16. KAPITEL
Isaac
Willow und ich traten aus dem Café in die kalte Luft. Als ich in die strahlende Sonne blinzelte, wurde mir bewusst, was ich diesem Mädchen – praktisch einer Fremden – alles über meine Mutter erzählt hatte. Ohne das Gefühl zu haben, alles wegdrücken zu müssen. Geheimnisse zu erzählen gehörte wahrscheinlich zu Martys Aufgabe, aber es erklärte nicht, warum mir die Worte so leicht über die Lippen kamen. So leicht, wie wenn ich spielte. Aber ich spielte nicht. Ich war ein paar kostbare Minuten lang ich selbst gewesen, und es war nicht scheiße. Es war erträglich.
Willow machte es erträglich, ich selbst zu sein.
Ich klappte den Kragen der Jacke hoch und blickte sie an. Ich sah nicht länger das reiche, verwöhnte Mädchen aus Manhattan mit dem perfekten Leben. Sie schloss die Augen, drehte das Gesicht in die Sonne und atmete tief ein.
Sie brauchte Harmony. Sie hatte etwas in New York zurückgelassen. Etwas war kaputtgegangen, oder man hatte es ihr weggenommen. Es war nicht ihre Idee gewesen, in dieses Nest zu kommen, aber sobald sie hier gewesen war, hatte sie ihren Ausweg gefunden. Ihre Chance, sich zu verstecken. Oder ihre Chance, zu heilen?
Sie würde es mir nicht erzählen, aber das musste sie auch nicht. Sie hatte mir schon so viel gegeben.
»Wo gehen wir hin?«, fragte sie.
»Da lang«, sagte ich.
Wir bogen um eine Ecke, und ich führte uns nach Norden, aus dem Zentrum hinaus. Die Geschäfte und Gebäude an der Straße wichen hohen Bäumen – Ahorn, Eiche und Hartriegel –, die gerade wieder grün wurden.
Wir durchquerten ein kleines Viertel, Reihen einstöckiger Häuser von höchstens achtzig Quadratmetern mit Küchengärten und niedrigen Zäunen zwischen den Grundstücken. Kinderspielzeug lag im Gras und teils sogar auf dem Fußweg, als würde es allen gehören. Windspiele gaben hohle Klänge von sich.
»Die Häuser sind total süß«, sagte Willow, und ihre Augen strahlten. »Was ist das für ein Viertel?«
»Es heißt The Cottages . Hier wohnen eher alternative Leute.«
»Wolltest du mir das zeigen?«
»Nein.« Ich sah sie an. »Gefällt es dir?«
»Ich liebe es«, sagte sie. »So ruhig. Und friedlich.«
Wir kamen an einem Haus mit einer Töpferscheibe im Vorgarten vorbei. Vor einem anderen standen kleine schmiedeeiserne Skulpturen von Kokopelli mit Flöte, Sonnen und kleinen Pferden.
»Kannst du es nicht vor dir sehen?«, fragte Willow. »So ein kleines Häuschen zu haben? Morgens kommst du mit einem Skript nach draußen, trinkst deinen Kaffee und siehst dir den Sonnenaufgang an?«
Ich blieb fast stehen, als die Worte mich mitten in die Brust trafen. Ich war Hunderte Male durch The Cottages gegangen – Tausende Male. Die ganzen Jahre, die ich hier lebte, hatte ich immer nur gedacht, wie einsam es wäre, in diesem Winkel der Welt zu leben.
Als wir die letzten Häuschen passierten, sah ich sie durch Willows Augen. Der Vorhang meiner Fantasie gab den Blick auf eine Szene frei: Ich saß mit einem Skript auf dem Schoß und einer Tasse schwarzem Kaffee auf der vorderen Veranda. Die Sonne ging hinter den grünen Bäumen auf und strahlte durch die Blätter. Sanfte Arme legten sich um meinen Hals, eine lange blonde Locke fiel auf meine Schulter, und weiche Lippen strichen über mein Kinn und flüsterten: »Guten Morgen …«
Ich schüttelte den Traum ab.
Nette Fantasie, Idiot.
Noch ein Vorhang ging auf: Ich blieb weitere zwanzig Jahre in Harmony, und mein schreckliches Leben verfolgte mich. Die halbe Stadt hatte Angst vor mir, die andere Hälfte tuschelte und verurteilte mich. Man redete mehr über die Sauferei und die Wutanfälle meines Vaters als über mein Schauspieltalent. Der Name Pearce war mit einem rostigen Schrottplatzschild verbunden, nicht mit der Ankündigung in einem Theater.
Diese Stadt kann mich mal .
Diesmal bemerkte Willow meinen düsteren Gesichtsausdruck.
»Kein Fan?«
»Nein«, sagte ich. »Ich will weg.«
»Was hast du dir überlegt?«, fragte sie. »Hollywood oder Broadway?«
»Wer auch immer mich nimmt.«
Sie runzelte die Stirn. »Es ist dir egal? Ist es nicht ganz anders, in einem Film mitzuspielen, als auf der Bühne zu stehen? Würdest du die Atmosphäre eines Live-Publikums nicht vermissen?«
»Doch, wahrscheinlich schon«, sagte ich. »Aber eigentlich habe ich nie drüber nachgedacht. Das Spielen war für mich immer nur Mittel zum Zweck. Um hier wegzukommen.«
»Wirklich?« Sie verzog das Gesicht, als hätte sie gerade etwas Fauliges gerochen. Sie schwieg, aber in ihren Augen standen mehr Fragen.
»Los«, sagte ich, »du kannst es ruhig sagen. Ich bin egoistisch. Sollte dankbarer sein.«
Sie warf mir einen Blick zu. »Jetzt, wo du es erwähnst …«
Mein kleines Lachen klang verrostet. Aber anstatt mich angegriffen zu fühlen, freute ich mich, dass sie sich nicht von mir einschüchtern ließ.
»Ich verstehe es ja«, sagte ich. »Aber ich sehe meine Fähigkeit nicht als Talent oder Gabe. Es ist nur ein Ausweg.«
»Aber spürst du nicht, was es mit den Leuten macht, die dir zusehen? Du kannst jemanden mit dieser Gabe woandershin transportieren. Sie ist auch für uns ein Ausweg.«
Ich blieb stehen und sah sie an. »Ich freue mich, dass es das für dich sein kann. Für alle, die zusehen. Aber für mich …« Ich zuckte mit den Achseln. »Es ist alles, was ich habe.«
»Mir geht es genauso«, sagte sie. »Als hätte ich mich ein wenig verlaufen, und dann ist mir Hamlet in den Schoß gefallen. Damit ich auf meinen Weg zurückfinde.« Sie lachte nervös. »Das klingt jetzt ein bisschen dramatisch. Und wahrscheinlich dumm.«
»Es ist nicht dumm«, sagte ich. »Sachen passieren aus einem Grund, denke ich.«
»Glaubst du?« Ihre Stimme war plötzlich hart. Sie blieb stehen, ihre Miene verzog sich ungläubig und verwirrt. »Passiert alles aus einem Grund?«
Ich kniff die Augen zusammen angesichts ihrer plötzlichen Wut. »Ich weiß es nicht. Martin sagt immer –«
»Deine vollkommen gesunde Mutter hat aus einem Grund einen Schlaganfall gehabt und ist gestorben? Du hast selbst gesagt, dass es sinnlos war.«
Ich biss die Zähne zusammen und wurde selbst wütend. Ich stieß mir einen Finger auf die Brust. »Ich sage, was es für mich bedeutet. Nicht du. Und auch sonst niemand.«
»Ganz genau«, feuerte sie zurück. »Es ist deine Geschichte. Und dieses ›Alles passiert aus einem Grund‹ ist total bescheuert. Als würde der Schmerz von jemandem zuerst nichts bedeuten, aber irgendwann schon, und dann ist alles wieder in Ordnung. Das ist Quatsch.« Sie sah mich an, und ihr Gesichtsausdruck hatte sich schon wieder verändert. In ihren Augen standen Tränen, und sie bettelte fast: »Was macht man in der Zwischenzeit?«
»Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Man versucht, klarzukommen. Zu überleben.«
Sie hielt einen Moment lang meinen Blick, dann nickte sie. »Es tut mir leid, aber …« Sie fuhr mit den Fingerspitzen unter ihren feuchten Augen entlang. »Manche Dinge passieren , und es ist wie ein Stromausfall. Oder wenn die Lautstärke auf stumm gedreht wird.«
Ich nickte. »Das stimmt.«
»Bis.«
»Bis?«
»Meine Großmutter hat das immer gesagt. Sie hat gesagt, jede Geschichte hat ein ›bis‹. Wenn das Schlimme passiert, das der Figur zeigt, was sie am meisten will. Aber wo ist das ›bis‹, das alles wiedergutmacht? Wann bekommt die Figur endlich, was sie am meisten will?«
»Wenn sie es sich selbst erlaubt«, sagte ich. Meine Hände wollten das Haar zur Seite streichen, das ihr über die Wange gefallen war. »Oder wenn sie losgeht und es sich nimmt.«
»Deshalb gehst du aus Harmony weg«, sagte sie.
»Ja.«
Sie nickte, dann seufzte sie. Die Kraft kehrte in ihre Stimme zurück. »Ich wünschte, ich wäre so mutig wie du.«
»Für eine Rolle in Shakespeares berühmtestem Stück vorzusprechen, ohne je vorher Theater gespielt zu haben, klingt ziemlich mutig.«
»Oder dumm«, sagte sie und lachte leicht. »Tut mir leid, was ich über deine Mutter gesagt habe.«
»Braucht es nicht.«
»Zu spät. Es tut mir leid.« Sie lächelte wieder, und mein Blick wurde von ihren vollen Lippen angezogen, auf denen eine Spur von Lipgloss glänzte.
Ich fragte mich, wie er schmeckte …
Willow deutete mit dem Kinn auf die andere Straßenseite. »Bestimmt wolltest du mir das zeigen.«
Ich folgte ihrem Blick zum Amphitheater von Harmony.
»Ja«, sagte ich und riss den Blick von ihr los. »Ja, genau.«
Wir überquerten die Straße und gingen unter einem frei stehenden quadratischen Torbogen aus weißem Stein hindurch. Das Theater bestand aus einem Kreis aus Zementstufen mit einer Bühne in der Mitte. Hier und dort standen wie zufällig Zementquader herum, eine Art abstrakte Kulisse. Das Ganze war von grünem Gras umgeben, oder zumindest würde es grün werden, wenn der Frühling kam. Jetzt knallte die Sonne auf matschige Stellen im braungelben Rasen.
»Manchmal komme ich nachts her«, sagte ich. »Um zu rauchen und allein zu sein.«
»Das kann ich verstehen.« Sie breitete die Arme aus. »Warum hat Martin den Ödipus nicht hier aufgeführt?«
»Zu kalt im Januar.«
»Stimmt. Aber im Sommer? Führt er hier Stücke auf?«
»Nein. Die Miete ist zu hoch.«
»Wie blöd«, sagte sie. »Siehst du es nicht praktisch vor dir? Shakespeare im Park?«
»Ich sehe es«, sagte ich und stellte mir vor, wie Willow sich hier ein Leben aufbaute. Ein Häuschen in den Cottages, ein Sommer mit Shakespeare in ihrem Garten. Während ich, so schnell ich konnte, in die entgegengesetzte Richtung davonrannte.
»Und Martin sieht es auch«, sagte ich. »Er träumt davon, ab und zu Freiluftvorstellungen zu geben.«
»Warum macht er es nicht?«, fragte Willow und kletterte auf einen der Zementquader. Sie setzte sich hin und ließ die Beine baumeln.
»Kein Geld«, sagte ich. Ich lehnte mich gegen den Quader, meine Schultern waren auf einer Höhe mit ihrer Taille. »Er redet nicht drüber, aber der Vorbesitzer des HCT hat die Finanzen nicht so gut gemanagt.«
»Ist es schlimm?«, fragte Willow. Und die ernste Sorge in ihrer Stimme rührte an mein verdammtes Herz.
»Ich weiß es nicht. Aber es ist auch ein Grund, von hier wegzugehen. Hier kann ich kein Geld verdienen. Aber da draußen«, ich breitete einen Arm aus und meinte damit praktisch jeden Ort außer Harmony, »da draußen habe ich eine Chance. Ich kann ihm helfen.«
»Du vergisst nicht, wo du angefangen hast«, sagte Willow, und ihre Stimme wurde weich.
Ich zuckte mit den Achseln, aber lächelte bei mir und griff nach meinen Winston. »Macht es dir etwas aus, wenn ich rauche?«
»Ja und nein.«
Stirnrunzelnd sah ich zu ihr hoch. Die Sonne stand hinter ihr, und das lange lockige Haar erstrahlte in einem goldenen Nimbus.
Sie sieht aus wie Lady Godiva, verdammt.
Ich räusperte mich. »Ja und nein?«
»Ja, es macht mir etwas aus, weil es nicht gut für dich ist. Nein, der Rauch stört mich nicht.«
Fast steckte ich die Zigaretten wieder weg.
Fang jetzt nicht an, dich ändern zu wollen, Pearce. Du bist schon fast weg.
Ich klopfte eine Zigarette aus der Packung, steckte sie mir zwischen die Lippen und zündete sie mit meinem Zippo an. Als ich den ersten Zug nahm, bemerkte ich ein kleines schwarzes X auf dem Knie von Willows Jeans. »Was ist das?«
»Nichts«, sagte sie ein bisschen zu schnell. »Ich kritzle rum, wenn ich mich langweile. Bei Paulson neulich bin ich beinah eingeschlafen.«
Ich nickte. Ich war kein Experte für Klamotten, aber es war klar, dass ihre Jeans nicht vom Grabbeltisch waren. Markenjeans kosteten neunzig Dollar. So was wollte man nicht mit schwarzer Tinte einsauen.
Lass es einfach.
Ich nahm einen Zug und blickte über das Amphitheater. Ich kam gern nachts her, wenn die weißen Steine im Mondlicht leuchteten. Mein persönliches Stonehenge. Im Tageslicht spürte man das Echo der vielen Veranstaltungen, die hier stattfanden: der Jahrmarkt im Sommer, ab und zu eine Hochzeitszeremonie und die Abschlussfeier der Highschool, zu der ich nicht eingeladen war.
»Ich hab gehört, dass die George Mason hier ihre Abschlussfeier abhält«, sagte Willow, die offensichtlich meine Gedanken lesen konnte. »Gehst du hin?«
»Nein.«
»Macht es dir etwas aus?«
»Nein.«
»Und was ist mit den anderen Sachen, die mit der Schule zu tun haben? Footballspiele …« Sie kickte die Hacken gegen den Zementblock. »Bälle.«
Ich zuckte mit den Achseln. »Ich bin neunzehn. Ich bin fertig mit der Highschool.« Ich blickte zu ihr hoch. »Mir fällt gerade ein, dass bald dieser Spring Fling stattfindet. Gehst du hin?«
Ach Mist. Das klang, als wollte ich sie bitten, mit mir hinzugehen. Dabei ging ich nicht mal mehr auf die Schule. Ich konnte sie nicht fragen. Oder doch?
»Nein, ich gehe nicht hin«, sagte sie langsam.
»Vielleicht ist an dem Abend sowieso Probe«, sagte ich und warf die Zigarette auf den Boden. »Deshalb hab ich ’s erwähnt.«
»Stimmt. Und es hat mich sowieso niemand gefragt.«
»Justin hat dich nicht gefragt?« Mein Ton war beiläufig, und ich sackte ein wenig zusammen, als ich über das Amphitheater blickte. Einfach nur ein Typ, der sich locker unterhielt. Oscarreife Darstellung.
»Was? Nein. Justin und ich sind nur Freunde.«
»Ich hatte den Eindruck …« Ich schüttelte den Kopf. »Vergiss es.«
»Den Eindruck, dass ich ihn mag?«
Ich sah sie wieder an. »Dass er dich mag.«
»Oh«, sagte sie und runzelte die Stirn. »Gott, ich hoffe nicht. Er ist ganz nett. Ich meine, er fährt mich nach der Probe nach Hause. Aber …«
Ich spürte praktisch, wie ich mich reckte, und mein Ego machte schadenfroh Vorschläge, wie man den Rest des Satzes beenden konnte.
Er ist strohdumm.
Er kann eigentlich nicht lesen.
Er furzt beim Lachen.
»Es fühlt sich eher geschwisterlich für mich an als etwas anderes«, schloss sie. »Wahrscheinlich, weil er den Laertes spielt.«
»Klar«, sagte ich, und mein Ego klatschte sich ab.
»Mir ist so … gar nicht danach, mit jemandem zusammen zu sein«, sagte Willow, und ihr Tonfall hatte etwas Nervöses. »Jedenfalls im Moment nicht.«
Oder auch nie wieder , hörte ich wie ein Flüstern im Wind. Eine Ernsthaftigkeit in ihren Augen deutete darauf hin, dass sie etwas verloren und es fast aufgegeben hatte, danach zu suchen.
Sie hat nicht aufgegeben , dachte ich und eine grimmige Bewunderung stieg in mir auf. Deshalb spielt sie in dem Stück mit. Um es wiederzufinden.
In diesem Moment schwor ich mir, den ganzen egoistischen Blödsinn und die Eifersucht auf Justin sein zu lassen. Den Ball konnte ich sowieso vergessen. Ich könnte sie nicht fragen, ob sie mit mir hingehen würde, selbst wenn ich wollte. Was ich nicht tat. Mein Job war nur, ihr zu helfen, in Hamlet zu finden, was sie suchte. So gut ich konnte. Auch wenn meine Begeisterung, Harmony bald zu verlassen, darunter leiden würde.
Willow schirmte die Augen mit der Hand ab und blinzelte mich an. »Und was ist mit dir?«
»Was soll mit mir sein?«
»Findest du jemanden gut?«, fragte sie, die Stimme einen halben Ton höher als sonst. Sie lachte. »So was fragt man echt nur in der Highschool.«
»Nein«, sagte ich. »Wenn alles nach Plan läuft, gehe ich aus Harmony weg, schon vergessen? Es wäre blöd, vorher etwas anzufangen.«
»Ja, klar, logisch.«
Wir schwiegen.
»Na ja, also ich gehe wahrscheinlich nicht zu diesem Ball«, sagte Willow. »Ich bin sowieso nicht mehr gut in solchen Situationen.«
»Was für Situationen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Vergiss es. Ich muss langsam heim.«
Willow fing an, von dem Zementblock runterzurutschen. Ich bot ihr meine Hand, um ihr zu helfen. Sie zögerte für den Bruchteil einer Sekunde, dann nahm sie sie. Ich hielt ihr auch die andere Hand hin, und die nahm sie auch. Ich stützte sie, als sie herunterhüpfte, und dann standen wir voreinander. Nah genug, um zu sehen, dass ihre blauen Augen mit hellerem Blau durchsetzt waren wie ein Topas. Nah genug, um die Süße in ihrem Atem zu riechen – Kaffee mit Zucker. Nah genug, um zu tanzen, wenn wir wollten.
»Danke«, sagte Willow und sah zu mir hoch.
»Kein Problem«, sagte ich.
Ich hielt noch immer ihre Hände. Auch sie ließ nicht los.
»Na dann«, hauchte sie und bewegte sich immer noch nicht.
»Ja.«
Ich sah auf unsere Hände hinunter. Etwas so Weiches und Schönes hatte ich seit Jahren nicht berührt. Der Ärmel ihrer Jacke war hochgerutscht, und ich entdeckte ein schwarzes Zeichen auf der Innenseite ihres Unterarms, nahe am Handgelenk. Willow atmete geräuschvoll ein, als ich ihre Hand umdrehte. Ein X, etwa von der Größe eines Vierteldollars, setzte sich krass auf ihrer hellen Haut ab.
Sie zog die Hände weg. »Ich muss wirklich nach Hause.«
Alle Instinkte in mir meldeten sich lautstark, dass ich ihre Hand wieder nehmen und sie fragen sollte, was das X zu bedeuten hatte. Meinen Daumen anlecken, um es wegzuwischen. Irgendwie lag mir der Anblick schwer im Magen.
»Willow …«
»Ich kritzle herum, wenn ich mich langweile. Hab ich doch gesagt.« Ihre Stimme war scharf, aber ihr Lächeln wankte. »Lass uns gehen.«
Den kurzen Weg ins Zentrum legten wir schweigend zurück. Als wir vor dem Theater angekommen waren, legte Willow sich die Tasche über die Schulter und blickte sich um. »Danke für heute. Ich glaube, Martin wird mit unserem Fortschritt zufrieden sein.«
»Glaube ich auch.«
Und zwar so was von , dachte ich.
»Dann sehen wir uns Montag?«, fragte sie.
»Wie kommst du nach Hause?«
»Oh, äh …« Sie sah mir immer noch nicht in die Augen. »Ich wollte zu Fuß gehen.«
»Bis nach Emerson Hills?«, fragte ich. »Das sind zweieinhalb Kilometer, und es wird bald dunkel.«
Sie hob die Augenbrauen. »Darf ich nicht im Dunkeln herumlaufen?«
»Darfst du«, sagte ich. »Aber mir wäre es lieber, wenn du es nicht tätest.«
Willows Miene wurde weich. »Oh. Okay. Wenn es dir nichts ausmacht?«
»Macht es nicht.«
Als wir zu meinem Pick-up auf dem Parkplatz des Theaters gingen, bettelte jede Delle, jeder Kratzer um Aufmerksamkeit. Sobald wir drinnen saßen, blickte Willow aus dem Fenster auf ihrer Seite. Sie hielt ihre Tasche auf dem Schoß fest und hatte die Ärmel über die Handgelenke gezogen.
Wir schwiegen auf der Fahrt nach Emerson Hills, wo das flache Land von Indiana von ein paar Hügeln unterbrochen wurde. Wir kamen an einem Aussichtspunkt mit Blick auf das Zentrum von Harmony vorbei. Die Häuser hier waren riesig. Keine Trailer oder Cottages erlaubt. In den Gärten gab es Ställe und Bäume, keine Haufen aus rostigem, verbogenem Metall.
Willow dirigierte mich in eine Straße. »Hier ist gut«, sagte sie mit einer vagen Handbewegung.
»In welchem wohnst du?«, fragte ich und parkte vor einem Haus aus braunem Backstein.
»Das passt super hier, danke«, sagte sie. Sie legte die Hand auf den Türgriff, dann hielt sie inne. Ihre Hand war weiß vor Anspannung. »Danke. Nicht nur fürs Herfahren, sondern dafür, dass du mir das Amphitheater gezeigt hast, und fürs Reden. Ich glaube, es hat mir geholfen.«
»Gern geschehen.«
»War es auch für dich gut? Ich meine, wegen dem, was Martin von uns wollte?«
»Ja«, sagte ich. »War es.«
Ich suchte krampfhaft nach etwas, was ich noch sagen konnte, irgendwas, was sie noch einen Augenblick im Wagen festhalten würde …
»Okay«, sagte sie. »Bis Montagabend.«
»Ja, bis dann.«
Sie kletterte aus dem Pick-up und schlug die Tür zu, dann winkte sie mir. Und blieb stehen.
Sie wartet, dass ich wegfahre.
Normalerweise hätte ich mich niemals von der Stelle gerührt, bis sie sicher in ihrem Haus war. Aber ich machte eine Ausnahme und wendete den Pick-up, fuhr zurück in den Westen der Stadt, wo mein mieser Trailer stand. Im Rückspiegel sah ich, wie Willow in ihrer Tasche wühlte. Vielleicht suchte sie nach ihrem Haustürschlüssel, aber ich bezweifelte es. Als ich um die Ecke bog, wusste ich, dass das braune Haus, vor dem ich gehalten hatte, nicht ihres war.