Liebe war zuerst da.
Ich holte mir das Skript und schrieb die Worte – einfach nur eine Schauspielerin, die sich notiert, was der Regisseur gesagt hat, nichts weiter – oben über die Szene. Schwarze X krochen an der Seite hoch, sahen aus, als würden sie ausschwärmen und die wehrlosen Worte einholen, die oben auf der Seite schwebten.
Ich malte einen schützenden Kreis um Die Liebe war zuerst da , mit Pfeilen, die sich nach außen richteten, um die X abzuwehren … Dann klappte ich das Skript zu.
Wenn das hier vorbei ist, bist du so verrückt wie Ophelia.
Angie hupte um Viertel vor eins in der Auffahrt. Ich sauste an meinen Eltern vorbei, die im Wohnzimmer saßen und sich wegen eines Wexx-Empfangs in Indianapolis stritten. Dad wollte, dass Mom mit ihm hinging.
»Wo willst du hin?«, fragte Dad.
»Ich treff mich mit Angie.« Ich holte meine weiße Jacke aus dem kleinen Raum neben der Haustür. Als ich wieder rauskam, sah Dad durch das Küchenfenster zur Auffahrt.
Nein, Dad, es ist nicht Isaac . Laut sagte ich: »Zum Abendessen bin ich zurück.«
Dad nickte. »Es freut mich, dass du Freunde findest.«
Ich rannte die Auffahrt hinunter und sprang in Angies Auto. Sie hielt ihre unbändigen Locken mit einem bunten Haarreif zurück. Auf ihrem schwarzen Sweatshirt stand: Ich trage erst dann kein Schwarz mehr, wenn eine dunklere Farbe erfunden wird.
»Was siehst du hübsch und frisch aus für dein Nicht-Date mit Mr Pearce«, sagte sie und betrachtete meine hellen Jeans und den rosa Kaschmirpulli. Sie beugte sich zu mir. »Das Parfüm gefällt mir. Und ist das Lipgloss?«
»Halt den Mund. Ich hab trockene Lippen.«
Sie grinste. »Er vielleicht auch. Wahrscheinlich solltest du ihm was abgeben.«
»Jetzt hör auf.« Ich verdrehte die Augen, aber da war wieder das dämliche Flattern in meinem Magen. Ich machte Musik an, um nicht darüber reden zu müssen.
Es war kurz vor eins, als Angie mich vor dem HCT absetzte.
»Danke, Angie«, sagte ich und sprang aus dem Auto. »Ich weiß das wirklich zu schätzen.«
»Eins noch«, sagte sie.
»Ja?«
»Küss ihn.«
Ein Ruck ging durch mich durch. »Was?«
»Mit Zunge.«
»Und wozu soll das gut sein?«
»Ophelia und Hamlet waren ein Liebespaar , oder? Also ist das Recherche oder Method-Acting oder wie auch immer man das nennt.«
Ich verdrehte die Augen. »Isaac will nichts von mir. Seiner ätzenden Laune bei der Probe gestern nach zu urteilen, hat er absolut keine Lust, den ganzen Tag die Neue zu babysitten.«
Angie zuckte mit den Achseln. »Wir werden sehen. Ich will einen ausführlichen Bericht. Heute . Nicht erst Montag früh, sonst sterbe ich vor Neugier.«
»Tschüs, Angie«, sagte ich.
»Mit Zunge« , rief sie, und ich schlug schnell die Autotür zu.
Ich drehte mich um und fiel beinahe über meine eigenen Füße. Direkt vor Isaacs Nase, der an der Mauer neben dem Kassenschalter des Theaters lehnte und eine rauchte. Das Herz hämmerte mir in der Brust, dann rutschte es mir in die Hose.
Wenn es einen Gott gibt, hat Isaac das nicht gehört.
»Hi«, sagte ich und ging langsam auf ihn zu, wie eine Dompteurin, die sich einer Raubkatze näherte.
Einem Panther.
Er trug die üblichen Jeans, Stiefel und schwarzes Leder über einem weißen Hemd. Sein dunkles Haar war feucht vom Duschen und seine graugrünen Augen betrachteten mich mit gelangweilter Distanziertheit.
»Hey«, sagte er. Sonst nichts.
»Ich habe mein Skript mitgebracht«, sagte ich. »Falls wir zusammen Text lernen wollen oder so.«
Er atmete eine Rauchwolke aus, ließ die Zigarettenkippe fallen und trat sie aus. »Was auch immer. Hatten wir Kaffee oder Essen gesagt?«
»Kaffee ist gut.«
»Okay.«
Ohne zu reden, gingen wir das kurze Stück zu Daisy’s Coffeehouse. Isaac hielt mir die Tür auf.
»Danke«, sagte ich.
Keine Antwort.
Er hat keinen Bock. Verstanden. Die Nachricht ist angekommen.
Das Daisy’s war ein hübsches kleines Lokal mit warmem Holzfußboden, dessen Tische zur Hälfte mit Gästen besetzt waren. Die Leute plauderten über dampfenden Tassen, tippten in Laptops oder lasen Bücher. Über die Anlage kam Nina Simone.
»Was möchtest du?«, fragte Isaac.
»Ich kann mir selbst was holen«, sagte ich und zog mein Portemonnaie hervor. Isaac starrte mich wütend an, und ich erwiderte das mit einem demonstrativen Blick. »Hör zu, es ist offensichtlich, dass du nicht hier sein willst. Dann musst du nicht auch noch dafür zahlen.«
Er machte den Mund auf und klappte ihn wieder zu. Er drehte sich weg und sah sich im Café um. Als er sprach, war seine Stimme weicher.
»Da vorn ist ein freier Tisch«, sagte er und zeigte auf einen Tisch mit zwei Stühlen in der Ecke neben einem kleinen Bücherregal mit einem Zu verschenken -Schild. »Du sagst mir jetzt, was du willst, und setzt dich da hin.«
»Caffè Latte, medium«, sagte ich. »Bitte.«
Er nickte und ich ging zu dem Tisch. Ein paar Minuten später kam er mit einem Caffè Latte für mich und einem schwarzen Kaffee für sich zurück. Beide in Tassen zum hier Trinken.
Er wollte sich gerade setzen, dann hielt er inne. »Willst du Zucker?«
»Zwei, bitte.«
Weibliche Blicke folgten Isaac, als er zu dem Tischchen mit Milch, Kaffeeweißer und Umrührstäbchen ging, und ich lächelte ein bisschen. Date oder Nicht-Date, es war nicht unangenehm, mit einem heißen Typen am Tisch zu sitzen.
Kein Date , dachte ich. Wir sitzen nur zusammen .
»Ist irgendwas lustig?«, fragte Isaac und setzte sich auf seinen Stuhl.
»Nein«, sagte ich und nahm den Zucker. »Danke.«
Er nippte an seinem Kaffee, und das Schweigen breitete sich aus, bis es anfing zu jucken.
»Du trinkst deinen Kaffee schwarz?«, fragte ich, eine peinliche Masche, um das Gespräch anzukurbeln. »Das könnte ich nie. Viel zu stark.« Ich verdrehte die Augen. »Bestimmt hatte Mr Ford genau das im Sinn, als er uns hierhergeschickt hat. Los, Hamlet, finde heraus, wie Ophelia ihren Kaffee trinkt.«
Isaacs Lippen zuckten, dann lächelte er, und die Anspannung löste sich ein wenig. »Nenn ihn Martin oder Marty«, sagte er. »Auf Mr Ford wird er nicht hören.«
»Gut zu wissen«, sagte ich. »Du hast schon in vielen Stücken mit ihm gespielt, oder?«
»Jetzt seit fünf Jahren.«
»Hast du ein Lieblingsstück?«
Er sah mich unverwandt an. »Ödipus . Bis jetzt.«
»Das ist witzig. Es ist das einzige, das ich gesehen habe.« Ich räusperte mich und schob mir eine Strähne hinters Ohr. »Und kannst du wirklich in drei Wochen alles auswendig? Dein Text ist das halbe Stück.«
»Es ist viel«, sagte er. »Aber ich habe Hilfe.«
»Ja?« Es war das erste Mal, dass er etwas über sich erzählte.
»Ja. Ein Junge, der nebenan wohnt, hilft mir, den Text zu lernen.«
»Du Glücklicher.«
»Ja«, sagte er. »Ich habe wirklich Glück.« Er legte einen unmerklichen Filter über das letzte Wort, färbte es bitter, aber nicht genug, dass man nachfragen mochte.
Das Gespräch stockte schon wieder. Nach ein paar unerträglichen Momenten nahm ich meine Tasche. »Ich habe mein Skript mitgebracht. Keine Ahnung, was Mr Ford … Ich meine … Martin sich gedacht hat, aber wir können den Text lernen, wenn du willst. Ich will nicht, dass du wegen mir einen Tag verlierst.«
Isaac verschränkte die Arme und lehnte sich so weit zurück, dass die vorderen Stuhlbeine sich vom Boden lösten. »Warum entschuldigst du dich ständig?«
»Ich entschuldige mich nicht«, gab ich gereizt zurück.
»Doch.«
»Na ja, es ist nicht so, dass du superbegeistert wärst, hier zu sein, also …«
»Aber ich bin es«, sagte er. »Ich meine, ich bin hier . Wir können den Text lernen oder was anderes machen. Aber hör auf dir Sorgen zu machen, dass es Zeitverschwendung für mich ist. Ist es nicht.«
Ich lehnte mich auf die verschränkten Arme und beugte mich vor. »Weißt du, es wäre verdammt noch mal viel leichter, nicht das Gefühl zu haben, dass du gegen deinen Willen hier bist, wenn du dich nicht verhalten würdest, als wärst du gegen deinen Willen hier.«
Er schürzte die Lippen. »Ich rede nicht viel.«
»Das merke ich«, sagte ich. »Aber für mich ist es wichtig, dass diese Aufgabe, oder wie auch immer man es nennen will, funktioniert. Du hast es drauf mit dem Theaterspielen, aber ich hab total Schiss. Ich brauche jede Hilfe, die ich kriegen kann.«
Die vorderen Stuhlbeine kamen zurück auf den Boden. »Brauchst du nicht.«
Ich blinzelte. »Sorry?«
»Du brauchst nicht viel Hilfe. Ich habe dein Vorsprechen gesehen. Und Angst zu haben ist etwas Gutes.«
»Wie kommst du darauf?«
»So weiß man, dass es einem wichtig ist.«
Ich drehte die Kaffeetasse in meinen Händen. »Angst zu haben fühlt sich nicht an, als wäre etwas wichtig. Es fühlt sich an, als wäre etwas gefährlich.«
»Ist es ja auch«, sagte Isaac. »Es ist gefährlich, sich da vorne hinzustellen. Sich das Herz aus der Brust zu reißen und es dem Publikum vorzuwerfen. Was, wenn sie furchtbar finden, was du zu sagen versuchst? Was, wenn sie es nicht verstehen? Oder noch schlimmer, was, wenn es ihnen egal ist? Dein ganzes Leben wird an deiner Kunst gemessen. Also ja, es ist verdammt gefährlich. Und macht einem Angst.«
Ich sah ihn über die Kaffeetasse hinweg an und sog die Körnchen Wissen in mich auf, die ich so dringend brauchte. »Du siehst nicht aus, als ob du Angst hättest. Du wirkst die ganze Zeit supercool.«
Er lächelte schwach. »Ist alles gespielt.«
»Das hast du schon mal gesagt. Bei dem Vorsprechen.«
»Ich weiß«, sagte er, aber diesmal war die kurze Antwort keine Abwehr des Gesprächs, sondern eine Eröffnung.
»Du hast auch gesagt, ich würde die Rolle der Ophelia bekommen«, sagte ich. »Und du hattest recht, weil ich auf deinen Rat gehört habe. Ich habe die Geschichte erzählt.«
Er nickte. »Das ist alles, was man machen muss.«
Ich widmete mich wieder meinem Kaffee und dachte, wie recht er hatte. Ich fuhr mit dem Finger über den Henkel. »Also, da wir schon mal hier sind, darf ich fragen … hilft es?«
»Hilft was?«
»Theater zu spielen. Ich meine, warum machst du es? Es erleichtert dich?«
Er nickte. »Ja. Es hilft eine Weile. Aber es gibt immer noch mehr. Mehr Geschichte, die man erzählen muss, sozusagen.«
»Was ist deine Geschichte?« Sobald die Worte heraus waren, wollte ich sie zurücknehmen. Sie waren so schrecklich übergriffig.
Und ich konnte ihm nicht im Gegenzug meine Geschichte erzählen.
»Tja«, sagte er.
Ich winkte ab. »Vergiss es einfach.« Ich nahm meinen Kaffee und trank einen großen Schluck, damit mein Mund etwas zu tun hatte.
Er zuckte mit den Achseln. »Deshalb sind wir hier, oder?« Er presste die Lippen aufeinander und entspannte sie wieder, als könnte er sich nicht entschließen, den Worten dahinter die Freiheit zu schenken. Seine langen Finger tippten auf das Holzstäbchen, mit dem ich meinen Kaffee umgerührt hatte, sein Blick war in die Ferne gerichtet.
Vielleicht war er wie ich. Vielleicht wollte Isaac Pearce hinter der ganzen Distanziertheit und dem »Mir doch egal«-Gehabe nur ein kleines Stück Normalität. Bei einer Tasse Kaffee zusammensitzen und einfach nur reden .
»Meine Mom ist gestorben, als ich acht war«, sagte er. »Sie hatte einen Schlaganfall. Sie war viel zu jung für einen Schlaganfall, aber … es war eine Arterienverstopfung, von der niemand etwas wusste. Sie war sofort tot.«
Langsam kroch mir das Grauen über die Haut.
Hat er sie sterben sehen? Bitte sag mir, dass er es nicht gesehen hat.
»Ich war in der Schule«, sagte er, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Als ich morgens in die Schule ging, hatte ich eine Mom, als ich nach Hause kam, hatte ich keine mehr.«
»Es tut mir so leid.«
Sein Lächeln war schnell und hart. Er drehte das Holzstäbchen immer wieder in seinen Händen.
»Es klingt dramatisch, aber meine Mom so plötzlich zu verlieren, hat mich ein Jahr lang völlig umgehauen. Ich konnte nicht verarbeiten, was geschehen war. Sie war nicht krank gewesen. In einem Moment war sie da, völlig gesund, und im nächsten Moment weg. Es war so verdammt sinnlos.« Er zuckte mit den Achseln, das beiläufige, bittere Akzeptieren von etwas Schrecklichem. »Also habe ich aufgehört zu reden. Ich sah nicht, wozu das gut sein sollte.«
»Ein ganzes Jahr?« fragte ich.
Er sah zu mir hoch, seine Züge verhärteten sich. »Du hast schon davon gehört?«
Ich lehnte mich zurück. »Na ja, ja … in der Schule.«
Er winkte ab. »Es ist okay. Es wird ziemlicher Mist über mich erzählt. Meinem Dad geht’s nicht gut. Das hast du wahrscheinlich auch gehört.«
Er verdiente Ehrlichkeit, also nickte ich.
»Er ist auch nicht gut mit Moms Tod zurechtgekommen. Er hat zu trinken angefangen. Mit ihm zu reden hat mir seitdem ohnehin nicht viel gebracht, abgesehen von Schlägen oder einem Tritt.«
Ich schluckte schwer, und Isaac bemerkte es.
»Sorry. Keine Ahnung, warum ich dir diese Scheiße erzähle. Es ist nicht wichtig.«
»Doch, ist es«, sagte ich. »Natürlich ist es das.«
Er antwortete nicht, aber ich sah, dass meine Worte zu ihm durchdrangen.
»Und dann hast du das Schauspielern entdeckt«, sagte ich, und es war keine Frage. »Ich habe gehört, dass es dir geholfen hat, deine Stimme wiederzufinden.« Ich schämte mich, den Gerüchten zugehört zu haben, als ginge es dabei nicht um einen echten Menschen.
»In der vierten Klasse«, sagte Isaac. »Als ich in die Schule zurückkehrte, war Miss Grant die einzige Lehrerin, die nicht von mir verlangte zu reden. Eines Tages hat sie die Worte von jemand anders vor mich hingelegt und gesagt: Diese Figur braucht eine Stimme. Wenn du ihr deine leihen könntest, wäre das großartig . Als würde ich ihr einen Gefallen tun.« Er sah mich an. »Und das hab ich dann gemacht. Es war nicht ich, der geredet hat. Es waren nicht meine Worte. Deshalb war es okay.«
»Und seitdem spielst du Theater.«
»Ja.«
»Und es hat dir geholfen.«
Er nickte. »Das ist das Komische an der Kunst. Wenn sie wirklich gut ist, kannst du dich selbst darin sehen. Manchmal ein bisschen. Manchmal sehr.«
»Siehst du dich in Hamlet?« Ich lächelte schwach. »Wahrscheinlich genau die Sorte Frage, die wir uns Martins Ansicht nach stellen sollen.«
Er erwiderte das Lächeln nicht. »Ja. Hamlet ist wütend, dass seine Mutter so bald nach dem Tod seines Vaters wieder heiratet. In Hamlets Augen ist Claudius ein unrechtmäßiger König. Er sitzt auf einem Thron, der ihm nicht gehört. Ich habe meinen Vater verloren, als meine Mutter starb. Jetzt sitzt jemand unrechtmäßig in unserem beschissenen Trailer, betrunken und nicht wiederzuerkennen, und kippt Gift in sich hinein.«
Ich biss mir innen auf die Wange. Angie hatte gesagt, durch mein Mitwirken in dem Stück könnte ich Isaacs unglaubliches Talent aus der ersten Reihe betrachten. Als ich ihm jetzt an dem kleinen Tisch gegenübersaß, stellte ich fest, dass er auch einen unglaublichen Verstand hatte. Es lag Poesie in seinen eigenen Worten, obwohl ich bezweifelte, dass er es wusste. Seine ruhigen Betrachtungen über sein Leben waren tausendmal eindringlicher und beeindruckender als alles, was ich von ihm auf der Bühne gesehen hatte.
Er hob den Blick, sah mir in die Augen und kam langsam wieder im Hier und Jetzt an. Und bemerkte meine ehrfürchtige Miene.
»Scheiße«, sagte er. »Das war wahrscheinlich sehr viel mehr, als du hören wolltest …«
»Entschuldige dich nicht«, flüsterte ich.
Seine Augen weiteten sich leicht, zogen mich in ihre graugrünen Tiefen. Ein sturmgepeitschter Ozean, eiskalt und kabbelig an der Oberfläche. Warme Ruhe darunter.
Wir sahen uns an. Und während des kurzen Schweigens klärte sich etwas zwischen uns. Wie eine Abmachung oder eine Übereinkunft. Er hatte mir von sich erzählt, aber um keine Gegenleistung gebeten. Ich konnte mich in der Vertrautheit und Nähe zwischen Zuhörerin und Geschichtenerzähler frei bewegen. Er lockte mich nicht in eine Falle oder versuchte mich zu beugen.
Ich könnte jetzt zur Geschichtenerzählerin werden …
Nur konnte ich das nicht. Meine eigene Geschichte musste hinter meinen Lippen verschlossen bleiben. Unfair, aber wie sollte ich einem Menschen, mit dem ich auf der Bühne stand, etwas erzählen, das ich nicht einmal meinen Eltern oder meinen besten Freundinnen erzählen konnte? Sollte ich in diesem hübschen kleinen Café einen seelischen Zusammenbruch riskieren?
Nein, es war längst zu spät, die Wahrheit zu sagen. Was mir passiert war, konnte nur durch die Worte und Handlungen einer Figur zutage treten, die vor über vierhundert Jahren erfunden worden war. Der sicherste Weg, meine Geschichte zu erzählen, war, sie zu schneiden und zu sichten, sie durch das Prisma von Ophelias Wahnsinn zu brechen.
»Ich suche noch nach meiner Verbindung zu Ophelia«, sagte ich, ohne ihn anzusehen. »Ich habe so was noch nie gemacht. Ich meine, so tief in eine Figur einzusteigen.«
»Doch, hast du«, sagte Isaac. »Der Monolog beim Vorsprechen.«
»Das waren nur drei Minuten. Ein einzelner Moment. Hamlet ist so viel größer.« Ich zog eine Augenbraue hoch. »Ich erinnere mich noch, was du mir beim Vorsprechen gesagt hast.« Ich klopfte mir ans Kinn. »Ich weiß den genauen Wortlaut nicht mehr, aber du hast mich höflich gebeten, dir das nicht zu versauen.«
Ein leichtes Lächeln huschte über seine Lippen. »Meine übliche Bitte«, sagte er. Er kreuzte die Unterarme auf dem Tisch und stützte sich darauf. »Fang mit dem Einfachsten an. Was haben du und deine Figur gemeinsam?«
»Ich weiß es nicht.« Ich lehnte mich zurück und dachte nach. »Man könnte sagen, dass mein Vater ein autoritäres Arschloch ist, genau wie Polonius.«
Isaac nickte, seine Miene war nachdenklich. »Es war seine Idee, dich mitten im letzten Schuljahr hierher umzusiedeln?«
»Ja. Na ja, nein. Sein Boss hat ihn versetzt. Obwohl mein Vater eine Leitungsposition innehat, hat er bereitwillig gehorcht. Meine Mom liebt Manhattan, aber selbst das hat nicht genügt, um dortzubleiben.«
»Vermisst du New York?«
»Nicht wirklich.« Ich schluckte. Die Frage kam dem X etwas zu nah. »Eigentlich gefällt’s mir hier«, sagte ich. »Harmony hat so etwas Abgeschiedenes an sich, und ich glaube, das brauche ich gerade.«
»Warum?«, fragte Isaac, seine Stimme sanfter, als ich je gehört hatte.
Das kann ich dir nicht sagen, Isaac , dachte ich. Niemals .
Ich zuckte mit den Schultern, als könnte ich das Gewicht abschütteln, das darauf lag. »Manhattan ist hektisch, es ist immer so viel los, und wahrscheinlich ist mir das zu viel geworden. Hier ist das Leben ruhiger. Vielleicht magst du es deshalb nicht?«
Er war am Zug. Gut. Nur antwortete Isaac nicht. Er sah mich bloß lange an. Und ich wusste es. Ich wusste, er durchschaute meine lächerlichen Ablenkungsmanöver, die unbeholfenen Themenwechsel. Er wusste, dass ich die Geschichte nicht erzählte. Aber ich spürte, dass er das respektierte. Er hatte einen Respekt vor meinem Schweigen, den nur jemand haben konnte, der selbst einmal ein ganzes Jahr nicht gesprochen hatte.
»Tja, ich werde aus Harmony weggehen«, sagte Isaac. »Martin hat für die Premiere von Hamlet ein paar Talentscouts eingeladen.«
Ich stellte die Tasse auf den Tisch. »Wirklich? Oh, mein Gott, Isaac, das ist großartig.«
Er zuckte mit den Achseln. »Wir werden sehen. Ich denke ständig, dass es wie ein sicheres Ticket hier raus ist, aber …«
»Das ist es«, sagte ich. »Die kriegen Schnappatmung, wenn sie dich sehen.«
»Vielleicht.«
»Nicht vielleicht. Es wird sehr viel Schnappatmung geben.«
Er lächelte halbseitig. Ich hatte ihn bisher noch nicht richtig lächeln gesehen oder ein offenes Lachen von ihm gehört. Ich fragte mich, ob ich das würde, bevor er aus Harmony wegzog.
Er verlässt Harmony , dachte ich wie zur Probe. Es gefiel mir nicht.
»Das Theater wird nicht dasselbe sein«, sagte ich und schob mir eine Locke hinters Ohr. »Martin wird dich vermissen.«
»Er kommt schon klar.«
»Wird dir die Stadt nicht fehlen? Wenigstens ein bisschen?«
Isaac begegnete meinem Blick mit Ruhe. »Nein«, sagte er und sah hart zu etwas hinter mir. Ich drehte mich um.
Draußen vor dem Fenster gingen zwei Plastics mit ihren Freunden vorbei. Sie wurden langsamer, als sie uns sahen, grinsten sich höhnisch an und liefen weiter.
»Toll«, murmelte ich. »Die Gerüchteküche brodelt los.«
Isaacs Miene verdüsterte sich.
»Nicht über dich«, sagte ich. »Über mich. Jessica Royce und Co sind der Meinung, ich hätte nur vorgesprochen, um dir hinterherzulaufen.«
Isaac hob die Augenbrauen. »Ach ja?«
»Das ist totaler Blödsinn«, sagte ich. »Ich mache nichts, was ich nicht machen will.«
Nicht mehr.
Ich reckte mich und trank den kalten Rest meines Caffè Latte aus. »Aber mir ist scheißegal, was die denken. Wollen wir hier weg?«
Isaac runzelte die Stirn. »Und wohin?«
»Ich weiß es nicht. Lass uns ein bisschen spazieren gehen. Ich habe nicht viel von Harmony gesehen, als noch Schnee lag. Du kannst mir die Highlights zeigen.«
»Harmony hat keine Highlights.«
»Kann nicht sein. Jeder Ort ist für irgendwas berühmt.«
Isaac nickte. »Ja, wahrscheinlich schon«, sagte er. »Ich weiß was.«