23. KAPITEL
Isaac
Du lässt dich nicht auf Willow ein , dachte ich, genau wie du es dir vorgenommen hast. Wie fühlt sich das an?
»Es ist scheiße«, murmelte ich.
Vom Labyrinth zu den Fords waren es zwanzig Minuten zu Fuß. Zwanzig Minuten unter einer Sonne, die mit jedem Tag wärmer wurde. Sie hatte so hell über Willow geschienen, als sie zwischen den Hecken aufgetaucht war. Die kalte Blässe ihrer Haut von neulich Nacht war weg gewesen, und sie hatte so verdammt strahlend ausgesehen mit der Sonne im Haar und einem Lächeln für mich. Alles für mich.
Wie hatte ich das zulassen können?
Ich schob den Riemen des Rucksacks höher auf die Schulter und wiederholte meinen Schwur. Ich würde ihr Hamlet geben und sonst nichts. Sie würde mir ihre Ophelia geben, und so würde ich aus Harmony herauskommen.
Ich musste hier weg.
Letzte Nacht hatte ich wie immer nicht schlafen können. Ich ging nach unten, um mir etwas zu essen zu holen, und blieb auf halbem Weg durch das Wohnzimmer stehen. Brenda und Marty redeten leise in der Küche. Ich wollte zurückgehen, als ich hörte, wie Martin den Namen meines Vaters sagte. Und dann lauschte ich.
»… ist in Nicky’s Tavern aufgetaucht … Hat eine furchtbare Szene gemacht … Isaac verflucht … allen erzählt, dass sein Sohn eine Schwuchtel sei …«
Dad war verhaftet worden und hatte die Nacht in der Ausnüchterungszelle verbracht. Die Demütigung traf mich bis ins Mark. Nicht die Behauptung, dass ich schwul sei – daran war ich gewöhnt. Pops war nicht nur der Alki der Stadt, sondern auch ihr schimpfender Eiferer. Und schon redeten die Klatschmäuler wieder über uns. Ich betete, dass Sam Caswell an dem Abend nicht im Nicky’s gewesen war. Er und ich hatten vorletzten Sommer in Engel in Amerika gespielt, und er hatte sich durch die Erfahrung so ermutigt gefühlt, dass er sich gegenüber seinen Freunden und seiner Familie als schwul geoutet hatte. Jetzt zog mein Dad auch das in den Dreck.
Gott, ich musste wirklich weg aus Harmony, dachte ich auf meinem Weg und zündete mir eine Zigarette an.
Aber Willow … Vielleicht konnte ich zuerst mein Glück machen, wie die Helden in den Geschichten, und dann nach Harmony zurückkehren.
Bei dem Gedanken blieb ich stehen. In all den Jahren, in denen ich meine Flucht geplant hatte, hatte ich niemals in Betracht gezogen, vielleicht zurückzukehren.
»Scheiße«, murmelte ich und blies den Rauch durch die Nase aus. Ich hatte es fast geschafft, von hier zu verschwinden, und traf die eine Person, die mich zurückbringen könnte. Das Universum hatte tatsächlich einen abartigen Sinn für Humor.
Aber das war Quatsch. Ich würde mich auf Hamlet konzentrieren. Ich würde all diese Gedanken an Willow einfach für Hamlet nutzen. Sollte er sich nach ihr verzehren und bedauern, dass sie sich trennen mussten. Er konnte wütend auf ihren Vater sein und ihrem Bruder nach dem Leben trachten. Ich würde all diesen Mist auf der Bühne lassen, würde Worte für mich sprechen lassen, die vor Hunderten von Jahren geschrieben worden waren.
Als abends um sieben die Probe anfing, war Willow nicht im Theater.
Und Justin auch nicht.
»Wir geben ihr ein paar Minuten«, sagte Martin.
Zwanzig Minuten später immer noch kein Zeichen.
Schwere legte sich mir auf den Magen. Ich zog mein Telefon aus der Tasche, um Willow zu schreiben, aber sie schrieb mir zuerst.
Isaaaaaaaac ich bin draußen und soooooo betrunken:D:D:D
»Scheiße.« Ich schnappte mir die Lederjacke vom Stuhlrücken. »Es ist Willow. Ich bin gleich zurück«, sagte ich zu Martin.
Ich stand auf dem Gehweg vor dem Theater und sah in beide Richtungen die Straße hinunter. Endlich entdeckte ich sie einen halben Block entfernt vor dem Schnapsladen. Sie stand da mit ein paar Typen – ältere Männer, niemand aus der Highschool – und lachte laut.
Ich überwand die Distanz zwischen uns in etwa drei Sekunden. »Willow.«
»Isaac«, rief sie, und ihr Gesicht hellte sich auf wie nur bei Betrunkenen – als hätten sie einen zehn Jahre nicht gesehen. »Oh Gott, du bist hier
Sie schlang mir die Arme um den Hals, und ich nahm den durchdringenden Geruch nach Whiskey in ihrem Atem wahr.
»Leute, das ist Isaac. Ist er nicht schön? Er ist so schön.« Sie tätschelte mir die Wange. »Und er ist ein genialer Schauspieler. Er ist Hamlet. Seht ihr das große Schild dahinten?« Sie stieß mit dem Finger in die ungefähre Richtung des HCT und des Aushangs in schwarzer Schrift: Hamlet. Demnächst in diesem Theater . »Das ist er.« Sie schlug mir mit der Hand auf die Brust. »Er ist unser Hamlet.«
»Was soll das, Willow?« Ich beäugte die drei Typen, die sie amüsiert betrachteten.
»Mithilfe dieser freundlichen Herren erwerbe ich ein wenig Bier.« Sie sprach den Satz langsam und sorgfältig aus.
Ich sah einen der Typen an. Der zuckte mit den Achseln. »Sie hat meinem Kumpel fünfzig Dollar für ein Sechserpack Heineken gegeben.«
»Und Sie finden es okay, Minderjährigen Bier zu kaufen?« Ich legte Willow den Arm um die Taille, um sie zu stützen. »Komm, wir gehen.«
»Nein.« Sie stieß mich weg und stolperte. »Ich gehe nicht ohne mein Bier.« Ihre wütende Miene wandelte sich in Freude, als ein anderer Typ mit einer schwarzen Plastiktüte aus dem Laden kam. Er blieb stehen, als er meinen finsteren Blick sah.
»Nein, nein, nein«, sagte Willow mit erhobenem Zeigefinger zu mir. »Niemand schreibt mir vor, was ich zu tun habe.« Sie nahm dem Typen die Plastiktüte ab und sah hinein. »Ah, perfekt .« Sie boxte ihn gegen die Schulter, als wären sie alte Kumpel. »Behalt das Wechselgeld, mein Freund.«
Die Typen gingen weiter, lachten und schüttelten den Kopf.
»Du hast ihm für Bier, das zwölf Dollar kostet, einen Fünfziger gegeben?«, fragte ich.
»Und wennschon«, sagte sie. »Was ich zu Hause von dem tausend Jahre alten Scotch meines Vaters getrunken hab, war garantiert mehr wert als fünfzig Dollar, weißt du.«
»Ich will es gar nicht wissen«, sagte ich, als ihr Whiskey-Atem mich überströmte. »Willow, was ist passiert? Was ist los?«
Sie warf mir einen komischen Blick zu. »Ist das nicht offensichtlich? Ich besauf mich.« Sie griff in die Plastiktüte und versuchte, eine der Bierflaschen aus der Papphalterung zu lösen. »Willst du auch eins? Wer trinkt schon gern allein!«
»Nicht hier, um Himmels willen«, sagte ich und nahm ihr die Tüte weg.
Ihr glückliches betrunkenes Gesicht verzog sich vor Wut. »Ich habe gesagt, niemand schreibt mir vor, was ich zu tun habe. Gib mir das Bier, oder ich schreie.«
»Du bist betrunken genug.«
Die Wut verschwand so schnell, wie sie gekommen war, und ihre Miene wurde tieftraurig. »Du verstehst das nicht, Isaac«, sagte sie und packte mich am Sweatshirt. »Ich muss weg von alldem.« Sie gestikulierte über dem Kopf, als wollte sie eine dunkle Wolke aus Gedanken oder Erinnerungen vertreiben.
Was für eine Wolke? Woher kam sie? Ich blickte in ihre großen verängstigten Augen, erinnerte mich an die schwarzen X auf ihrem Arm, und eine tiefe Angst entfesselte sich in meinem Inneren.
Es ist schlimm. Was auch immer es ist, es ist schlimm.
»Bitte«, bettelte sie. »Bring mich irgendwohin.«
Ich sah wieder zum Theater, dann zu ihr, hin- und hergerissen.
»Der Friedhof«, sagte Willow, und ihre glasigen Augen leuchteten auf. »Bring mich zum Friedhof. Er ist wirklich alt, oder? Hunderte von Jahren? Ich will da hin. Bitte.« Sie festigte ihre Stimme. »Es ist meine Entscheidung. Ich geb mir sowieso die Kante, ohne dich oder mit dir.«
Scheiße. Ihr zu helfen, sich zu betrinken, fühlte sich absolut richtig und absolut falsch an. Aber wenn sie sich unbedingt abschießen wollte, dann war es besser, ich war bei ihr.
»Okay, gehen wir.«
Sie hakte sich bei mir ein, als würden wir einen Spaziergang durch die Fußgängerzone unternehmen. Ich holte mein Telefon hervor und schrieb Marty.
Willow geht es nicht gut. Ich bringe sie nach Hause. Ich komme nicht zurück.
Seine Antwort kam wenig später. Pass auf sie auf.
Ich brachte Willow zu meinem Pick-up und half ihr in den Wagen, dann kletterte ich hinter das Lenkrad. Sie hatte schon wieder die Hände in der Tüte.
»Du musst warten, bis wir da sind«, sagte ich. »Kein offenes Bier. Bitte versuch dich so zu verhalten, dass ich nicht verhaftet werde.«
Dann könnte ich mal eine Nacht in der Ausnüchterungszelle verbringen, genau wie mein Alter. Sicher wäre er stolz auf mich.
»Ich will nicht, dass du verhaftet wirst«, sagte sie mit betrunkenem Ernst. »Das wäre ehrlich scheiße.«
Ich musste gegen meinen Willen lachen. Willow lehnte den Kopf an den Sitz, schloss die Augen, lächelte und summte. Ihr Haar war offen und fiel ihr in langen blonden Locken fast bis zur Taille. Sie trug ein schwarzes, enges langärmliges Oberteil, das die Rundung ihrer Brüste und die elegante Kurve ihres Halses betonte.
Sie war das wundervollste Mädchen, das ich je gesehen hatte, obwohl sie total betrunken war. Aber sie war betrunken, was mein Gefühl für sie veränderte. Jedes körperliche Verlangen aufschob. Mein Job war es, auf sie aufzupassen und nichts weiter.
Und zu versuchen, nicht vollgekotzt zu werden.
»Wie viel hast du getrunken?«, fragte ich. »Was war es, Scotch?«
»Mm.« Ihr Kopf neigte sich in meine Richtung. »Mein Vater hat mich ohne sein Wissen großzie… äh … großzügig an seinem Vorrat teilhaben lassen.«
»Wie bist du in die Stadt gekommen?«
Sie schnaubte feucht. »Es gibt so was wie Taxis. Selbst im kleinen Harmony. Es gibt so viel, was du nicht siehst.«
»Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht«, sagte ich. »Ich habe alles gesehen.«
»Mit deinen Augen, ja. Aber es gibt so viel mehr …« Sie beugte sich vor, griff in die Gesäßtasche ihrer Jeans und holte ein kleines Bündel Banknoten hervor. »Meine Mutter hat mich großzie… großzügig mit Mitteln für unseren kleinen Ausflug versorgt. Hier.« Sie zählte drei Zwanziger ab und stopfte sie in die Tasche meines Sweatshirts. »Benzingeld, kleine Aufmerksamkeit von Madame Holloway. Damit du ihre Tochter herumfährst und ihr die Sehenswürdigkeiten zeigst.«
»Ich will dein Geld nicht.« Ich versuchte, es ihr zurückzugeben, aber sie schob meine Hand weg, also ließ ich es zwischen uns auf dem Sitz liegen.
Ich bog in die Straße zum Friedhof ein. Es gab keinen Parkplatz, und vor den Gräbern stand nur eine gedrungene Leichenhalle aus Backstein, die seit Jahrzehnten geschlossen war.
Willow öffnete ihre Tür, bevor ich den Wagen überhaupt richtig geparkt hatte. Ich stieg aus und rannte auf die andere Seite, um ihr zu helfen. Als ich sie stützte, sah sie zu mir hoch.
»Du siehst wirklich … gut aus.« Ihre betrunken gelallten Worte wechselten von albern zu ernst. Ihre Gedanken gingen tiefer. »Schön«, sagte sie, »aber nicht auf mädchenhafte Art. Nein. Auf männliche Art. Auf die Art, wie ein Mann ein schöner Mann sein kann. Das …« Sie fuhr mit den Fingern über die Stoppeln auf meinem Kinn, dann über meine Augenbrauen. »Und hier …« Sie strich sanft über meine Wangenknochen, achtete auf die noch heilende Wunde.
Ich schloss die Augen bei ihrer Berührung, ein Rausch durchfuhr mich, als hätte ich selbst einen Scotch getrunken.
Tu mir das nicht an.
»Und hier«, flüsterte Willow und fuhr mir mit dem Finger über die Lippen. »Und deine Augen, Isaac.«
Ich öffnete sie, und sie stand so nah vor mir, war so schön …
»Weißt du, was ich gedacht habe, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe? Dass deine Augen wie die stürmische See vor Nantucket im Winter sind. Kalt und windgepeitscht, aber tief. Und jetzt sind sie nicht kalt …«
Sie reckte den Kopf. Sie wollte mich küssen. Und wäre sie nicht betrunken gewesen, wäre es der perfekteste Moment meines Lebens gewesen.
Ich drehte den Kopf weg und hielt sie an den Schultern fest. »Nein, Willow. Das geht nicht.«
»Das geht nicht«, echote sie. Ihr Gesicht verdüsterte sich. »Wie wahr, wie wahr! Ich will ein Bier.«
»Nur eins.«
»Du darfst mir nicht vorschreiben, was ich zu tun hab«, schimpfte sie. »Schon vergessen?«
Ich beugte mich vor und holte zwei Heineken aus der Tüte. »Nein, aber du könntest eine Alkoholvergiftung bekommen. Und das wird nicht passieren.«
Sie verzog beleidigt das Gesicht, aber protestierte nicht weiter.
Ich zeigte auf das kleine Backsteingebäude. »Lass uns hinter die Leichenhalle gehen, bevor uns jemand sieht.«
Wir umrundeten auf dem Kiesweg die Leichenhalle, in der noch ein einzelnes Licht brannte, wahrscheinlich, um unbefugte Personen fernzuhalten. Grillen zirpten ein endloses Konzert in den Bäumen um den Friedhof. Sie waren die einzige Begrenzung dieses Orts. Es gab keine Tore oder Zäune, keinen offiziellen Ein- oder Ausgang. Nur ein unebenes Stück Erde. Ein schwarzes Meer, an dessen Oberfläche schiefe Grabsteine dümpelten. Der kleinen Tafel an der Mauer der Leichenhalle zufolge gingen einige Gräber bis 1830 zurück.
»Das ist perfekt«, sagte Willow, als ich zwei Bierflaschen mit meinem Schlüssel aufmachte und ihr eine gab. Sie nahm einen großen Schluck, als wäre es ein Zaubertrank, den sie unbedingt brauchte.
»Trink langsam«, sagte ich. »Du –«
Da griff sie nach mir, eine Hand hielt das Bier und verschüttete es, und mit der anderen packte sie mein Sweatshirt. Sie riss mich an sich. Ihre Lippen trafen meine Wange, versuchten, meinen Mund zu finden. Ihr Atem roch nach teurem Whiskey und billigem Bier.
»So geht es«, flüsterte sie zwischen den hektischen Küssen, die mich gleichzeitig erhitzten und abstießen. Ich wollte sie mehr als alles andere, aber nicht auf diese Weise.
»Willow …«
»So geht es, okay? Betrunken und berauscht, du kannst mich einfach nehmen, Isaac. So geht es.«
»Nein …«
»Genau wie vorher«, sagte sie, knabberte an meinem Hals und ließ dann den Kopf an meine Schulter sinken. »So geht es. Vielleicht geht es jetzt nur noch so.«
Der Schatten eines Gedankens glitt wie ein kalter Schauder meine Wirbelsäule hinunter.
»Was meinst du damit? Was geht so?«
»Du weißt es«, sagte sie. »Muss ich es dir buchstabieren?«
»Ja, das musst du, Willow. Was meinst du?«
»Was ich meine?«, fragte sie sich. »Ich sage es doch, oder nicht? Ich erzähle die Geschichte. Warum? Weil ich dich mag, Isaac. So sehr, und es ist so verdammt traurig, oder? Ich will ein normales Mädchen sein, das einen Jungen mag, und das kann niemals, niemals sein. Nicht für mich.«
»Warum nicht?«, fragte ich, und mein Mund flüsterte die Worte, während mein Körper sich verkrampfte, als er sich auf die Antwort gefasst machte.
»Es war einmal vor langer Zeit …« Willows Kopf kippte schlaff auf die Seite, und ihre glasigen Augen waren dunkel vor Alkohol und Schatten. »Da hab ich eine Party gegeben. Es wurde getanzt. Wir haben getanzt wie Sex, und ich hab mich sexy gefühlt. Und erwachsen. Und er wollte mich. Er war älter und heiß und beliebt, und er hat mich beachtet. Er hieß Xavier.«
Sie hakte einen Finger in ihren Ärmel und zog ihn hoch und enthüllte einen Schwarm kleiner X, die jeden Zentimeter ihrer blassen Haut bedeckten.
»Ein X markiert eine Stelle«, sagte sie. »Jetzt sind sie auf meinem Arm, aber ich kann sie überall hinmalen.« Ihre Stimme zitterte. »Er hat mich überall berührt.«
Sie zog den Ärmel runter und ließ sich gegen die Mauer sinken, während ich sie mit meiner ganzen Aufmerksamkeit ansah. Ich zitterte, weil ich Angst davor hatte, was sie mir noch erzählen würde.
Willow nahm einen Schluck Bier und betrachtete dann die Flasche. »Ich habe in jener Nacht Bier getrunken. Aus einem Becher. Ich habe nicht viel getrunken, aber das musste ich auch nicht. Xavier hat was reingetan …«
»Gott …«
»Ich weiß nicht, was es war. Dann ist alles verschwommen. Meine Erinnerungen sind zerbrochen, und ich erinnere mich nur in winzigen Einzelteilen an die Nacht.« Sie sah zu mir auf, der halb erinnerte, zersplitterte Schmerz erfüllte ihre Augen. »Ich weiß noch, dass alle nach Hause gegangen sind und er mir geholfen hat, aufzuräumen. Er war so nett. Aufmerksam. Kann ich dir etwas zu trinken holen , hat er gefragt.«
Sie kniff die Augen zusammen. »Dann erinnere ich mich, dass ich oben war. In meinem Zimmer.«
Ich hielt den Atem an. Mein Herz hämmerte immer wieder gegen meine Brust.
»Es heißt, man soll die Wahrheit sagen«, sagte sie und öffnete die Augen. »Aber was, wenn du weißt, dass es passiert ist, aber dich nicht erinnern kannst, wie? Ich erinnere mich ans Tanzen. Ich hatte einen kurzen Rock an. Ich hatte etwas getrunken. Und ich bin – ohne mich zu wehren – mit ihm nach oben gegangen.«
»Verdammt. Willow …«
»Ich habe nicht Ja gesagt«, sagte sie, und ihre feuchten Augen hielten verzweifelt meinen Blick. »Aber ich kann mich auch nicht erinnern, Nein gesagt zu haben. Nicht mit meiner Stimme. Ich hatte keine Stimme. Aber in mir drin …« Sie schüttelte den Kopf. »In mir drin habe ich es geschrien.«
Ihre Worte hingen schrecklich und unbeirrt in der Luft. Ich schluckte schwer, ein dicker Kloß aus Schmerz und Wut und Hilflosigkeit saß mir in der Kehle. Ich rang nach Worten. Nach etwas, das ich sagen oder tun konnte, um es unwahr zu machen. Ich wollte sie aus diesem Albtraum wecken. Sie packen und weit wegbringen. In den Pick-up steigen und einfach losfahren. Richtig Gas geben und uns aus dieser Welt heraus an einen verfluchten magischen Ort namens »Das ist nie passiert« bringen.
Ich will, dass es nie passiert ist, verdammt …
Die Hilflosigkeit war wie ein Schraubstock um meinen Hals. Ich fragte mich, wie Willow es ertrug. Tag für Tag. Den ganzen Tag. Die ganze Nacht. Wie konnte sie hier stehen? Betrunken und völlig fertig vor Schmerz, schon, aber sie war da.
Sie zuckte mit den Achseln und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. »Das war’s, oder? Ich hab nicht Ja gesagt, aber ich kann mich nicht erinnern, Nein gesagt zu haben. Jedenfalls hab ich ’s nicht ausgesprochen …«
»Was ist danach passiert?«, fragte ich durch die zusammengebissenen Zähne.
Sag mir, das Arschloch sitzt im Knast. Und kriegt jeden Tag seines Lebens die Scheiße aus ihm rausgeprügelt.
Willow zuckte wieder mit den Achseln, eine schreckliche, hoffnungslose Geste.
»Der nächste Morgen ist passiert. Ich hatte Kopfschmerzen, als würde mein Gehirn versuchen, aus meinem Schädel auszubrechen. Ich habe meine zerrissene Unterwäsche verbrannt. Ich habe das Blut aus den Laken gewaschen. Ich habe eine Dreiviertelstunde lang heiß geduscht. Ich habe versucht, alle Beweise zu vernichten und so zu tun, als wäre es nie passiert.«
»Du hast es niemandem erzählt«, sagte ich.
»Erzählen …« Sie schüttelte den Kopf. »Unmöglich. Wie soll ich der Polizei erzählen, dass Xavier Wilkinson, Sohn des CEO eines milliardenschweren Unternehmens mich unter Drogen gesetzt und … mich … vergewaltigt hat?« Nach diesem Wort lähmte sie ein ersticktes Schluchzen, und sie schluckte es herunter. »Mein Dad würde seinen Job verlieren. Sie würden uns eine Armee von Anwälten auf den Hals hetzen. Wir wären pleite. Mal ganz davon abgesehen, dass ich erklären müsste, was ich anhatte und was ich getan habe. Wie viel ich getrunken habe und wer mich mit ihm tanzen gesehen hat. Ich hab mich vor allen anderen beim Tanzen an ihm gerieben, als würde ich es wollen.«
»Aber …«
»Da ist noch mehr«, sagte sie. »Wir hatten den ganzen Sommer lang geflirtet. Ich hatte ihn am Nationalfeiertag auf einer Party in den Hamptons kennengelernt. Wir haben uns geschrieben. Und daraus wurde … mehr . Es ging zu weit, und am Ende habe ich …« Sie versuchte, mir in die Augen zu sehen, und konnte nicht. »Ich habe ihm ein Foto geschickt. Von mir. Oben ohne. Er hat mich darum gebeten, und ich habe es getan. Jetzt hat er es. Er hat es immer noch. Er wird es allen zeigen, wenn er das nicht schon getan hat, und ich … ich …«
Plötzlich beugte sie sich vor und kotzte den gesamten Alkohol des Abends vor sich auf den Boden. Ich trat zu ihr und hielt ihr Haar nach hinten, während sie würgte. Und ich wusste, es hatte mehr mit ihrer Geschichte zu tun als mit dem, was sie getrunken hatte.
Als nichts mehr übrig war, stieß sie mich weg und ließ sich keuchend und erschöpft an die Mauer sinken.
Ich ging auf und ab. Feuer floss durch meine Adern, meine Hände waren zu Fäusten geballt, und mein Herz hämmerte. Blut rauschte in meinen Ohren und färbte meinen Blick rot.
»Fuck.« Ich wirbelte herum und rammte die Faust gegen das Holzschild der Leichenhalle, meine Knöchel platzten auf. »Ich bringe ihn um. Wo ist er jetzt? Ich bringe ihn um, verdammt.«
Willow ließ ein bitteres Lachen hören. »Ach ja? Du bringst ihn um? Oder verprügelst ihn? Und dann ist alles wieder gut?«
»Ich … ich muss einfach etwas tun …«
»Damit du dich besser fühlst?« Sie wischte sich mit dem Handrücken das Kinn ab. »Ja, super, schön für dich. Aber was ist mit mir? Wann fühle ich mich besser? Nie. Ich werde diese Erinnerung für immer in meinem Gehirn haben, für immer diesen Schmutz auf meinem Körper fühlen. Eine chronische Krankheit, für die es keine Heilung gibt.«
»Es ist nicht deine Schuld …«
»Das weiß ich, aber verstehst du es nicht? Es ist egal. Es ist nicht meine Schuld, aber das ist egal . Weil es zu spät ist. Zu spät. Du kannst ihn zu Brei schlagen und gegen Schilder boxen, bis du dir die Knochen brichst. Aber ich bin immer noch hier.« Sie zeigte mit dem Finger auf den vollgekotzten Boden, und Tränen schimmerten in ihren Augen. »Ich bin hier. Für immer. Genau hier
Die Erkenntnis stieg langsam in ihr auf, als würde sich eine schreckliche Tragödie vor ihren Augen abspielen.
»Scheiße …«, flüsterte sie. Die Tränen liefen ihr über die geröteten Wangen. Ihre Unterlippe zitterte, und ihr Atem kam in hektischen Stößen. »Scheiße. Scheiße .« Sie warf die Flasche auf den Boden, wo sie in glitzernde grüne Scherben zersprang, dann verließ sie den Kiesweg und stapfte taumelnd den Hügel hoch auf den Friedhof.
Ich folgte ihr schweigend. Sie brauchte meine Worte nicht zu hören. Sie würde etwas von dem Zorn und dem Schmerz rauslassen, und es war meine Aufgabe, ihr das zu ermöglichen und danach für sie da zu sein.
»Arschloch, Arschloch, Arschloch
Ihre Stimme wurde lauter und lauter, schnitt wütend durch den Himmel. »Du Arschloch!«, schrie sie. »Du Arschloch! Arschloch! ARSCHLOCH!«
Ihr letzter Schrei überschlug sich, und sie brach zusammen. Ihre Knie gaben nach, und ich fing sie gerade rechtzeitig auf und hielt sie fest. Vorsichtig. Neutral. Wie konnte sie je wieder wollen, dass ein Mann sie berührte?
Aber Willow zerrte am Kragen meiner Jacke und drückte sich an mich, als wollte sie in mich hineinkriechen. Ich umhüllte sie. Zog sie an mich. Machte meinen Panzer zu ihrem Panzer. Ihr blondes Haar fiel über meine Hände, und ich machte Fäuste darin, hielt sie so fest. Gott, ich hatte mir tausendmal vorgestellt, ihr Haar zu berühren, aber nicht so.
Niemals so.
Ich hielt sie und versuchte, ihr den Schmerz abzunehmen. Und wenn es nur ein bisschen war. Ich hätte gern alles auf mich genommen. Ich spürte, wie er sie erzittern ließ. Selbst wenn ihr Gehirn sich nur an ein paar verschwommene Momente erinnerte, ihr Körper wusste noch alles. Es steckte in ihren Zellen. In ihrer Seele. Jeder Moment dieser Vergewaltigung saß tief in ihr, war auf ihr aufgedruckt.
Und ich konnte nichts tun.
Sie weinte an meiner Brust, atmete zwischen verzweifelten Schluchzern stockend ein. Die Schluchzer wurden schwächer, und sie erschauderte nur noch ab und zu. Dann kam eine tödliche Reglosigkeit.
»Ich will nach Hause«, krächzte sie an meiner Brust.
Ich streichelte ihr Haar. »Ich bringe dich.«
»Aber wo ist zu Hause?« Willow wischte sich mit dem Ärmel ihres Oberteils über die Augen und sah sich auf dem Friedhof um. Alte Grabsteine standen in schiefen Reihen, manche waren seitlich abgesackt und fleckig vom Alter. »Gott, ich bin so müde.«
Sie rutschte unter meinem Arm hindurch, ließ sich auf Hände und Knie nieder. Neben einem Grab rollte sie sich auf die Seite und legte den Kopf auf einen Arm.
»Willow …«
»Du musst nicht bleiben«, sagte sie und schloss die Augen.
»Aber … hier?«
»Ja«, sagte sie. »Wir Toten, wir schlafen auf Friedhöfen.«
»Du bist nicht tot«, sagte ich und ging neben ihr in die Hocke. »Du bist nicht tot, Willow.«
Ich lasse dich nicht sterben.
»Nicht ganz«, murmelte sie schläfrig. »Aber ein Teil von mir ist tot und weg. Und ich kriege ihn niemals zurück.«
Das traf mich tausendmal schlimmer als die Wut, die sie in den Himmel geschrien hatte.
Ich legte mich langsam und vorsichtig hin und rutschte näher an sie heran. Ich kam ihr so nah, wie ich wagte, zögerte immer noch, sie zu berühren. Aber sie ließ zu, dass ich mich hinter sie legte, ließ zu, dass meine Brust ihren Rücken berührte und meine Knie sich hinter ihre schoben. Ihr volles Haar war weich an meiner Wange, als ich die Arme um sie legte. Sie schmiegte sich an mich, und ich dachte schon, sie wäre eingeschlafen, als ihre Stimme sich in der warmen, ruhigen Nacht erhob.
»Es tut mir leid«, flüsterte sie.
»Gott, Willow, es gibt nichts, was dir leidtun muss.«
»Es tut mir leid, dass ich nie die Art Mädchen sein kann, die du willst.«
Du bist schon die Art Mädchen, die ich will.
Die Worte blieben mir im Hals stecken. Sie wollten heraus, aber sie blieben hinter meinen Lippen verschlossen. Wie umgekehrtes Lampenfieber. Ich hatte kein Problem, Dramatiker für mich sprechen zu lassen, wenn ich vor Fremden auf der Bühne stand. Mit diesem Mädchen in den Armen fühlte ich mich meinem wahren Selbst näher als je zuvor.
Willow stieß einen letzten Seufzer aus. Schließlich schlief sie ein – so friedlich, wie es ihr möglich war auf dem Boden zwischen den Grabsteinen. Erst dann war ich mutig genug, es zu flüstern.
»Du bist das Mädchen, das ich will, Willow.«
Ich sagte es als ich selbst. Als Isaac Pearce. Es war keine Zeile in einem Stück, das jemand anders geschrieben hatte. Ich war es.
»Du bist es. Du bist das Mädchen. Ich will keine andere.«
Sie seufzte wieder und schmiegte sich fester an mich. Und so schliefen wir. Die alten Toten und die neuen; und die Sonne ging auf, und der Morgennebel legte sich über uns alle.