18. KAPITEL
Isaac
»Was war das denn bitte, Marty?«, fragte ich, als alle anderen gegangen waren. »Verliebt? Ich sah verflucht noch mal verliebt aus?«
Martin sah mich gelassen an. »Ich werde nicht ändern, wie ich Regie führe«, sagte er. »Ich nenne die Dinge beim Namen. Aber ich hatte gehofft …«
»Vergiss das mit der Hoffnung. Mach deine Regie, wie du willst, aber hör auf, mich verkuppeln zu wollen.«
Sein Blick wurde hart, und er verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich nenne die Dinge beim Namen«, sagte er wieder. »Wenn du mir etwas gibst, verwende ich es für eine Szene.« Er ging einen Schritt auf mich zu. »Da kannst du nichts machen, aber was sie angeht, kannst du einiges machen.«
»Es ist zu spät, Marty«, sagte ich und meine Wut verrauchte. »Ich werde aus Harmony wegziehen. Ob deine Talentscouts mich nehmen oder nicht.«
»Ich hoffe, du findest, was auch immer du suchst, wenn du das tust. Aber ich hoffe auch, dass du nicht übersiehst, was direkt vor deiner Nase liegt.« Er legte mir die Hand auf die Schulter. »Es ist nie zu spät . Diese beiden Worte sind die größten und mächtigsten Hoffnungskiller, die die Menschheit sich jemals ausgedacht hat.«
Ich öffnete die Tür zum Trailer. Paps war auf dem Sofa eingepennt, eine Zigarette glühte noch im Aschenbecher auf dem Wohnzimmertisch. Ein Haufen unbezahlter Rechnungen, bekleckert mit Bier und Whiskey und Resten seines Fast-Food-Dinners, diente ihm als Untersetzer. Wenn Hoffnungslosigkeit einen Geruch hatte, dann stank sie nach schalem Bier, Fett und einem überquellenden Aschenbecher.
»Es ist nicht zu spät, endlich von hier zu verschwinden«, murmelte ich.
Aber anstatt zu packen und zu Marty rüberzufahren, drückte ich die Zigarette aus und löschte das Licht.
Am nächsten Morgen goss ich Milch in eine Schüssel mit Cornflakes und aß sie im Stehen vor der Küchentheke. Paps wachte irgendwann mit einem Schnarcher auf, blinzelte mich aus trüben Augen an und kratzte sich am unrasierten Kinn. »Gehst du zur Arbeit?«
»Ich habe heute frei.«
Er lehnte sich auf der Couch zurück. »Du nimmst dir einen Tag frei?«
Mein Körper spannte sich an, jeder Muskel, jede Sehne war in Alarmbereitschaft. Er suchte Streit und war noch nicht mal von der Couch aufgestanden.
»Ich nehme mir nicht frei, Paps«, sagte ich ruhig. »Ich arbeite dienstags nicht.«
Die Autoschlosserei in Braxton, wo ich arbeitete, hätte mich auch Vollzeit genommen, aber ich half Marty weiterhin an manchen Tagen im Theater. Das musste Pops nicht wissen.
Ich aß die Cornflakes schneller.
»Und was willst du den ganzen Tag machen? Das dämliche Stück proben? In Strumpfhosen herumstolzieren und einen Haufen Blödsinn von dir geben, den kein Mensch versteht?«
»Klar, Paps, genau das habe ich vor«, sagte ich.
Er starrte mich einen Moment lang an, und ich starrte zurück.
»Komm mir bloß nicht dumm«, sagte er leise, wie grollender Donner, der ein Gewitter ankündigt.
Er starrte noch einen Moment länger, dann knurrte er. Er nahm das Feuerzeug und suchte die Zigaretten auf dem vollgestellten Wohnzimmertisch. Als er sie nicht fand, wurde er immer ungeduldiger und schubste leere Flaschen und Bierdosen um. Endlich kippte er mit einem gemurmelten Fluch den ganzen Tisch um, und Zigarettenstummel, Asche, Flaschen und Dosen verteilten sich auf dem Boden.
»Mein Gott, Paps.«
Ich stellte meine Schüssel weg, holte eine Mülltüte und kniete mich neben das Schlamassel. Ich fing an aufzuräumen und Flaschen und Dosen in die Tüte zu packen.
Paps blieb einfach sitzen. Er bückte sich nach einer leeren Bierdose und warf sie in die Mülltüte. Dann nahm er eine der leeren Flaschen am Hals und schlug mir damit seitlich ins Gesicht.
»Du kommst mir nicht dumm!« , brüllte er und drohte mit der Flasche.
Ich starrte ihn an, das Herz hämmerte in meiner Brust. Mein Atem ging schnell, und ich spürte, wie meine rechte Gesichtshälfte anschwoll. Bei jedem Herzschlag pochte der Schmerz in meinem Wangenknochen und unter dem Auge. Blut lief mir die Wange hinab.
Mit einem wütenden Schrei schlug ich ihm die Flasche aus der Hand, packte seine Handgelenke und presste sie gegen seine Brust. Ich drückte ihn auf die Couch, beugte mich mit meinem ganzen Gewicht über ihn. Mein Gesicht war nur Zentimeter von seinem entfernt, das Blut, das mir die Wange hinunterlief, tropfte auf sein kariertes Hemd.
»Das machst du nie wieder!«, brüllte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Nie wieder, verdammt.«
Er hatte mich hart getroffen, lebenslange Arbeit mit schwerem Stahl war in dem Schlag zu spüren gewesen. Und ich hatte nicht aufgepasst. Ich war inzwischen stärker als er. Er versuchte nicht, sich zu wehren, und ein Hauch von Angst zeigte sich in seinen Augen.
Ich stieß ihn ein letztes Mal hart gegen die Couch und richtete mich auf. Ein paar Minuten blickte ich auf ihn hinab und versuchte, mich an eine Zeit zu erinnern, in der er mich nicht voller Verachtung angesehen hatte. Eine Zeit, in der er und meine Mutter und ich zusammen und glücklich gewesen waren. In meinem Kopf hatte ich ein Foto von uns dreien, aber jetzt waren darauf nur noch meine Mutter und ich. Der Mann, der mein Vater gewesen war, war längst aus dem Bild verschwunden.
Ich ging ins Bad. Hinter mir keuchte Paps und fluchte leise. Ich machte die Badezimmertür zu und sah mich im Spiegel an.
»Verdammt.«
Meine rechte Wange war angeschwollen und blutete aus einer Platzwunde von einem Zentimeter Länge. Auf meinem T-Shirt war ein besorgniserregender roter Fleck.
Ich nahm das Handtuch neben dem Waschbecken, ließ kaltes Wasser darüberlaufen und säuberte die Wange. Wahrscheinlich musste die Wunde genäht werden, aber ich würde mir nicht auch noch eine fette Rechnung über eine Notfallbehandlung aufhalsen. Ich besaß für genau solche Gelegenheiten einen Vorrat an Wundnahtstreifen. Ich brauchte drei Versuche, um einen schnell genug aufzukleben, bevor das Blut die Haut zu glitschig machte. Ich klebte einen zweiten daneben, dann ein normales Pflaster über beide.
Inzwischen pochte mein ganzes Gesicht. Die Schwellung würde wahrscheinlich erst in ein paar Tagen abklingen. Ein paar Proben lang würden die anderen mich voller Mitleid ansehen, aber niemand würde fragen, was passiert war, weil sie es schon wussten. Marty würde mich beiseitenehmen und mir noch einmal sagen, dass seine Tür immer offen stand. Dass ich seine Gastfreundschaft nur annehmen müsste.
Während ich mein Spiegelbild anstarrte, fragte ich mich, warum ich das verdammt noch mal nicht tat.
Als ich aus dem Bad kam, verstand ich, warum. Mein Vater saß auf der Couch, die Hände im Schoß, und blickte ins Nichts. Traurig und verloren. Mein Blut trocknete zu braunen Flecken auf dem Grün seines karierten Hemds.
Er hob den Kopf und blickte sofort zu meiner Wunde. Schmerz und Reue huschten über sein Gesicht, bevor er schnell wegsah.
Ich schob das Hamlet -Skript in meinen Rucksack, schnappte mir die Autoschlüssel, die Winston und meine Jacke. Als ich wieder zum Wohnzimmertisch ging und die Fernbedienung nahm, zuckte er zusammen, als wenn ich ihn schlagen wollte. Das tat fast genauso weh wie mein Gesicht.
»Willst du Nachrichten schauen?«
Er nickte. Ich machte ihm den Fernseher an und ging hinaus.
Ich schlenderte zum östlichen Ende des Schrottplatzes, wo der umgedrehte Pick-up vor dem Maschendrahtzaun lag. Auf dem Weg zündete ich mir eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Langsam atmete ich aus und zwang meine Nerven, sich zu beruhigen. Als ich Bennys leise Stimme hörte, blieb ich stehen.
»Verdammt, Benny.«
Ich hörte einen Knall, gefolgt von einem Fluch. Benny kam heraus und rieb sich den Kopf.
»Mann, du hast mich total erschreckt.«
»Warum bist du nicht in der Schule?«
Er zuckte verlegen die Achseln und blickte zu Boden. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich will da nicht hin.« Jetzt sah er von seinen Schuhen nach oben und riss die Augen auf. »Was ist passiert?«
»Du weißt genau, was mir passiert ist«, sagte ich. »Ich will wissen, was mit dir passiert. Du kannst nicht nicht zur Schule gehen.«
»Warum nicht?«, gab er zurück. »Du gehst auch nicht zur Schule.«
»Ich bin geblieben, bis sie mich rausgeworfen haben, und jetzt mache ich einen Test, um den Abschluss zu haben. Du bist in der achten Klasse. Du versaust dir die Zukunft, wenn du nicht hingehst.«
»Na gut«, sagte er, aber unverbindlich. Ich drang nicht zu ihm durch. Ich wusste nicht wie. Ich wusste nicht, was ich tun oder sagen sollte. Ich hatte nicht die Worte. Ich war nicht sein Dad. Ich war nur der Nachbar, dessen Vater ein Säufer war.
Und plötzlich war ich furchtbar müde. Erschöpft bis auf die Knochen.
»Hilfst du mir, den Text zu lernen?«
»Du bringst mich nicht in die Schule?«
»Ich kann dich jeden Tag meines Lebens hinfahren, Benny, aber es bringt nichts, wenn du nicht begreifst, wie wichtig es ist. Das Stück, in dem ich gerade spiele, ist wichtig für mich. Also kann ich Hilfe gebrauchen.«
»Ja, klar, Mann.«
Ich gab ihm mein Skript, und er setzte sich auf den Sattelschlepperreifen. »Wo bist du?«
»Ich hab’s markiert.«
Er fand das Eselsohr und schlug die Seite auf. »Sein oder nicht sein?«
»Ja, das ist es«, sagte ich und nahm einen letzten Zug von meiner Zigarette. Ich ließ sie fallen, trat sie aus. »Ich spiele es nicht, sage nur den Text.«
»Ich bin bereit«, sagte Benny.
Ich stand in der Mitte der kleinen leeren Fläche auf dem Schrottplatz und schloss die Augen.
» Sein oder nicht sein; das ist hier die Frage:
obs edler im Gemüt, die Pfeil und Schleudern
des wütenden Geschicks erdulden oder,
sich waffnend gegen eine See von Plagen,
durch Widerstand sie enden? «
Ich ließ die Schultern hängen. »Sterben – schlafen« , sagte ich leise. »Schlafen! Vielleicht auch träumen.«
»Du hast ganz viel ausgelassen.«
»Ich weiß.«
»Was bedeutet es?«, fragte Benny, die Stimme jetzt gedämpft.
»Er fragt, ob es sich lohnt. Weiterzumachen oder nicht.«
»Tut es das?«
Ich weiß es nicht , dachte ich. Manchmal weiß ich es einfach nicht.
»Was ist die nächste Zeile?«, fragte ich.
»Ja, da liegts« , sagte Benny, zog die Nase kraus und lachte leise.
Ich sprach den Rest des Monologs, und Benny unterbrach mich ab und zu, um meine Fehler zu korrigieren. Ich kam zum Ende, wo Ophelia auftritt, und verstummte. Meine Gedanken wurden von Willow erfüllt. Ich stellte mir vor, wie sie mit mir auf diese Bühne – diesen Schrottplatz – trat und wunderschön und zerbrechlich, aber auch stark und widerstandsfähig aussah.
Benny dachte, ich hätte den Text vergessen. »Nymphe, schließ in dein Gebet all meine Sünden ein!« Er zog wieder die Nase kraus. »Was heißt Nymphe? «
»Ein Mädchen, er meint Ophelia damit. Sie kann ihn noch nicht hören, aber er bittet sie, in ihren Gebeten an ihn zu denken. Es ist wie ein Abschied.«
»Geht er weg?«, fragte Benny.
»Ja«, sagte ich, die Worte fielen wie Steine aus mir heraus. »Und er kann sie nicht mitnehmen.«
Ich ging zu Benny, nahm ihm das Skript ab und klappte es zu.
»Benjamin, wenn du mein Freund bist, dann mach die Schule fertig. Tu’s für mich und deine Mutter. Du musst selbst auf dich aufpassen, niemand sonst kann es für dich tun. Deine Mom gibt ihr Bestes, aber am Ende liegt es bei dir.«
»Wo gehst du hin?«, fragte Benny und blinzelte die Tränen weg.
»Ich werde eine Weile bei einem Freund wohnen, und wenn Hamlet vorbei ist, gehe ich aus Harmony weg.«
»Sehen wir uns wieder?« Seine Stimme zitterte jetzt.
»Ja, natürlich. Ich komm vorbei. Und ich verabschiede mich, bevor ich wegziehe.«
Benny schniefte und wischte sich die Nase am Ärmel ab. »Scheiße, Mann«, sagte er. »Aber ich freu mich für dich. Ich werd dich vermissen.«
Ich strich ihm über das kurz geschorene Haar. »Los komm. Ich fahr dich zur Schule.«
Ich setzte Benny vor der Elizabeth Mason Middleschool ab, dann fuhr ich auf direktem Weg zurück zum Trailer, in Gedanken immer noch bei Willow und der Skriptseite mit den kleinen schwarzen X.
Ich würde nichts von ihr verlangen. Sie schuldete mir nichts. Aber ich würde ihr das Stück geben, so gut ich konnte. Ich würde ihr helfen, ihre Geschichte bis zum Ende zu erzählen und die Erleichterung zu finden, um die sie ständig bat. Und danach würde ich gehen.
Paps war in seinem Zimmer und hatte die Tür zu, als ich zurückkam. Ich ging direkt in mein eigenes kleines Zimmer und packte ein paar Sachen. Es war nicht viel. Mein ganzer Besitz passte in einen kleinen Koffer.
Vor dem Zimmer meines Vaters blieb ich sehen. Ich wollte schon klopfen, dann ließ ich die Hand wieder sinken. Stattdessen riss ich eine Seite aus dem Skript und schrieb hinten drauf:
Ich zahle die Rechnungen und schicke dir Geld. Du musst dir um nichts Sorgen machen.
Isaac
Ich legte den Zettel auf den Wohnzimmertisch, der jetzt leer war bis auf einen Aschenbecher und ein Päckchen Winston. Nur zur Sicherheit lehnte ich das Blatt gegen die Zigaretten, damit er es nicht übersah.
Dann ging ich.
Ich fuhr durch die Stadt in das Viertel hinter dem Amphitheater. Straßen mit großen behaglichen Häusern, von denen die meisten noch aus dem Sezessionskrieg stammten. Ich klopfte an die Tür eines roten Backsteinhauses mit schmiedeeisernem Zaun. Brenda Ford öffnete die Tür, Haare und Kittel voller Farbflecken. Gerade wollte sie lächeln, als sie meine blutige Kleidung und die geschwollene Wange sah, und ihr Gesichtsausdruck verwandelte sich in erschrockene Sorge.
Dann erst bemerkte sie die Tasche in meiner Hand und den Koffer hinter mir. So viele Emotionen zeigten sich auf ihrem Gesicht: Kummer, Sorge – und endlich Erleichterung.
»Komm rein, Isaac«, sagte sie und machte die Tür weiter auf. »Komm einfach rein.«