20. KAPITEL
Willow
Der Tag des Balls war gekommen. Meine Eltern, begeistert, dass ich mich bemühte, unter Leute zu kommen, hatten Hors d'œuvres und Getränke für zwanzig statt für sechs bestellt. Auf den marmornen Arbeitsflächen unserer Küche standen kleine Sandwiches und mit Schokolade überzogene Nüsse und Kirschen ohne Ende. Es gab sogar Cracker und Kaviar.
»Kaviar?«, sagte ich zu Mom.
»Proteine, Schatz.« Sie trug eine mit Rüschen besetzte Schürze über ihrem Chanel-Outfit, als hätte sie alles selbst zubereitet, anstatt es bei einem Catering-Service zu bestellen.
»Ist das dein Ernst?«
Sie nippte an ihrem Rotwein. »Ich glaube, das Wort, das du suchst, ist Danke
.«
Ich seufzte, murmelte ein Danke und ging die Treppe hoch, um mein Kleid anzuziehen. Hätte ich geglaubt, dass sie das für meine Freunde tat und nicht, um Eindruck zu machen, wäre ich dankbarer gewesen.
Ein paar Stunden später kamen Nash, Angie, Caroline und Jocelyn zusammen an.
»Gemeinsam sind wir stärker«, flüsterte Angie, als sie mich umarmte. Sie betrachtete mit offenem Mund den Eingangsbereich unseres Hauses. »Euer Foyer ist größer als mein Zimmer.«
Wie ich vorausgesagt hatte, sah sie in ihrem Eiskunstläuferinnenkleid wunderschön aus. Das Haar fiel ihr in weichen schwarzen Locken um die Schultern, und sie hatte ein Halsband mit einer roten Seidenblume umgebunden. Nash und Jocelyn trugen beide Anzüge. Nash mit einer roten Fliege, passend zu Angies Blume. Jocelyn mit hellblauer Krawatte samt Einstecktuch, passend zu Carolines fließendem blauen Kleid.
Moms Lächeln wirkte etwas verkrampft, als sie ins Foyer kam, um meine Freundinnen zu begrüßen. Ihre Stimme war eine Oktave höher
als sonst, als sie uns bat, uns zusammenzustellen, um ein Foto zu machen. Mein Dad stand weiter hinten im Raum, hatte die Hände in die Taschen gesteckt und wippte vor und zurück. Sein Lächeln war noch angespannter als das meiner Mutter.
»Meine Eltern sind nicht sehr fortschrittlich«, sagte ich zu Angie.
»Ein Pärchen, bei dem einer einen Migrationshintergrund hat, und Lesben«, flüsterte Angie kichernd zurück.
»Es strapaziert die Grenzen ihrer Toleranz.«
»Wird Zeit, dass sie politisches Bewusstsein entwickeln!«
Es klingelte an der Tür. »Verstärkung«, sagte ich.
Wie ich gedacht hatte, waren meine Eltern von Justin Baker vollauf begeistert. Er kam in einer gemieteten Limousine, und ich musste zugeben, dass er in dem schwarzen Anzug ziemlich flott aussah – die marineblaue Krawatte passte zu meinem Kleid. Aber er sah gut aus, wie ein schickes Auto in einer Verkaufsausstellung gut aussah. Es war hübsch anzusehen, aber man hatte null Interesse, eine Probefahrt zu machen.
Warum mache ich das hier noch gleich?
Mom scharwenzelte um ihn herum, und Dad schüttelte ihm die Hand, als würden sie ein Geschäft abschließen. Sein Verhalten gegenüber Justin verglichen mit seinem Verhalten gegenüber meinen Freunden war wie ein blinkendes Neonschild: nur weiße Heteros.
»Tut mir leid«, flüsterte ich Caroline zu.
Sie schenkte mir ein Lächeln und zuckte mit den Achseln. »Nicht das erste Mal. Und nicht das letzte.«
Justin kam zu mir. Er hatte ein Blumenarmband in einer Plastikschachtel dabei – eine blaue Rose. »Du siehst wunderschön aus«, sagte er.
»Danke«, sagte ich.
Für jemanden, dem es schwerfiel, in den Spiegel zu sehen, hatte ich es ziemlich gut hingekriegt. Meine Mutter hatte darauf bestanden, mit mir zum Friseur zu gehen, und sie hatten mir das Haar zu einem hohen, spektakulär lässigen, aber doch anmutigen Knoten hochgesteckt. Strähnen fielen hier und dort hinab und umrahmten mein Gesicht, ein paar flossen mir über den Rücken. Ich hatte glitzernden rosa Lidschatten und dunkelrosa Lipgloss
aufgelegt.
Ich fühlte mich hübsch, aber ich wollte nicht für Justin hübsch sein. Unwillkürlich wünschte ich mir, dass die Augen, die mich ansahen, stürmische graugrüne Meere wären, nicht flache blaue Schwimmbecken. Der Arm, der mir geboten wurde, sollte nach Benzin und Zigaretten riechen, nicht nach Drakkar Noir und Geld.
Justin schob mir die Blume über das Handgelenk, das ich eine Stunde lang geschrubbt hatte, um die kleinen schwarzen Kreuze abzukriegen – als er sich vorbeugte, um mir einen Kuss auf die Wange zu geben, hatte ich trotzdem das Gefühl, sie würden wie Gänsehaut an die Oberfläche steigen.
Wie war das noch mit »nur Freunde«?
Ich trat einen Schritt zurück, weg von ihm. Justins selbstgefälligem, wissendem Lächeln nach zu urteilen, deutete er meine Reaktion, als hätte sein Charme mich umgeworfen. Ein kalter Klumpen legte sich auf meinen Magen, breitete sich aus, brachte den Fortschritt, den ich bis jetzt gemacht hatte, zum Stillstand.
Ich kann das … ich kann das … ich kann das …
Meine Mutter machte tausend Fotos von uns beiden, ein paar Hundert Gruppenbilder, und dann war es Zeit zu gehen. Wir marschierten aus dem Haus und die Einfahrt hinunter. Mrs Chambers, unsere neugierige Nachbarin, beobachtete die Prozession von ihrer vorderen Veranda aus.
Natürlich machte Dad einen Riesenwirbel um die Limousine, die Justin gemietet hatte. Es war keine Stretch-Limo, aber sie war lang genug, dass wir zu sechst reinpassten und noch Platz war.
»Sehr schön«, sagte Dad, als wir einstiegen. »Wirklich sehr schön.«
»Ich bringe sie nicht zu spät zurück«, sagte Justin und schüttelte Dad die Hand.
»Lassen Sie sich Zeit, lassen Sie sich Zeit«, sagte Dad zu Justin. »Viel Spaß.« Wieder zu Justin.
Ich warf Angie einen Blick zu, als wir uns setzten, unsere Kleider glatt strichen und aufpassten, dass unser Haar an der Decke der Limo nicht platt gedrückt wurde.
»Die ist wirklich schick«, sagte Jocelyn und strich mit der Hand über den Ledersitz.
»Lass uns für die Miete zusammenlegen«, sagte Nash.
»Nee«, sagte Justin. »Ich zahl das schon.«
»Das musst du nicht«, sagte ich. »Es ist viel Geld.«
Er zuckte mit den Achseln und lächelte mich an. »Du bist es wert.«
Ein anderes Mädchen wäre vielleicht in Ohnmacht gefallen, aber ich hörte Andeutungen. Erwartungen.
Du bist paranoid. Er ist nur nett.
Das Gewicht der Erwartungen fiel auf meine nackten Schultern, und wieder lief mir ein Schauder über den Rücken. Justin legte den Arm auf die Rückenlehne meines Sitzes. Ich versuchte, mich zu entspannen. Mein Daumen rieb über mein Handgelenk.
Angie beugte sich vor und nahm meine Hand. »Ich weiß, ich wiederhole mich, aber ist mit dir alles okay?«
»Alles gut«, sagte ich.
»Ja? Du siehst nämlich nicht so aus. Mein Nash hier sieht guut
aus. Du siehst aus, als hättest du gerade fünf Liter Blut gespendet.«
»Mir ist nur kalt.«
»Hast du keine Stola oder ein Tuch?«
»Nein, ich …«
Mein Kiefer arbeitete, aber es kam kein Ton mehr raus. Die Limousine fuhr in den Kreisel vor der Highschool. Der Ball ging nur bis zehn, aber ich hörte, wie Justin zu Nash sagte, dass wir den Wagen bis Mitternacht hätten, falls wir danach noch woandershin wollten.
Als ich aus der Limousine stieg, wusste ich, dass es ein Fehler war. Wenn Nash Angie nicht gerade da für einen kurzen romantischen Moment beiseitegezogen hätte, hätte ich vielleicht den Mut gehabt, ihr zu sagen, dass ich nach Hause musste. Ich war nicht bereit. Ich konnte nicht hier sein.
»Lass uns reingehen«, sagte Justin. »Da ist es wärmer.« Er legte die Hand auf meinen unteren Rücken, um mich sanft zu lenken.
In der Turnhalle war auf einer Seite ein DJ-Pult aufgebaut, auf der anderen ein Tisch mit Snacks und Getränken. Die Tribünen waren abgebaut worden, um mehr Platz zu schaffen. Das Ballkomitee hatte Girlanden aus Papierblumen mit kleinen LED-Lichtern am Rand verteilt, und drei Ballonbögen wölbten sich in Blau, Grün, Rosa und
Gelb über die Fläche.
Als wir uns an einen Tisch setzten, drehten sich ein paar der Plastics neugierig zu uns um. Ich nahm Tessa als eine von ihnen wahr, aber dann waren da nur noch die Dunkelheit, die Musik, die vielen Leute … und alles kam immer näher. Es war wie auf der Party, die ich gegeben hatte, nur in größerem Maßstab. Eine größere Bühne und andere Spieler, aber meine Psyche rechnete alles zusammen und kam zu demselben Ergebnis.
Xavier …
Angie hob den Daumen. Ich nickte vage, aber das alberne Ablenkungsmanöver war mir inzwischen egal. Ich ertrank bereits in einem eiskalten schwarzen Meer aus Erinnerungen.
Der DJ spielte den Achtziger-Hit »Do You Really Want to Hurt Me« von Culture Club. Angie und Nash rannten auf die Tanzfläche, während Caroline und Jocelyn zum Tisch mit den Snacks gingen und mich allein an unserem Tisch zurückließen.
Ich sah mich in der dunklen, überfüllten Turnhalle um, betrachtete die Menge, die unter bewegten Discolichtern tanzte. Die Plastics und ihre Dates standen am Rand der Tanzfläche. Justin hatte sich zu ihnen gesellt und redete mit ein paar Freunden vom Baseball.
Plastics. Ich hasste die Bezeichnung. Ich schwor, sie nicht mehr zu benutzen. Ich spürte die leichte Panikattacke, die in meinen Adern surrte und zuzuschlagen drohte, und der Gedanke, ein anderes Mädchen zu hassen, fühlte sich wie Verrat an. Ich war nicht allein. Ich wusste, viele der Mädchen auf der Tanzfläche hatten Ähnliches erlebt wie ich. Vielleicht waren sie wie Plastik behandelt worden: billig und austauschbar. Etwas, das man einmal benutzte und dann entsorgte. Vielleicht hatte man sie schikaniert. Damit sie sich minderwertig fühlten. Hässlich. Fett. Scharfmacherin. Schlampe. Plastic.
Tessa konnte so viel über mich reden, wie sie wollte, aber ich konnte sie nicht hassen. Sie war auch verletzt worden. Es hatte sie gedemütigt, als ihr Bruder Isaacs Nein, danke
geteilt hatte.
Isaac
. Mein Herz klopfte, und mir wurde heiß, als ich mich erinnerte, wie er seinen Kopf in meinen Schoß gelegt hatte, sein Kinn auf meinen Oberschenkel gestützt und gelächelt …
»Soll ich dir was zu trinken holen?«, murmelte Xavier mir ins
Ohr.
Ich zuckte so heftig zusammen, dass mir die Handtasche runterfiel und ich einen Schrei unterdrücken musste.
Justin Baker fuhr zusammen. »Meine Güte? Ich wollte nur wissen, ob du Durst hast?«
»Nein, ich … ich will nichts.«
Ich musste hier raus. Langsam stand ich auf, und Justin nahm meine Hand.
»Alles klar«, sagte er. »Lass uns tanzen.«
Ich ließ mich von ihm auf die Tanzfläche führen. Die Menge tanzte und lachte, die Gesichter von den schweifenden Discolichtern erhellt. Angie und Nash waren da, lächelten und winkten. Ihre Münder bewegten sich, aber bei der lauten Musik konnte ich nicht hören, was sie sagten.
Justin beugte sich vor. »Hast du Spaß?«, rief er neben meinem Ohr.
Ich schaffte es zu nicken. »Klar.«
»Was?«, rief er.
»Ich sagte, klar
.« Mein Magen schnürte sich zusammen, und ich bekam kaum Luft. Überall lauerten vage Erinnerungen, mörderisch und bereit, sich auf mich zu stürzen. Mit Kissen in der Hand, um mich zu ersticken.
Der DJ spielte »Best Friend« von Sofi Tukker, und die Menge schrie auf. Die Energie im Raum schraubte sich höher und das Tanzen veränderte sich. Paare näherten sich einander an. Mädchen pressten ihre Hintern an den Schritt der Jungs. Selbst die, die in Gruppen tanzten, rückten dichter zusammen, als würde der Song ihnen die Erlaubnis geben, sich aneinander zu reiben.
Justin lächelte erwartungsvoll. Er kam immer näher, bis ich das Gewicht des ganzen Raums auf mir spürte. Sein Duft stieg mir in die Nase. Die Hitze seines Körpers drang durch sein Hemd, als er die Arme um meine Taille schlang. Anstatt dass mir warm wurde, wurde mir meine eigene Kälte umso mehr bewusst.
Ich kann das … ich kann das … ich kann das.
Ich drehte mich um – hoffte und betete, dass es besser wäre, wenn ich ihn nicht ansähe. Dass ich tanzen und lachen und sexy sein konnte – wenn auch nur auf der Tanzfläche – wie so viele andere
Mädchen in dieser Turnhalle.
Justins Hände landeten auf meiner Taille. Sein Atem fuhr heiß über meine Schulter, und ich spürte seine Brust an meinem Rücken. Ich bewegte mich kaum. Ich musste wie eine Leiche aussehen, aber entweder bemerkte er es nicht, oder es machte ihm nichts aus.
Innerlich hatte ich angefangen zu schreien. Ich rang nach Luft, aber sie kam nur bis zur Kehle. Die Nacht erdrückte mich, presste mich an Justin. Tränen traten mir in die Augen. Es war so dumm zu glauben, dass ich das konnte.
Oh bitte. Ich will einfach nur auf einem Ball sein wie ein normales Mädchen …
Die Dunkelheit der Turnhalle fing an zu wabern. Trübte sich. Ich hörte auf mich zu bewegen, steif gefroren und zerquetscht durch die unsichtbare Macht der Erinnerung. Es waren dunkle Erinnerungen ohne Form und Schärfe, es gab nur Xs erdrückendes Gewicht, das mir den Atem nahm und mich lähmte.
Mit einem erstickten Schrei riss ich mich los, stieß Justin weg und taumelte durch die Turnhalle. Ich musste hier raus. Abhauen. Mich vor allem und nichts retten.
Panisch öffnete ich den Seiteneingang, stolperte aus der Turnhalle und fiel auf Hände und Knie. Ich schürfte mir die Haut auf dem Zement auf, und der Schmerz holte mich zurück wie eine Ohrfeige.
Das Gewicht wurde leichter.
Da war kein Schattenmonster. Nur ich selbst im Licht der gelben Lampe über der Tür. Ich setzte mich hin, Blut lief mir die Schienbeine hinunter, und die Handflächen taten weh. Scharf atmete ich ein, dann fing ich an zu schluchzen.
Ich zog die Knie an die Brust und heulte, bis ich mich fühlte, als wäre mein Innerstes nach außen gekehrt. Jede Sekunde konnte die Tür aufgehen, und jemand würde mich sehen, oder vielleicht kam Angie mir hinterher. Ich atmete stockend ein. Das hübsche blaue Kleid war schmutzig, und meine Knie sahen furchtbar aus. Ich
sah furchtbar aus. Meine Handtasche war drinnen, aber so, wie ich aussah, würde ich auf keinen Fall wieder reingehen.
Ich stemmte mich hoch, und nach einem einzigen Schritt in den hohen Schuhen stolperte ich wieder.
»Scheiße.«
Ich zog die Schuhe aus und ging in die Mädchentoilette gegenüber der Turnhalle. Es war nicht sehr würdevoll, barfuß aufs Klo zu gehen, aber das war mir ziemlich egal. Ich riss ein paar Papierhandtücher aus dem Spender, ließ kaltes Wasser darüber laufen und säuberte mir die Knie.
Als ich mich aufrichtete und meine aufgeschürften Handflächen reinigen wollte, entdeckte ich entsetzt mein Spiegelbild. Der unordentliche Knoten war dabei sich aufzulösen, und mein Gesicht sah aus, als hätte ich bei hundertachtzig Stundenkilometern den Kopf aus dem Autofenster gehalten. Verschmiertes Make-up, geschwollene, glänzende Augen. Gerötete Wangen.
»Oh Gott«, flüsterte ich.
Wie lange noch?
, wollte ich schreien. Wann war ich endlich wieder ich selbst? Wann würde es dieser Katastrophe im Spiegel besser gehen? Jemals?
Nie?
Ich spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht und tupfte es ab. Da war noch fleckige Wimperntusche um die Augen, aber es erschien mir viel zu anstrengend, sie abzuwischen und es noch einmal zu versuchen. Ich konnte unmöglich zurückgehen und mich den besorgten Fragen von Angie oder den wirren Erwartungen von Justin stellen. Ich war viel zu müde, um mir etwas auszudenken. Es war wirklich verdammt anstrengend, so zu tun, als sei alles in Ordnung.
Unser Haus war gute zwei Meilen entfernt. Ich hätte ein Taxi rufen können, aber mein Handy war in meiner Handtasche, und meine Handtasche lag in der Turnhalle. Mit den Schuhen in der Hand ging ich los. Ein Knie blutete noch leicht.
Ich lief durch die ruhigen Straßen des nördlichen Harmony. Die Schule lag gerade mal zehn Minuten hinter mir, als mir die Dummheit meines Plans klar wurde. Mir taten die Füße weh. Sie wurden von Steinen und Schotter zerkratzt. Ich wollte mich gerade an den Straßenrand setzen und ausruhen, als ich Scheinwerfer sah.
Ein Auto kam näher. Ein Pick-up.
Der Wagen von Isaac Pearce.
Oh nein, nein, nein. Er darf mich so nicht sehen.
Ich ging schneller.
Er fuhr langsam neben mir her und ließ das Beifahrerfenster runter.
»Hey, wo willst du –? «
Er verstummte, als er die blutigen Knie und das schmutzige Kleid bemerkte. Er bremste, machte den Motor aus und sprang aus dem Wagen.
»Was ist passiert?« Er nahm meinen Arm. »Willow …?«
Ich starrte zu ihm hoch, und tausend Gedanken durchliefen mich in einer einzigen Sekunde. Seine Hand auf meinem Arm ließ mich nicht vor Kälte erschaudern. Seine Gegenwart fühlte sich an wie ein Schutzschild, nicht wie eine Bedrohung, und sein Gesicht … Gott, er sah so gut aus. Er würde in einem Anzug großartig aussehen, und ich wäre so stolz gewesen, in seinem Pick-up vor der Schule vorzufahren anstatt in dieser blöden Limousine. Mit Isaac als mein Date wäre der Ball perfekt gewesen, denn bei ihm hatte ich nicht das Gefühl, in Eiswasser zu ertrinken …
»Willow, was ist passiert?
«
»Nichts«, sagte ich und riss mich los. »Ich bin hingefallen. Mir geht’s gut.«
Isaac sah mir forschend ins Gesicht, betrachtete die geschwollenen Augen und das verschmierte Make-up. »Du bist hingefallen.«
»Ja, ich bin hingefallen«, fuhr ich ihn an. »Auf dem Weg aus der Turnhalle. Keine große Sache.« Ich drehte mich von seinem forschenden Blick weg und ging weiter. Inzwischen hinkte ich, weil ich mit der Ferse auf einen spitzen Stein getreten war, aber ich würde ihm nicht zeigen, wie sehr es wehtat.
»Du bist mit Justin Baker gegangen, stimmt’s?«, fragte Isaac. »Wo ist er?«
Ich blieb stehen und wirbelte herum. »Das kann dir ja wohl egal sein.«
»Hat er dir wehgetan?«
»Nein, und es geht dich sowieso nichts an.«
»Willow …«
Mein Zorn stieg an, getragen von Tränen der Enttäuschung. »Sag meinen Namen nicht so«, sagte ich. »Und halt dich da raus. Du gehst
nicht auf Bälle, schon vergessen? Du bist fertig mit der Highschool. Ich nicht. Und ich wollte nur Spaß haben, wie jedes andere normale Mädchen, und ich … ich hatte …«
»Was?«, fragte Isaac weich und kam näher. »Was ist passiert?«
»Nichts«, sagte ich und rang um Kontrolle. »Nichts ist passiert. Ich hatte irgendwie … Klaustrophobie oder so was. Eine Panikattacke. Es passiert manchmal, und es ist so … dumm. So verdammt dumm. Und unfair.« Ich wischte mir über die Augen. »Egal. Es ist nicht so wichtig.«
»Doch, ist es.«
»Ist es? Wem? Wenn dir so verdammt wichtig ist, was bei diesem Ball passiert, dann hättest du …«
Hättest du mir das an diesem Samstag sagen sollen …
Ich schluckte die Worte runter, bevor sie alles noch schlimmer machten.
»Du hast recht.« Isaacs tiefe Stimme war leise und ruhig. »Das hätte ich.«
Mein Herz klopfte, und ich starrte ihn an, hatte keine Ahnung, was ich sagen oder fühlen sollte. Ich wollte wenigstens ein bisschen Würde zurückhaben. Ich wischte mir mit dem Handrücken die Nase ab.
»Na, jetzt ist es zu spät.«
Einen Moment lang sah er durch mich hindurch, als würden meine Worte ihn an etwas erinnern. Dann deutete er mit dem Kinn auf meine Knie. »Du blutest. Komm, ich bring dich nach Hause. Ich parke so, dass dein Dad mich nicht sehen kann.«
»Nein danke. Ich gehe zu Fuß.«
»Was?«
»Ich laufe. Ich gehe zu Fuß.«
»Meine Güte, Willow, kannst du jetzt bitte einsteigen?«
»Mir geht es gut. Und was machst du hier überhaupt? Fährst du auf der Suche nach Jungfrauen in Nöten durch die Gegend?«
»Nein. Ich … bin hier nur zufällig vorbeigekommen.« Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Wen interessiert, was ich gemacht habe? Steig ein.«
»Sag mir nicht, was ich zu tun habe«, sagte ich und ging weiter.
»Gut.«
Ich hörte den Kies unter seinen Stiefeln knirschen. Die Wagentür öffnete und schloss sich. Der Motor heulte auf und beruhigte sich dann zu einem leisen Brummen. Und dann fuhr Isaac mit etwa drei Stundenkilometern neben mir her. Er hatte den Blick nach vorn gerichtet, eine Hand lag lässig auf dem Lenkrad, die andere auf dem Beifahrersitz.
»Was machst du da?«, fragte ich.
»Ich fahre.«
»Willst du mich verarschen?«
»Nein.«
Ich war wütend. »Na toll. Viel Spaß dabei.«
Ich humpelte noch ein paar Schritte, bis ich diese absolut dämliche Situation nicht mehr ertragen konnte. Ich blieb stehen und drehte mich mit verschränkten Armen zu ihm um.
»Ich passe nur auf, dass du sicher nach Hause kommst«, sagte er leise. »Das ist alles.«
Das ist alles, was er will.
Wieder traten mir Tränen in die Augen. Ich blinzelte sie weg und stieg in den Wagen.
Sofort umgab mich Isaacs Duft, der den Innenraum durchdrang. Benzin, Seife, Zigarettenrauch und etwas Süßes, Holziges, das er selbst war. Das besiegte den letzten Rest der Panikattacke und ließ etwas Neues an ihre Stelle treten.
Ich räusperte mich. »Danke, dass du mich mitnimmst.«
»Mach ich doch gern.«