17. KAPITEL
Willow
Montagmorgen im Englischkurs. Mr Paulson stand an seinem üblichen Platz und blätterte durch Unterlagen. Angie saß an ihrem Pult, trug weite Jeans, Doc Martens und ein schwarzes T-Shirt mit: I’m pretty cool, but I cry a lot.
Als sie mich sah, holte sie ihr Handy hervor, schüttelte es und hob es mit einem verwirrten Gesichtsausdruck ans Ohr.
»Hallo? Hallo? Funktioniert dieses Ding?« Sie ließ die Hand sinken und blickte mich demonstrativ an. »Das war eine rhetorische Frage, falls du dich gefragt hast. Woher ich das weiß? Meine richtigen Freundinnen, Caroline und Jocelyn, haben mich nämlich am Wochenende angerufen.«
»Sorry«, sagte ich und setzte mich hinter mein Pult. »Mir war nicht nach Reden, okay? Mir ist oft nicht danach, zu telefonieren. Ehrlich gesagt ist mir kaum je danach zu telefonieren.«
»Ich verstehe das. Die meisten Leute telefonieren nicht mehr gern. Dafür gibt es die Nachrichtenfunktion.« Sie drehte sich auf ihrem Stuhl um und beugte sich über ihren Arm zu mir. »Du hast gesagt, du würdest anrufen, nachdem ich dich in der Stadt abgesetzt hatte. Also habe ich angenommen, dass du mich anrufen würdest. Aber das hast du nicht getan. Also musste ich dich anrufen. Du bist nicht rangegangen. Ich habe das ganze Wochenende gedacht, Isaac Pearce hätte dich ermordet und deine Leiche in einen Straßengraben geworfen.«
»Das hast du nicht gedacht«, sagte ich und verdrehte die Augen.
»Hat es irgendeine Bedeutung für dich, was ich gedacht habe? Mir scheint eher nicht .« Schnell drehte sie sich in ihrem Stuhl nach vorn, dann drehte sie sich noch einmal zu mir um. »Ich weiß nicht, wie das in New York läuft, aber hier hören Freunde nicht einfach auf, sich zu melden, wenn ihnen danach ist.« Sie hob die Hände, die leeren Handflächen zeigten in meine Richtung. »Ich bin keine Stalkerin, ich bin nicht deine Mutter, ich bin nicht dein Babysitter. Aber du hättest mir schreiben können. Mehr sag ich dazu nicht.«
Sie drehte sich um. Und mehr sagte sie dazu nicht für den Rest der Stunde.
Na und? , dachte ich und versuchte, mich in eine »Mir doch egal«-Schutzschicht zu hüllen. Ich hatte vor langer Zeit aufgehört, mich um Freundschaften zu bemühen. Meine Freundinnen in New York hatten das Gleiche gesagt wie Angie. Und sie hatten es hundertmal gesagt, bis sie mich eine nach der anderen aufgaben. Michaela, meine beste Freundin, hielt am längsten durch. Sie hatte den Verdacht, dass im Sommer etwas passiert war, aber ich weigerte mich, mit ihr zu reden. Ich redete über gar nichts mehr mit ihr, weil ich Angst hatte, dass die schlimmste Geschichte einfach aus mir heraussprudeln würde. Um Thanksgiving herum hörte sie auf, mich anzurufen. Ihre letzte Nachricht kam in der Woche vor den Weihnachtsferien:
Bitte rede mit mir.
Ich antwortete nicht. Als wir nach Indiana zogen, bekamen wir neue Telefonnummern, und ich hatte mich von allen, die mich von früher kannten, getrennt. Ich hatte mich aus ihren Leben ausgeixt.
Dass Angie mir den Rücken zudrehte, tat mehr weh als erwartet.
Es klingelte, und sie rannte ohne einen Blick zu mir aus dem Klassenraum. Ich schnappte mir meine Sachen und folgte ihr zu ihrem Schließfach.
»Du hast recht«, sagte ich. »Es tut mir leid. Wirklich. Du bist mir eine so gute Freundin, und ich … ich habe einfach vergessen, wie das ist.«
Sie sah mich komisch an, dann drehte sie sich zu ihrem Schließfach um, um ein Lehrbuch gegen ein anderes zu tauschen. »Du hattest keine Freunde in New York? Schwer zu glauben.«
»Ich hatte Freunde«, sagte ich. »Dann nicht mehr. Und so war es jetzt eine Weile. Bis du gekommen bist.«
Angie machte ihr Schließfach zu und drehte sich zu mir um. Hatte sich das Buch und einen Block an die Brust gedrückt. »Warum?«
Ich konnte sie nicht ansehen. »Es ging einfach nicht anders.«
Angie sackte mit einem Seufzer zusammen. »Weißt du, wenn du über etwas reden willst … Ich bin da. Okay? Wann auch immer du willst.« Ihre dunklen Augen begegneten meinen. »Oder … wann immer du bereit bist.«
Ich wollte schon sagen, dass ich nichts zu sagen hatte. Stattdessen flüsterte ich: »Danke, Angie.«
Sie nickte knapp, ihre schwarzen Locken wippten über ihren Schultern. »Gut. Da wir die alte Sache jetzt erledigt haben, können wir vielleicht zu der neuen Sache übergehen? Und zwar das große Nicht-Date mit Isaac Pearce?«
Ein kleines Lächeln zeigte sich ohne meine Erlaubnis auf meinen Lippen, als wir zusammen den Gang entlanggingen. »Es war wirklich schön«, sagte ich. »Isaac ist ganz anders, als die Leute denken.« Sie warf mir einen Blick zu, und ich stieß sie gegen den Ellbogen. »Ich weiß, wie das klingt, aber es stimmt. Nach Ansicht der Leute hier ist er entweder ein Krimineller oder ein Schauspielgenie, und das ist alles. Aber er ist ein vollständiger Mensch. Er ist wirklich klug und denkt auf mehreren Ebenen …«
»Klingt, als hättet ihr euch gut verstanden. Warum klingst du so traurig, wenn du von ihm redest?«
»Es war total nett, aber zwei von den Plastics haben uns Kaffee trinken gesehen. Ich fürchte, dass eine davon Tessa Vance war und tratscht. Wenn mein Dad das herausfindet, wird er mir verbieten, bei dem Stück mitzuspielen.«
»Klingt wie eine berechtigte Sorge«, sagte Angie. »Aber wir sind traurig , weil …?«
»Ich kann das Isaac niemals sagen. Er würde wissen, dass ich den Klatsch über ihn und Tessa gehört habe. Dann hat er mir auch noch angeboten, mich nach Hause zu bringen. Als wir in meiner Straße waren, hab ich ihm gesagt, er soll einen halben Block von meinem Haus entfernt parken, damit meine Eltern ihn nicht sehen. Und er wusste , dass es nicht das richtige Haus war. Jetzt fühlt er sich aus den total falschen Gründen wegen mir schlecht, und ich fürchte, die Wahrheit würde ihn noch mehr verletzen. Dass mein Dad mir verbietet, mich außerhalb der Proben mit ihm zu treffen.«
Angie machte den Mund auf, um etwas zu sagen, dann stieß sie mich gegen den Arm. Sie beugte sich vor. »Tessa Vance steht da drüben«, sagte sie durch die Zähne. »Rotbraunes Haar.«
Ich folgte ihrem Blick zu den Plastics, die am Wasserspender standen, und erkannte zwei von ihnen vom Samstag.
»Scheiße, das ist sie.«
»Und, Scheiße, die starren uns jetzt an«, erwiderte Angie.
Tessa schenkte mir ein durch und durch falsches Lächeln und flüsterte dann demonstrativ mit ihren Freundinnen. Alle drehten sich zu mir um und rissen belustigt und voller Verachtung die Augen auf.
»Ich bin am Arsch«, sagte ich.
»Komm«, sagte Angie, hakte sich bei mir unter und zog mich den Gang entlang. »Dreh dich nicht um.«
»Ich bin total am Arsch. Mir ist egal, was sie denkt, aber wenn sie es ihrem Dad sagt …«
»Was dann?«, fragte Angie. »Erzähl einfach deinem Dad, dass sie eine verlogene kleine Schlampe ist«, sie drehte sich um und rief über ihre Schulter zurück, »die sich um ihren eigenen Kram kümmern soll .«
Mein Lachen verhallte, und ich stöhnte. »Was soll ich machen? Ich brauche dieses Stück.«
»Du brauchst es?«
»Es … ist mir ans Herz gewachsen. Der Regisseur und die Schauspieler.«
»Und Isaac.«
»Ja, auch, okay? Aber er wird in ein paar Monaten aus Harmony weggehen, also sind wir nur Freunde. Wir können nur Freunde sein.«
Angie verdrehte die Augen. »Berühmte letzte Worte.«
Im Laufe des Tages war ich mir immer sicherer, dass Tessa petzen würde. Die alberne Angst wurde immer schlimmer, und ich kriegte fast Panik, dass Dad mich aus dem Stück rausnehmen würde. Ich hatte Angie die Wahrheit gesagt. Ich brauchte das Stück. Ich hatte noch nicht gefunden, was ich in Ophelia suchte, aber es lag am Horizont, wie die Dämmerung eines neuen Tags. Eine optimistische Sonne, die in meiner immerwährenden Dunkelheit aufstieg.
Und dann war da noch Isaac. Mit einer anderen Ophelia neu anzufangen könnte ihn rausbringen. Ich wollte nicht dafür verantwortlich sein, dass etwas seinen Flow – oder welchen Prozess auch immer – störte. Talentscouts würden kommen, um ihn zu sehen. Er hatte schon genug Sorgen. Das Letzte, was er brauchte, waren Probleme wegen der lächerlichen Vorurteile meines Dads.
Nach dem letzten Klingeln holte ich die Sachen für die Hausaufgaben aus meinem Schließfach und klappte es wieder zu. Ich sprang mit einem kleinen Aufschrei zurück, als ich Justin Baker entdeckte, der sich lässig mit einer Schulter anlehnte.
»Hey«, sagte er. »Ich hab dich Samstag vermisst, aber heute kommst du zur Probe, ja?«
»Ja, natürlich«, sagte ich.
Direkt nachdem ich mich von dem Mini-Herzinfarkt erholt habe, den ich deinetwegen gerade hatte .
»Cool.« Er betrachtete die Schüler, die hin und her eilten. Ein träger Prinz, der sein Königreich überblickt. »Hör mal, bald ist dieser Schulball. Der Spring Fling?«
»Ja«, sagte ich langsam. »Ich hab davon gehört.«
»Cool«, sagte Justin wieder. »Glaubst du, Martin gibt uns von den Proben frei, damit wir hingehen können?«
»Ich … Ich weiß es nicht.«
Ich trat zurück. Ich betrachtete Justins gut aussehendes Gesicht. Blondes Haar, blaue Augen und ein entspanntes Lächeln. Er hatte nichts Bedrohliches an sich, allerdings war auch an Xavier nichts Bedrohliches gewesen.
Hinter Justin sah ich, wie Tessa, Jessica und ein paar andere Mädchen uns beobachteten.
»Und? Willst du?«
»Will ich was?«
Er lachte verwirrt. »Mit mir hingehen.«
Es war nicht mal eine Frage.
»Zu dem Ball gehen …?«
Ein Ball. Körper, die sich im Dunkeln bewegten. Pulsierende Musik. Eine Hand auf meiner Hüfte. Eine Stimme in meinem Ohr: »Kann ich dir etwas zu trinken holen?«
Ich schob die düsteren Erinnerungen weg. Die Sehnsucht, normal zu sein und normale Dinge zu erleben, war wie ein Hunger. Ich wollte auf einen Ball gehen. Ich wollte shoppen gehen und ein hübsches Kleid kaufen und Schmetterlinge im Bauch spüren, wenn mein Date an die Tür kam und ein Anstecksträußchen in einer Plastikschachtel mitbrachte.
In meiner flüchtigen Fantasie öffnete Mom die Tür und krähte begeistert, wie umwerfend mein Date im Smoking aussah. Mein Vater schüttelte ihm die Hand und bat ihn herein. Ich kam die Treppen hinunter, und es war Isaac, der auf mich wartete und lächelte …
Ich blinzelte und sah wieder Justins erwartungsvolles Grinsen.
»Oh, ich … Ich will eigentlich gerade mit niemandem zusammen sein … nicht ernsthaft. Nicht, dass du gefragt hättest. Ich meine …«
Sein Lächeln wurde breiter, und er lehnte sich schwerer an die Schließfächer, als wäre er daran gewöhnt, dass Mädchen in seiner Gegenwart stammelten.
»Super«, sagte er. »Wir gehen einfach als Freunde hin und … gucken, was passiert.«
Mein Magen zog sich zusammen, als sein Blick kurz flackerte, und plötzlich hatte ich das Gefühl, dass die Decke nur einen Zentimeter über meinem Kopf hing.
»Wir müssen Martin fragen …«
»Was gibt’s, Leute?«, fragte Angie und stellte sich neben mich. Sie sah Justin streng an, worauf er mit einem lockeren Lächeln reagierte.
»Nicht viel«, sagte er. »Wir sprechen nur die Details zum Spring Fling ab.«
Angie riss die Augen auf, und sie zeigte mit dem Finger abwechselnd auf uns beide. »Ihr zwei wollt zusammen auf den Ball gehen?«
Ich machte den Mund auf, um etwas zu sagen.
»Jepp«, sagte Justin. »Lass uns bei der Probe weiterreden. Ich muss los.« Er deutete in einer Art Abschied mit dem Kinn auf mich. »Bis heute Abend.«
»Ja … bis dann«, sagte ich.
»Bis dann«, echote Angie und zog mich nach draußen. »Ich bin total verwirrt. Justin?«
Der Vorfrühlingsnachmittag war kalt und brachte mich wieder zu mir.
»Nun … ja. Warum nicht?«, sagte ich und kämpfte um mein Gleichgewicht. »Dann hat Tessa nichts mehr zu tratschen. Stimmt doch. Und … wenn Justin mich abholt, wird mein Dad sich vor Begeisterung nicht wieder einkriegen. Er wird so glücklich sein. Und ich muss mir keine Gedanken mehr machen, dass er mich aus dem Stück nimmt. Jepp. Die perfekte Tarnung.«
Angie sah mich zweifelnd an. »Ja, vielleicht. Aber einen Moment lang sah es aus, als hätte er dich überrumpelt …«
Ich blieb stehen. »Hat er nicht« , sagte ich ein bisschen zu laut. »Es ist meine Entscheidung. Ich kann zu dem Ball gehen, mit wem ich will.«
Außer mit Isaac.
Ich versuchte mich zu beruhigen. Isaac hatte mir geradeheraus gesagt, dass er mit der Highschool durch war. Wenn ich Normalität wollte, musste ich sie mir nehmen. Genau wie er gesagt hatte.
»Okay, okay«, sagte Angie. »Aber Willow …«
»Wir gehen einfach als Freunde. Wir alle. Zusammen. Du und Nash und Joc und Caroline, ja? Wir gehen alle zusammen, okay? Bitte.«
Angie runzelte die Stirn. »Ja, klar«, sagte sie langsam. »Wenn du das willst.«
»Das will ich. Natürlich will ich das.«
Normal sein. Das will ich. Das ist alles, was ich jemals will.
»Willow, meine Liebe«, rief Martin. »Kommst du?«
Die Probe hatte noch nicht angefangen. Das Ensemble saß im Zuschauerraum und unterhielt sich leise. Isaac stand mit Martin auf der Bühne. Als ich die Stufen zur Bühne hinaufging, betrachtete ich Isaacs hochgewachsene Gestalt, schlank, aber muskulös. Er stand mit verschränkten Armen da, die langen Beine in Jeans und abgewetzten schwarzen Stiefeln. Die Ärmel seines T-Shirts dehnten sich über seinem Bizeps.
Warum fällt mir das überhaupt auf? Warum kann ich nicht aufhören, ihn anzusehen?
»Ich habe mich gerade mit Isaac über euer Treffen am Samstag unterhalten. Es war nicht zu schlimm, nehme ich an?«
»Ich hab’s überlebt«, sagte ich und setzte für Isaac ein kleines Lächeln auf.
Er reagierte mit einem schwachen, uninteressierten Nicken, aber seine graugrünen Augen waren voller Gefühle, als er mich von oben bis unten ansah. Seine Lippen – sonst immer zusammengepresst – öffneten sich leicht. Dann riss er abrupt den Blick von mir los. »Ja, es war gut«, sagte er. »Wirklich gut.«
»Wirklich gut?«, sagte Martin und zog die Augenbrauen in scherzhaftem Unglauben hoch. »Hat das jemand gehört? An diesem historischen Tag fand Isaac Pearce etwas wirklich gut.«
»Hör auf, Marty.«
Martin zwinkerte mir zu. »Ich habe ein gutes Gefühl.« Lauter sagte er: »Proben wir euren Dialog in Akt drei, Szene zwei.«
Dank den Nachmittagen in der Bibliothek mit meinem Skript und der Übersetzung in heutige Sprache auf der SparkNotes-Seite bestand das Stück für mich nicht länger aus Absätzen voll vager Poesie. Ich war jetzt mit jedem Akt vertraut. Die Szene, die Martin proben wollte, war ein Spiel im Spiel – Hamlet hatte eine Schauspieltruppe gebeten, den Mord an seinem Vater zu reinszenieren. Während der Vorstellung quält Hamlet Ophelia mit derben Witzen und sarkastischen Bemerkungen.
Zwei Stuhlreihen wurden schräg auf die Bühne gestellt, sodass sie nicht im Profil zum Publikum waren und auf die linke Bühnenseite blickten. Der König und die Königin würden in der ersten Reihe sitzen, ich dahinter neben einem leeren Stuhl. Isaac wartete hinter der Bühne auf seinen Einsatz.
Ich konnte den Text dieser Szene, Isaac auch. Mit dem auswendig gelernten Dialog war es das erste Mal, dass wir ohne Skript in der Hand spielten, und ich wusste nicht, was ich mit meinen Händen machen sollte.
»Von deinem Auftritt an, Hamlet«, sagte Martin. Er hatte seine übliche Haltung angenommen – ein Arm quer über den Bauch gelegt, der andere Ellbogen darauf gestützt, die Hand über dem Mund.
Isaac kam aus den Schatten der Kulisse. Mit großen Augen und einem lockeren, nervtötenden Lächeln, das man im echten Leben niemals an ihm sah.
Martin gab ihm Gertrudes Text als Stichwort. »Komm hieher, lieber Hamlet, setz dich zu mir.«
Isaacs fieberhafter Blick fiel auf mich und wurde weicher. »Nein, gute Mutter, hier ist ein stärkerer Magnet.«
Er eilte zu mir und ging zu meinen Füßen auf die Knie. Seine Miene war vorgetäuschte Unschuld, und seine Augen waren stürmisch und boshaft.
»Fräulein, soll ich in Eurem Schoße liegen?«
Ich erschrak und setzte mich aufrechter hin, den Blick geradeaus, die Hände gefaltet. »Nein, mein Prinz.«
»Ich meine, den Kopf auf Euren Schoß gelehnt?« , sagte er und tat genau das, legte seine Wange auf meinen Oberschenkel.
Ein Schauder überkam mich, wo er mich berührte, tanzte die Wade hinunter und schoss gleichzeitig warm zwischen meine Beine. Die erste intime Berührung eines Mannes seit X. Anstatt sich zu verkrampfen oder völlig dichtzumachen, mochte mein Körper das Gewicht von Isaacs Kopf auf meinem Schoß. Seine dunklen Bartstoppeln setzten sich krass gegen meine weißen Jeans ab.
Röte brannte in meinen Wangen, als ich flüsterte. »Ja, mein Prinz.«
Isaac drehte den Kopf und legte das Kinn auf meinem Oberschenkel ab. Die Szene verlangte spöttische Verachtung, verborgen unter künstlichem Humor, aber er flirtete fast.
»Denkt Ihr, ich hätte erbauliche Dinge im Sinne?«
Ich wusste aus dem Kommentar, dass damit Sex gemeint war, wurde noch röter und setzte mich noch gerader hin. »Ich denke gar nichts, mein Prinz« , sagte ich und dachte an sein volles braunes Haar und dass ich meine Finger hineingraben wollte.
»Ein schöner Gedanke, zwischen den Beinen eines Mädchens zu liegen.«
Gott, wieder durchfuhr mich Hitze und legte sich zwischen meine Beine, als hätte seine Stimme es befohlen.
»Wa-was ist, mein Prinz?« , fragte ich, stammelte Shakespeares Worte.
»Nichts« , sagte er.
Ich versuchte, mir bewusst zu machen, dass Hamlet nur mit Ophelia spielte, aber meine Replik kam mit einem kleinen provozierenden Lachen heraus. »Ihr seid aufgeräumt.«
Isaac lächelte wissend. »Wer? Ich?«
»Ja, wirklich aufgeräumt«, sagte Marty und unterbrach den Moment wie mit einem Vorschlaghammer. »Mir scheint ein bisschen zu aufgeräumt. Ich werde etwas dazu sagen.«
Isaac blieb kurz, wie er war, dann hob er den Kopf von meinem Schoß und setzte sich auf den leeren Stuhl neben mir. Ich legte meine Hand auf die Stelle, wo er mich berührt hatte, um die Wärme dort ein wenig länger zu spüren.
Martin rieb sich das Kinn. »Ihr habt wirklich großartige Fortschritte gemacht. Man merkt, dass ihr euch anders zueinander in Beziehung setzt, da ist viel mehr Vertrautheit.« Er sah Isaac an. »Aber du bist zu nett.«
Isaac schnaubte. »Ich bin nett?«
»Es gibt für alles ein erstes Mal«, sagte ich.
Spielerisch rempelte er mich mit der Schulter an. Er sah mich nicht an, aber das »Ödipus nach dem Vorhang«-Lächeln zeigte sich, und mein Eisblock bekam sofort einen Riss. Ein Lichtstreifen in der Dunkelheit. Ich wusste, er hatte mir verziehen, dass ich ihm mein Haus nicht gezeigt hatte, und ich hasste es umso mehr, dass ich ihn verstecken musste.
Ich will ihn nicht verstecken. Ich fühle mich gut bei ihm.
»Letztes Mal warst du zu wütend«, sagte Marty. »Diesmal zu nett. Sei wieder wütend, und lege es über die Gefühle, die ihr füreinander hegt. Bau auf dem auf, was wir letztes Mal erarbeitet haben.«
Isaac nickte. »Alles klar.«
Martin wandte sich mir zur. »Willow, die Nervosität gefällt mir ganz außerordentlich. Ophelia ist eine Dame, und Hamlet benimmt sich für einen Prinzen ziemlich unpassend. Die erste steife und schockierte Reaktion war brillant. Aber später … Wie soll ich es taktvoll ausdrücken? Später siehst du ein bisschen angetörnt aus.«
Meine Augen wurden weit, und ein elektrisches Kribbeln schoss mir die Wirbelsäule hinab.
Martin wandte sich wieder an Isaac. »Wenn ich recht überlege, wirkst du auch verliebt. Im Moment scheint die Szene eher zu Romeo und Julia zu passen.«
Da ich Isaac unmöglich ansehen konnte, suchte mein Blick Zuflucht im Zuschauerraum. Justin saß in der ersten Reihe mit Rosenkranz und Güldenstern – zwei Schauspieler aus dem College, mit denen er sich angefreundet hatte – und sah mich ausdruckslos an.
»Wenn ihr in dieser Szene ein Schloss aus Gefühlen bauen wollt«, sagte Martin, und ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf ihn, »dann ist Liebe das Fundament. Die Ruine dieser Liebe ist das Erdgeschoss. Der erste Stock ist Hamlets Wahnsinn. Und im Dachgeschoss finden wir eine gesunde Dosis sexueller Anziehung. Okay?«
Martin sah auf die Uhr. »Verdammt. Die Schauspielergewerkschaft verlangt eine Pause.« Er klatschte in die Hände. »Okay, Leute. Fünf Minuten.«
Isaac und ich blieben allein auf der Bühne sitzen, zwischen uns hing ein schweres Schweigen voll geflüsterter Worte.
Die Gefühle, die ihr füreinander hegt …
Du siehst verliebt aus …
Eher wie Romeo und Julia …
»Tja«, sagte ich endlich. »Martin nimmt als Regisseur kein … Blatt vor den Mund, stimmt’s?«
Isaac rieb sich den Hinterkopf. »Ja, er hat manchmal echt wilde Ideen.«
»Ich mag seine Ideen«, sagte ich. »Ich meine, ihn. Ich mag ihn.«
Isaac sah mich an. »Ja. Ich auch.«
Der Moment leuchtete. Isaacs graugrüner Blick war so warm, und die gelbe Bühnenbeleuchtung schien auf uns hinab. Dann klatschte Martin in die Hände, um unsere Aufmerksamkeit zu erregen, und ich zuckte zusammen.
»Martin klatscht auch gern in die Hände«, sagte Isaac. »Das macht er oft.«
Ich lachte. »Hab ich bemerkt.«
»Nur eine freundliche Erinnerung an das Auswendiglernen. Wir proben jetzt seit zwei Wochen«, sagte Martin. »Wie weit sind alle mit dem Text?«
Ein paar Leute murmelten und nickten, ein paar stöhnten. Len Hostetler packte sich selbst an der Kehle und tat so, als würde er erwürgt werden. Dann grinste er und hielt den Daumen hoch. »Läuft, Marty.«
Justin hob die Hand. »Ich habe eine Frage. Willow und ich wollen zum Spring Fling nächsten Freitag in der Schule. Können wir den Abend freikriegen?«
Eiseskälte blühte in meinem Magen auf und breitete sich aus. Ich sah Isaac an. Er starrte zurück. Eine halbe Sekunde lang war die Verletzung offensichtlich. Ein kleines Boot trieb auf den graugrünen Wellen und ging unter. Dann machte er dicht und sah weg.
»Du musst es erlauben, Herr Regisseur«, sagte Len mit seiner dröhnenden Stimme.
»Aber wirklich«, sagte Lorraine. »Ein Frühlingsball ist ein wichtiges Ereignis im Highschool-Leben.«
»Ich werde dann mal eine Ausnahme machen«, sagte Martin und runzelte leicht die Stirn. »Aber mehr als ein Abend geht auf keinen Fall. Noch jemand? Nimm die Hand runter, Len.«
Alle lachten, und Justin sah selbstzufrieden aus. Die Scham und das schlechte Gewissen lagen so schwer auf mir, dass ich Isaac nicht in die Augen sehen konnte.
Warum hast du ein schlechtes Gewissen? Er geht weg aus der Stadt. Er hat gesagt, er ist durch mit der Highschool …
»Okay«, sagte Martin und klatschte in die Hände. »Machen wir weiter. Willow? Isaac?«
Wir spielten die Szene noch einmal – diesmal, ohne zu flirten. Ohne Nettigkeit. Isaac sprach seinen Text mit kaum verhohlener Verachtung. Ein verletzter Prinz, der die Geliebte verhöhnt, die ihn verraten hat. Sein Kopf lag wie ein Stein auf meinem Schoß. Wir spielten keine Rollen. Wir waren einfach wir selbst.
Es hatte nur einen Samstag gebraucht, um eine Verbindung herzustellen. Isaac hatte mir private Dinge erzählt. Ich hatte ihn näher an meine Geschichte herangelassen als jeden anderen Menschen. Die Zeit, die wir zusammen verbracht hatten, war das Fundament der Szene. Dass ich mit Justin auf die Party ging, war der Verrat. Hamlets Schmerz war Isaacs. Ophelias Bedauern war meines.
Als wir fertig waren, klatschte Martin wieder, und diesmal war es Applaus.
»Perfekt«, sagte er. »Es war perfekt. Es gibt der Szene so viel mehr Tiefe. Wirklich gute Arbeit. Machen wir weiter …«
Am Ende der Probe holte ich schnell meine Sachen und ging raus. Dann fiel mir wieder ein, dass Justin mich nach Hause brachte. Er wartete am Eingang des Theaters auf mich und sah selbstgefällig und triumphierend aus. Ich hasste ihn ein wenig dafür.
Ich wollte das Skript zu eilig in meine Tasche schieben und war so unaufmerksam, dass ich es fallen ließ. Das Ringbuch öffnete sich, als es auf den Boden fiel. Seiten rutschten heraus, und ich kniete mich hin, um sie einzusammeln. Eine Gestalt ging neben mir in die Hocke, und ich roch Benzin, Aftershave und Zigarettenrauch.
»Ich dachte, du wolltest nicht hingehen«, sagte er, und die Muskeln in seinem zusammengepressten Kiefer waren sichtbar.
Du hast gesagt, du wärst durch mit der Highschool , wollte ich schreien.
»Ich hab’s mir überlegt«, sagte ich und schob das Kinn vor. »Darf ich das nicht?«
Er lachte kurz und hart. »Doch, sicher.«
Er reichte mir den Papierstapel, dann erstarrte er und runzelte die Stirn, als er die kleinen schwarzen X auf den Rändern entdeckte, als wären die Seiten von Insekten befallen.
»Sind die Proben so langweilig?«
»Nein. Das ist nur Gekritzel.«
»Du hast gesagt, du kritzelst rum, wenn dir lang–«
»Gib sie mir, bitte.«
Die harten Linien und Kanten seiner Miene wurden weich, als er mir die Seiten gab. Fast widerstrebend. Als wollte er mir die schwarzen X nicht zurückgeben.
»Nacht, Willow«, sagte er sanft und stand auf.
»Gute Nacht, Isaac«, sagte ich, aber er war schon weg.