21. KAPITEL
Willow
Wir fuhren schweigend ein paar Blocks. Ich seufzte und lehnte den Kopf ans Fenster.
»Was ist passiert?«, fragte er schließlich.
»Hab ich doch gesagt«, sagte ich. »Klaustrophobie.«
Wir kamen an ein Stoppschild. Es gab in keiner Richtung Autos. Keine Menschenseele war in der Nähe. Die Nacht war schwarz und still und kalt. Isaac umfasste meinen rechten Unterarm und drehte ihn um. Ein blasses schwarzes X war im schwachen Licht der Straßenlaterne an der Ecke sichtbar.
Mir stockte der Atem. Dann atmete ich aus. Isaac blickte auf meinen Arm, während sein Daumen über die verblasste Farbe strich.
»Ich wollte auf den Ball gehen, um wie andere Mädchen zu sein«, sagte ich und hasste die Tränen, die meinen Blick trübten und meine Stimme hoch und klagend klingen ließen. »Ich habe nicht viel erwartet. Ein anständiger Tanz hätte schon gereicht.«
Isaac sagte nichts. Er rieb ein letztes Mal mit dem Daumen über das X, dann ließ er los und fuhr weiter. Ich hielt meinen Arm im Schoß fest, berührte ihn, wo er mich berührt hatte, versuchte, die Wärme zu bewahren.
Wir bogen in die Emerson Road. Sie führte einen halben Kilometer aufwärts, bevor sie auf etwa fünfzehn Metern oberhalb der Stadt blieb. Isaac hielt bei dem Aussichtspunkt und parkte unter einer hohen Eiche, die wie ein Wachtposten auf dem Hügel stand. Harmonys winziges Zentrum lag unter uns, glitzerte mit kleinen gelben Lichtern und dem größeren, goldenen Licht des HCT.
Isaac machte den Motor aus, aber ließ die Schlüssel stecken. Licht erhellte noch das Armaturenbrett, und er suchte etwas im Radio.
»Was machst du?«, fragte ich.
»Bin mir nicht sicher«, sagte er.
Es knisterte und rauschte, dann kam plärrende Werbung – und dann die ersten Akkorde von Shawn Mendes’ »Imagination«.
Isaac sah mich an, die grünen Augen tiefer und weicher, als ich es je gesehen hatte. »Wie findest du das?«
Ich nickte. »Schön.«
Isaac stieg aus und ging um den Wagen herum, um mir die Beifahrertür zu öffnen. Er hielt mir die Hand hin, und ich nahm sie. Sie war rau und schwielig von der Arbeit, aber warm und stark. Schon bei der leichten Berührung wünschte ich mir, dass er beide Arme um mich legte. Sich mit dem ganzen Körper an mich drückte.
Ich hatte nicht gedacht, dass ich das je wieder wollen würde.
Er half mir aus dem Auto, und ich verzog das Gesicht, als meine Füße den Boden berührten. Er fing mich auf, als ich stolperte, dann trat er zurück und beugte sich ins Auto, um die Musik lauter zu drehen. Er nahm wieder meine Hand, und wir gingen an den Rand des Aussichtspunkts, zu dem weichen Gras, das um die Eiche herum wuchs.
Isaac legte mir einen Arm um die Taille, nahm meine Hand und legte sie an seine Brust, über sein Herz.
»Ist das okay?«, fragte er.
Ich nickte und legte einen Arm um seinen Hals. Sein Duft, der im Wagen so mächtig gewesen war, umhüllte mich sanft. Ich lehnte mich an ihn, legte den Kopf an seine Brust, wo die offene Lederjacke das weiße Baumwoll-T-Shirt frei ließ. Ich atmete ihn ein, als wir uns langsam zur Musik bewegten, der Text sprach für uns beide.
Nach ein paar Momenten hob ich den Kopf und sah ihn an. »Das ist nicht gespielt, oder? Das bist du?«
Isaac machte den Mund auf, sah aus, als wolle er es leugnen oder protestieren. Dann nickte er. »Ich habe das nicht geplant, aber … Ja. Das bin ich.« Er legte eine Hand an meine Wange und strich mit dem Daumen die Tränen weg. »Ist mit dir alles okay?«
»Ja.« Ich legte wieder den Kopf an seine Brust. »In diesem Moment ist alles perfekt.«
Er schwieg, aber ich spürte, wie er nickte. Seine Wange lag an meinem Haar. Es war genau, was ich brauchte.
Vielleicht brauchte er es auch.
Der Song war vorbei, und es folgte eine Werbung für Gebrauchtwagen. Wir blieben umarmt stehen, ganz Harmony lag unter uns ausgebreitet. Das echte Harmony mit dem HCT, wo wir uns kennengelernt hatten, und dem Amphitheater, wo Isaac zum ersten Mal meine Hand berührt hatte. Nicht das Viertel hinter uns, wo meine Eltern in einem kalten weißen Haus wohnten.
»Ich muss zurück«, sagte ich schließlich. »Sie werden anfangen, nach mir zu suchen. Je länger ich wegbleibe, desto schlimmer wird es.« Ich blickte auf meine aufgeschürften Knie. »Es wird schon schlimm genug.«
»Wie schlimm?«
Ich berührte sanft die Schwellung unter seinem Auge. »Nicht so. Mir wird nichts passieren. Versprochen.«
Widerstrebend löste er unseren schützenden Kreis auf und half mir zu seinem Pick-up. Wir fuhren zu meiner Straße und ich sagte ihm ein paar Häuser vor meinem, dass er langsamer werden sollte. In der Einfahrt parkte Justins Limousine.
»Mist! Justin ist da. Vielleicht auch meine Freunde.«
»Ich will dich nicht allein da reingehen lassen.«
»Das wirst du aber müssen«, sagte ich.
»Wissen sie es?«, fragte Isaac mit leiser Stimme. Er nahm sanft meinen Arm und drehte ihn wieder um, dass man das X sah. »Wissen sie, was es bedeutet?«
»Nein«, sagte ich. »Niemand weiß es.«
Ich begriff, dass das nicht völlig stimmte. Xavier würde wissen, was es bedeutete. Er trug die Schuld an jedem einzelnen dieser X. Er hatte mich gezeichnet, vielleicht für immer.
»Ich muss gehen«, sagte ich. »Danke fürs Mitnehmen und den Tanz und … dass du einfach da warst.«
Ich schlüpfte aus dem Auto, bevor noch mehr passieren konnte, und humpelte mit den Schuhen in der Hand zum Haus. Als ich vor dem Haus stand, drehte ich mich um. Isaac war noch da. Ich winkte kurz und ging die Einfahrt hoch.
Justin saß mit meinen Eltern im Wohnzimmer. Alle drehten sich zu mir um, als ich hereinkam, und die Männer sprangen auf. Die eine Hand meiner Mutter flog zu ihrem Mund, in der anderen hielt sie ein Glas Wein.
»Was ist mit dir passiert?«
»Wo warst du?«
»Wir waren krank vor Sorge.«
»Ich bin hier. Mir geht es gut«, sagte ich. Ich sah Justin an. »Tut mir leid, dass ich einfach weg bin. Ich hatte eine … Panikattacke und bin rausgerannt. Ich brauchte frische Luft –«
»Du hattest eine Panikattacke?«, fragte Mom von der Couch. »Seit wann hast du Panikattacken?«
Seit letztem Sommer …
»Ich weiß nicht, es ist einfach … passiert. Ich bin rausgerannt und hingefallen. Die Tür zur Turnhalle war zu, und ich sah so schlimm aus, und es war so peinlich, also habe ich beschlossen, zu Fuß nach Hause zu gehen. Ich hatte mein Handy nicht, sonst hätte ich euch angerufen.« Ich fuhr vor Schreck zusammen. »Wo ist mein Handy?«
»Justin hatte es«, sagte Dad. »Und auch deine Handtasche.«
Er hob das Handy hoch, und alles Blut wich mir aus dem Gesicht. Plötzlich fühlte ich mich so nackt wie damals, als ich Xavier dieses Foto geschickt hatte. Schon wieder waren meine persönlichen Sachen, meine Gedanken und Inhalte nicht unter meiner Kontrolle. Dad hatte garantiert in meinem Telefon herumgeschnüffelt. Ich durfte keine geheime PIN haben – das waren die Bedingungen, seitdem ich letzten Sommer »außer Kontrolle« geraten war.
Im Kopf ging ich alle Nachrichten durch, die Angie und ich uns je geschickt hatten. Ich konnte mich nicht erinnern, ob wir über Isaac geschrieben hatten. »Gib es her.« Ich griff danach, aber Dad hielt es hoch.
»Erst sagst du uns, wo du warst. Bei Isaac Pearce?«
»Der bedeutet nur Ärger«, sagte Justin.
Ich sah jetzt ihn wütend an. »Halt den Mund.«
Er breitete die Hände aus. »Ich bin schon länger hier als du, Willow. Ich versuche nur, auf dich aufzupassen. Ich war krank vor Sorge.«
»Ich war nicht bei Isaac«, sagte ich. »Ich habe doch gesagt, dass ich nach Hause gelaufen bin. Es sind drei Kilometer, und ich war barfuß. Rechnet es aus.«
»Warum solltest du zu Fuß gehen?«, fragte Mom. »So wie du aussiehst? Du bist eine Schande.«
»Regina«, sagte Dad.
»Ist doch wahr. Sie sieht aus, als würde sie auf den Strich gehen.« So wie meine Mutter die Worte in die Länge zog, war sie wahrscheinlich bei ihrer zweiten Flasche Wein. »Was sollen die Nachbarn denken?«
»Gib mir das Handy«, sagte ich zu Dad. »Ich muss Angie Bescheid sagen, dass es mir gut geht.«
»Ich habe sie nach Hause gefahren«, sagte Justin. »Sie haben sich auch Sorgen gemacht.«
»Kann ich mir vorstellen«, sagte Dad und gab mir das Telefon.
Ich ging zu einem Sessel und scrollte rasch durch meine Nachrichten. Ich wusste, dass mein Vater jede einzelne gelesen hatte. Justin vielleicht auch.
»Sie hat sich letzten Sommer verändert«, hörte ich Dad sagen. »Kaum zu bändigen.«
Meine Hände zitterten, als ich nach Nachrichten suchte, in denen Isaacs Name vorkam. Ich fand meinen Hilferuf an Angie, den ich geschickt hatte, als ich den Samstag mit Isaac verbringen sollte, und löschte die ganze Unterhaltung.
Er hat sie nicht gesehen, sonst wäre ich schon tot.
»Sie müssen sich nicht entschuldigen«, sagte Justin zu Dad. Ihre Stimmen wurden leiser. Ich hörte, wie Justin ein- oder zweimal Isaac sagte, und wollte am liebsten schreien.
Hier sehen wir die Edelleute Laertes und Polonius, die besprechen, was sie mit der armen schwachen Ophelia machen sollen. Sie beschließen, was das Beste für sie ist, da sie das seit letztem Sommer nicht mehr selbst kann.
Meine Mutter war das Publikum und trank Wein.
Ich schrieb Angie.
Es geht mir gut. Ich bin zu Hause. Ich ruf dich später an. Versprochen.
Die Antwort kam sofort. Gott sei Dank. Wo warst du? Ich wollte dir schreiben, aber ich wusste, dass Justin dein Telefon hat. Eine Pause. Bist du das wirklich? Schreib etwas, das nur Willow weiß .
Ich lächelte durch die Tränen. Angie McKenzie ist die beste Freundin, die man sich wünschen kann.
Das ist allgemein bekannt. Versuch es noch mal.
Meine Finger flogen. In der Mall hast du gesagt, dass ich eher Rapunzel bin als Belle.
Und ich hatte recht. Ruf an, wenn sie dich aus dem Turm herauslassen.
Mach ich. Hab dich lieb.
Ich dich auch.
»Justin geht«, sagte Dad laut. »Angesichts des katastrophalen Abends könntest du deinen Gast vielleicht wenigstens zur Tür bringen? Und ihm für seine Rücksicht danken?«
Ich stand auf und brachte Justin gehorsam zur Haustür. Dad blieb am Ende der Eingangshalle mit verschränkten Armen stehen und beobachtete mich wie ein Coach, der bezweifelte, ob seine Starathletin es noch brachte.
Justin lächelte gutmütig. »Alles okay mit dir?«
Fast zog ich eine Grimasse. Dieselben Worte hatten aus Isaacs Mund so viel mehr bedeutet. Isaac hatte mich gefragt, weil ich ihm wichtig war. Justins Frage war nur ein Übergang zu seinen eigenen Gefühlen.
»Ich habe mir wirklich Sorgen gemacht. Das haben wir alle. Ich habe deine Freunde abgesetzt und dich dann gesucht.«
Das konnte nicht stimmen, dafür war ich nicht lange genug weg gewesen, aber ich war zu müde und zu fertig, um zu streiten.
»Tut mir leid«, sagte ich.
Er lächelte. »Schon verziehen.« Er beugte sich vor, um mich auf die Wange zu küssen, aber ich trat zurück und wich ihm aus.
»Okay«, sagte er, sein Lächeln verkrampfte sich. »Dann gute Nacht.« Er sah über meine Schulter und winkte meinem Vater zu. »Gute Nacht, Sir.«
Ich hätte kotzen können.
»Gute Nacht, Justin. Und danke.«
»Kein Problem.«
Ich konnte die Tür nicht schnell genug hinter ihm zumachen.
Mein Vater stand mit verschränkten Armen da und sah jetzt aus wie ein wütender Coach, dessen Athletin ein wichtiges Endspiel versaut hatte.
»So behandelst du ihn? Er hat so viel Geld für eine Limo ausgegeben, um –«
»Er hätte es nicht tun müssen«, sagte ich und sah auf meine nackten Füße hinunter. »Ich habe ihm gesagt, dass er es nicht machen soll. Ich habe ihm gesagt, dass wir als Freunde hingehen.«
»Warum? Was stimmt nicht mit ihm? Ich habe große Hoffnungen in diesen Abend gesetzt. Zum ersten Mal seit letztem Sommer warst du mehr wie du selbst. Gut, deine Freunde waren nicht, was ich erwartet habe, aber es ist immerhin ein Fortschritt gegenüber gar keinen Freunden. Aber du hast mit Justin dasselbe gemacht wie mit Xavier …«
Mein Kopf fuhr hoch, und ich starrte ihn an. »Was habe ich gemacht?«
»Xavier ist auch ein prima junger Mann, und ich dachte, er hätte Interesse an dir …«
»Interesse an mir?«
Wieder wich mir das Blut aus dem Gesicht, diesmal bei der Erinnerung an Xaviers wohlwollendes Lächeln. Breit wie das der Grinsekatze. Komm, ich hol dir was zu trinken …
»Er ist der Sohn meines Chefs«, sagte Dad. »Es wäre klug gewesen, wenn du dich ein wenig um diese Beziehung bemüht hättest.«
»Dad«, sagte ich mit kalter, zitternder Stimme. »Ich bin müde und will jetzt ins Bett gehen.«
Ich wollte gerade die Treppe hinaufgehen, als er mich am Arm packte.
»Wenn ich herausfinde, dass du heute mit Isaac Pearce zusammen warst anstatt mit Justin, rufe ich sofort Martin Ford an und sage ihm, dass du leider nicht länger in seinem Stück mitspielen kannst. Hast du das verstanden?«
»Ja«, sagte ich und sah auf den Arm, den er festhielt. Kleine schwarze X krochen unter seiner Hand hervor, krabbelten wie Ameisen über meine Haut. »Ja, ich habe verstanden.«