24. KAPITEL
Willow
Als ich aufwachte, hämmerte Kopfschmerz hinter meinen Augen, und ich hatte einen säuerlichen Geschmack im Mund. Der Geruch nach Erdreich stieg mir in die Nase. Ich öffnete die Augen, sah ein Grasbüschel und versuchte, mich zu erinnern. Der Alkohol hatte den gestrigen Abend gemischt wie ein Kartenspiel, hatte Ereignisse und Worte durcheinandergebracht und teilte sie mir nun in zufälligen Erinnerungsmomenten wieder aus.
Ich blinzelte. Reihen von schiefen Grabsteinen. Weißer, tief hängender Nebel waberte zwischen ihnen hindurch.
Oh Gott, ich habe auf einem Friedhof geschlafen .
Ich wurde wacher, und mir wurde bewusst, dass Isaac hinter mir lag. Über mir lagen seine schwarze Lederjacke und auch sein nackter Arm, in der kalten Morgenluft von Gänsehaut überzogen. Ich bemerkte ein Tattoo, eine Zeile, die in einer alten Schrift seinen Unterarm entlanglief.
Ich schmacht’, ich brenn’, ich sterbe.
Shakespeare? Vielleicht. Die Worte hörten sich nach ihm an, auf eine Weise, die ich noch nicht ganz verstand, aber vielleicht eines Tages verstehen würde. Sein warmer Körper lag dicht an meinem. Seine Gegenwart – seine harte, schwere Realität – machte meiner Seele keine Angst. Ich hatte die ganze Nacht geschlafen. Ich fühlte mich sicher.
Und dann erinnerte ich mich.
Ich hatte ihm alles erzählt .
Es fiel mir wieder ein und brachte Angst und Demütigung mit. Ich hatte Isaac etwa sechshundertmal gesagt, dass er schön sei. Hatte versucht, ihn zu küssen. Hatte ihm meinen Körper angeboten, weil ich gedacht hatte, dass ich nur halb benebelt von Alkohol je wieder Körperkontakt zu einem Mann haben könnte.
Ich hatte meine Geschichte erzählt.
Ich hatte Schimpfworte in den Himmel gebrüllt.
Und mich übergeben.
»Oh Gott«, flüsterte ich.
Das Geheimnis, das meinem Leben die Luft abschnürte, war gelüftet, und Isaac Pearce kannte es jetzt. Ganz. Jede schreiende, kotzende Minute. Jedes schmutzige Detail. Er war Zeuge geworden, wie der Schmerz stockend aus mir herausgeströmt war. Es war nicht länger eine schattenhafte Erinnerung, die tief in mir verschlossen nur in Form von kleinen schwarzen X durch die Haut sickerte. Es war real. Ich hatte es ausgesprochen.
Xavier Wilkinson hatte mich unter Drogen gesetzt und vergewaltigt.
Ich hatte die Worte gesagt. Hatte das Wort gesagt, laut und mit meiner eigenen Stimme, und ihm dadurch ein wenig von seiner Macht genommen. Nicht viel, nur ein Tropfen in einem großen Ozean, aber es war ein Anfang.
Ich setzte mich langsam auf, und Isaacs Jacke rutschte mir von der Schulter. Meine Jeans war dreckig und feucht, nachdem ich die ganze Nacht auf dem Rasen gelegen hatte. Mein Haar fiel in einer wirren Matte um mich herum.
»Hey«, sagte Isaac leise.
Mein Kopf fuhr herum, und ich sah zu ihm hinunter. All die Worte, die ich gesagt hatte, hingen zwischen uns in der Luft, und ich konnte sie nicht zurücknehmen.
Und wenn ich das gar nicht will?
Isaac, der Bescheid wusste, war nicht wie Xavier, der ein Nacktfoto von mir besaß. Es stand ihm nicht ins Gesicht geschrieben. Er wendete es nicht ständig im Kopf und glotzte es nicht an wie ein anstößiges Bild. Er betrachtete mich stirnrunzelnd, seine Miene war voller Sorge und Unsicherheit.
»Hey«, sagte ich und verzog das Gesicht. Mein Hals war wund und rau vom Schreien. Meine Gedanken waren so durcheinander, dass ich nicht wusste, was ich sagen sollte, außer: »Wir haben auf einem Friedhof geschlafen.«
Isaac lächelte, und seine Stirn glättete sich. »Das haben wir.« Er sah sich den Grabstein an. »Ich hoffe, Joseph P. Bouchard, geliebter und treuer Gatte , hat es nichts ausgemacht.«
»Oh, Mist, wie spät ist es?«
Ich holte mein Handy aus der Gesäßtasche. Das Display war gesprungen, ein Opfer meiner Trunkenheit. Es war 05:17.
Ich hielt mir den schmerzenden Kopf. »Oh Gott, meine Eltern werden bald aufstehen. Sie werden herausfinden, dass ich nicht nach Hause gekommen bin. Ich bin erledigt. Und so kann ich unmöglich nach Hause gehen.« Ich stand wankend auf. »Ich weiß nicht, was ich machen soll. Was soll ich machen?«
Isaac stand auf und neigte den Kopf vor und zurück, um seinen Hals zu dehnen. Sein weißes T-Shirt war dreckig, seine Jeans von oben bis unten feucht.
Schnell hob ich seine Jacke auf und gab sie ihm zurück.
»Hier«, sagte ich. »Du siehst aus, als wenn dir kalt wäre.«
Er nahm mir die Jacke ab und legte sie mir um die Schultern. Er hielt sie vorne zu und zog mich sanft an sich. In seinem Blick war keine Verurteilung. Er war von meiner Geschichte nicht angeekelt oder abgestoßen.
»Isaac«, flüsterte ich und schluckte schwer.
»Nicht«, sagte er und umarmte mich. Seine Arme legten sich um meinen Rücken und hielten mich fest. »Alles wird gut.«
Ich schüttelte den Kopf an seiner Brust. »Nein, wird es nicht. Es war so lange nicht gut.«
»Vielleicht war gestern Abend ein Anfang.« Er löste sich von mir und sah mir in die Augen. »Wo ist er jetzt?«, fragte er mit leiser Stimme.
»Im College. Lebt sein Leben. Ich kann es niemandem sagen. Es ist zu spät«, sagte ich, und Panik stieg in mir auf. Ich stieß mich von ihm ab. »Ich muss nach Hause. Ich muss … Gott, sie werden merken, dass ich draußen geschlafen habe.« Ich zeigte auf meine schmutzigen Klamotten. »Ich kann das nicht verstecken.«
»Ich kann dich zu den Fords bringen. Marty wird uns decken.«
»Nein. Nicht er. Ich kann es ihm nicht sagen. Ich könnte ihm den Rest des Stücks nicht mehr in die Augen sehen.«
Isaac sagte nichts dagegen, obwohl ich merkte, dass er wollte. »Was ist mit Angie? Weiß sie es?«
Elend schüttelte ich den Kopf. »Nein. Und ich hasse es, ihr das ständig anzutun, sie zu bitten, mich zu decken. Ich will nicht, dass sie Ärger bekommt. Ich will es ihr nicht …«
Erzählen.
»Sie ist deine Freundin , Willow …« Er schüttelte den Kopf und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Was ist mit deinen Eltern? Vergiss letzte Nacht. Vergiss den Alkohol und dass du draußen geschlafen hast. Vergiss das Stück. Sie wissen nicht, was passiert ist. Glaubst du nicht, du solltest es ihnen sagen?«
»Nein«, sagte ich mit harter Stimme. »Das mach ich nicht. Ich … ich sage es Angie. Aber das war’s. Sonst braucht es niemand zu wissen.«
Isaac wollte noch mehr sagen, aber ich schüttelte den Kopf. »Das ist meine Entscheidung. Meine . Und ich bin nicht bereit dafür. Selbst wenn ich es wäre, es ist zu spät.«
»Das sagst du schon die ganze Zeit.«
Ich versteifte mich. »Weil es stimmt.«
»Vielleicht nicht«, sagte er ruhig. »Martin hat neulich gesagt, dass der Gedanke, dass etwas zu spät sei, ein Hoffnungskiller ist.«
»Sie werden mir nicht glauben«, sagte ich. »Ich habe zu lange gewartet, und er hat dieses Foto …« Ich schüttelte den Kopf heftiger. »Nein. Ich muss zu Angie, mich waschen und meine Klamotten sauber kriegen und versuchen, das Stück nicht zu verlieren.«
Ich nahm mein Telefon und rief Angie an.
»Hallo?«, sagte sie schlaftrunken.
»Angie, ich bin’s.«
»Willow? Wie spät ist es?«
Ich schloss die Augen. »Ich brauche dich.«
Die McKenzies wohnten in einem bescheidenen Haus am Südrand von Harmony. Angie traf uns an der Hintertür. Sie trug weite Schlafanzughosen und ein T-Shirt, auf dem stand: Ich schwöre feierlich, dass ich nichts Gutes im Schilde führe. Ihre Augen weiteten sich, als sie meine dreckverschmierten Klamotten sah, dann rannte sie mit offenen Armen auf mich zu.
»Oh Gott«, flüsterte sie und umarmte mich. »Es ist okay. Was auch immer passiert ist, alles wird gut.« Sie ließ mich los und beäugte misstrauisch Isaac. »Mein Dad ist auf Geschäftsreise, aber meine Mom ist hier«, flüsterte sie. »Wenn sie dich sieht …«
Isaac hatte sich in sein Schweigen zurückgezogen, sein Gesicht war die übliche ausdruckslose Maske.
»Gibst du uns einen Augenblick?«, fragte ich.
Angie sah schnell zurück ins Haus. »Einen kurzen.«
Ich nahm Isaac auf Angies Veranda beiseite und zog seine Jacke aus.
»Behalt sie«, sagte er.
»Das kann ich nicht«, sagte ich. Die Tränen kamen wieder.
»Willow«, sagte er. »Nicht.«
»Das hast du vorhin schon gesagt«, sagte ich. »Was nicht? Ich weiß nicht, wie ich mich fühlen soll.«
»Und ich versuche nicht, es dir vorzuschreiben. Du sollst nur wissen, dass es … okay ist. Es ist okay, dass du es mir gesagt hast.« Er knirschte mit den Zähnen. »Ich will das Arschloch umbringen, ich will nicht lügen. Ich will ihn aufspüren und …« Er atmete durch die Nase ein. »Aber ich werde nichts tun, was du nicht willst, ja? Versprochen.«
Tränen liefen mir die Wangen hinunter, und ich atmete ein. »Danke«, flüsterte ich.
Angie verlor die Geduld. Sie umarmte mich, und ihre Stimme war weich, als sie mit Isaac sprach. »Ich kümmere mich um sie.«
Er zögerte, als wollte er mich keine Sekunde lang allein lassen. »Danke.« Er drehte sich zu mir um. »Schreib mir später.«
»Mach ich.«
Wir sahen ihn durch den kühlen Morgen zurück zu seinem Pick-up gehen, die Hände in die Taschen geschoben, die Schultern hochgezogen.
Sobald er weg war, zog Angie mich zu sich herum. »Sag mir die Wahrheit«, sagte sie und schob mir das wirre Haar aus dem Gesicht. Ihre Stimme war noch nie so hart oder ernst gewesen. »Ist er der Grund, weshalb du so aussiehst?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Er ist der Grund, weshalb ich nicht noch schlimmer aussehe.«
Meine Stimme überschlug sich. Die Tränen flossen jetzt. Angie legte mir einen starken Arm um die zitternden Schultern. »Komm, gehen wir nach oben.«
Sie schob mich in ihr Zimmer im zweiten Stock. Unten hörte man hinter einer Tür das Geräusch von laufendem Wasser. Ein Hund, ein wunderschöner Irish Setter mit fließendem kastanienbraunem Fell, kam hinter uns die Treppe hoch.
»Barkley, nein«, sagte Angie, aber er kam trotzdem ins Zimmer.
»Mom macht sich für die Arbeit fertig«, sagte sie, als sie hinter sich die Tür schloss. Mir wurde mit Bedauern klar, dass ich nicht wusste, was ihre Eltern machten. Ich hatte nie gefragt.
Angies Zimmer stürmte auf meinen schmerzenden Kopf ein. Es sah genauso aus, wie ich es mir vorgestellt hatte: voll mit popkulturellem Kitsch. Poster von obskuren Alternative Bands, von denen ich nie gehört hatte. Eins von Emma Watson als Hermine. Drei Regale waren mit Romanen, Comics und reihenweise Mangas vollgestellt. Klamotten lagen auf dem Fußboden – all die T-Shirts mit Aufschrift.
Sie setzte mich auf die schwarze Überdecke des Bettes. Barkley legte sich hin und sah zu, wie sein Mensch vor uns auf und ab ging.
»Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich muss meiner Mutter irgendwas sagen, okay? Du hast dich nach der Probe nicht wohlgefühlt? Und bist deshalb hier gelandet? Und …?«
»Ich weiß es nicht«, sagte ich.
Angie kniete sich zwischen meine Beine und nahm meine Hände. »Was ist passiert, Willow? Vergiss den Rest. Was ist passiert? Erzähl mir alles.«
Ich erzählte ihr alles.
Anders als bei der entflammten Wut der letzten Nacht kam die Geschichte zwischen sanften Schluchzern hervor. Es Isaac zu erzählen war gewesen, als hätte ich eine Granate auf das Eis und das Taubheitsgefühl geworfen. Alles war explodiert. Als ich es Angie sagte, musste ich nur die Worte durch das Loch fallen lassen, das entstanden war.
Angie setzte sich neben mir aufs Bett und weinte mit mir. »Du musst die Polizei anrufen«, sagte sie. »Du musst Anzeige erstatten.«
»Ich kann nicht. Es ist neun Monate her.«
»Das ist egal.«
»Ich habe alle Beweise zerstört, und er hat dieses Foto.«
»Willow, du musst –«
»Ich muss gar nichts«, sagte ich. »Ich kann nicht … Gott, ich … ich fühle mich so schmutzig.«
»Er ist schmutzig«, fauchte Angie. »Er ist ein ekelhaftes, widerliches, verachtenswertes, unmenschliches Monster. Er sollte sich schämen. Er …« Sie verstummte und schüttelte den Kopf, dann hob sie eines ihrer T-Shirts auf, wischte sich die Augen ab und reichte es mir.
Barkley legte seine lange Schnauze in meinen Schoß und sah mich stumm aus seinen feuchten braunen Hundeaugen an, als würde er alles verstehen.
»Ich habe es niemandem erzählt«, sagte ich. »Nie. Bis gestern Nacht. Bitte, lass mich erst … verarbeiten, dass es in der Welt ist. Okay?«
»Natürlich.« Sie umarmte mich fest. »Gott, es tut mir leid. Was auch immer du brauchst. Was auch immer du willst.«
Es klopfte an der Tür, und eine Frauenstimme rief auf der anderen Seite. »Angie?«
Die Tür ging auf, und eine ältere Version von Angie erschien. Die gleichen schwarzen Locken, die gleiche rundliche Figur in einem fließenden Kleid.
»Schatz, ich fahre los. Ist Barkley hier …? Oh, es tut mir leid, ich wusste nicht …« Ihre Miene wechselte zu erschrockener Sorge, als sie von mir zu ihrer Tochter und wieder zu mir zurück guckte. »Hallo …?«
»Willow, das ist meine Mom, Bonnie«, sagte Angie, die noch die Arme um mich gelegt hatte. »Mom, das ist meine Freundin, Willow Holloway. Sie hatte eine etwas schwierige Nacht. Sie muss ihre Klamotten sauber machen, duschen und etwas essen, und dann müssen wir ihren Eltern sagen, dass sie die Nacht über bei mir war, okay?«
»Angela«, sagte Bonnie ernst.
»Es ist nichts Ungesetzliches passiert, versprochen«, sagte Angie. »Sie braucht unsere Hilfe, okay? Bitte. Du kannst mir vertrauen. Das weißt du.«
Bonnie schob Barkley sanft beiseite, setzte sich auf meine andere Seite und strich mir das lange Haar aus dem Gesicht. »Du hast getrunken.«
Angie biss sich auf die Lippen. »Okay, also eine ungesetzliche Sache …«
»Angie hatte nichts damit zu tun, Mrs McKenzie«, sagte ich. »Das schwöre ich. Und es tut mir so leid, dass ich hier einfach auftauche. Ich hatte eine schwierige Nacht, das ist alles.«
»Willow spielt die Ophelia im Hamlet am Community-Theater«, sagte Angie. »Es ist sehr wichtig für sie. Und sie ist wirklich brillant. Wenn wir ihr nicht helfen, werden ihre Eltern sie aus dem Stück nehmen.«
»Ich lüge nicht gern«, sagte Bonnie und strich mir dabei übers Haar, als wären Angie und ich seit dem Kindergarten befreundet. »Ich mache eine Ausnahme, wenn ihr mir beide versprecht, dass es genügt zu sagen, dass sie die Nacht hier war, um alles in Ordnung zu bringen. Ich will nicht herausfinden, dass mehr passiert ist und meine Lüge die Sache verschlimmert hat. Habt ihr das verstanden?«
Wir nickten.
»Okay. Ich werde euch vertrauen.« Ihr Tonfall implizierte, dass sie das besser nicht bereute.
»Danke.« Ich ließ mich an sie sinken, und sie umarmte mich. Eine warme und tröstliche mütterliche Umarmung. »Danke«, flüsterte ich noch einmal. »Es tut mir so leid.«
»Gibt es etwas, worüber du reden willst, Schätzchen?«, fragte sie.
»Nein«, sagte ich und warf Angie einen Blick zu.
Dann klingelte mein Telefon, und wir fuhren alle zusammen.
»Oh Gott, das ist meine Mom«, sagte ich, und meine Stimme zitterte. »Sie wird es meinem Dad sagen. Ich werde Hamlet verlieren.« Ich schluckte schwer. »Ich werde Hamlet verlieren.«
Bonnie nahm mir das Telefon aus der Hand und ging dran.
»Hallo Mrs Holloway? Mein Name ist Bonnie McKenzie, ich bin Angie McKenzies Mom.« Eine Pause, dann runzelte sie die Stirn. »Angie. Willows Freundin.« Pause. »Ja. Hi. Willow duscht gerade. Ich bin an ihr Telefon gegangen, weil ich mir sicher war, dass Sie sich Sorgen machen.« Eine Pause. »Ja, anscheinend hat meine Tochter gestern Abend nach der Probe im Scoop gelernt. Die Mädchen haben sich getroffen und beschlossen herzukommen. Sie haben sich verquatscht und sind zu lange aufgeblieben. Ich hatte angenommen, dass Willow Sie angerufen hat, aber habe heute Morgen erfahren, dass das nicht stimmt.«
Angie und ich tauschten Blicke, lauschten mit wachsender Hoffnung, wie ihre Mutter mir den Arsch rettete.
»Ich weiß«, sagte Bonnie und lachte kurz auf. »Teenager, stimmt’s? Wir erfahren es immer als Letzte. Aber Willow fühlt sich nicht gut. Ich denke, sie sollte vielleicht heute nicht in die Schule gehen. Ich kann sie nach Hause fahren oder …« Eine Pause. »Natürlich«, sagte sie und warf mir einen mitfühlenden Blick zu. »Sie können sie abholen.« Eine Pause. »Sehr gut, ich schreibe Ihnen die Adresse. Okay. Wiederhören.«
Sie legte auf und gab mir das Telefon zurück. »Ich schätze, du hast etwa zwanzig Minuten, um dich herzurichten.«
»Vielen, vielen Dank«, sagte ich. »Noch mal.«
»Mom, du bist ein Rockstar, ehrlich«, sagte Angie.
Bonnie schürzte die Lippen. »Nun, meine Damen, ich mache das nicht noch einmal. Aber es könnte funktioniert haben. Deine Mutter – ich sage es ungern – klang eher wütend als besorgt.«
»Das passt«, sagte ich.
Bonnie stand auf und strich ihren Rock glatt. »Geh duschen, wasch dir die Haare – und benutz auf jeden Fall die Mundspülung, die über dem Waschbecken steht. Angie, vielleicht kannst du Willow was zum Anziehen leihen? Sie ist größer als du, aber vielleicht einen Rock und ein T-Shirt? Ich packe deine Sachen in die Maschine, und du kannst sie später abholen. Frühstück? Ich wollte Eier mit Speck machen.«
Ich starrte diese Frau an. Sie war wie ein Gespenst oder ein UFO. Eine echte Mutter, die Sachen tat, die echte Mütter taten. Ich hatte gehört, dass es so etwas gab, aber ich hatte es nie mit eigenen Augen gesehen.
»Danke, Mom«, sagte Angie. »Du bist die Beste.«
Sie gab ein Hmmpf von sich, dann umfasste sie mein Kinn. »Wenn du das nächste Mal glaubst, du könntest eine schwierige Nacht haben, ruf Angie vorher an, okay? Und Angie erzählt es mir dann. Das tut sie doch?«
»Das tut sie auf jeden Fall«, sagte Angie.
Bonnie tätschelte mir die Wange, ging aus dem Raum und machte die Tür hinter sich zu.
Ich schüttelte den Kopf. »Deine Mom …«
»Oh ja, sie ist Gold wert. Sie ist Therapeutin. Eine Situation zu verstehen und nicht darüber zu reden ist sozusagen ihre Spezialität.«
Eine Therapeutin , dachte ich. Und gleich darauf fielen mir Isaacs Worte ein: Alles passiert aus einem Grund .
Ich duschte in Angies Badezimmer und wusch die gestrige Nacht mit warmem Wasser und blumigem Duschgel ab. Die Mundspülung spülte den Geschmack nach Erbrochenem und Alkohol weg. Mein Spiegelbild hatte geschwollene rote Augen. Stumm dankte ich noch einmal Bonnies schneller Auffassungsgabe und dass sie gesagt hatte, dass ich krank sei. Ich hätte auf keinen Fall zur Schule gehen können.
Als ich aus dem Bad kam, gab Angie mir einen langen fließenden Rock mit grünen und roten Blumen und ein übergroßes grünes T-Shirt mit der Aufschrift: Manchmal frage ich mich, was aus den Leuten geworden ist, die mich mal nach dem Weg gefragt haben.
Angie sah mich an. »Schlabberig, aber es wird gehen.«
Wir gingen nach unten, und ich setzte mich auf einen Hocker an die Küchentheke und aß etwas von den Eiern mit Speck. Das Haus der McKenzies war ebenso modern wie unseres, nur insgesamt kleiner und mit all der Wärme und Gemütlichkeit, die unserem fehlte.
Bonnie ist bestimmt gut in ihrem Job , dachte ich.
Zwanzig Minuten später summte mein gesprungenes Telefon, als eine Nachricht ankam.
Ich stehe vor der Tür.
»Ich wette, sie bereut es, den ganzen Weg hergekommen zu sein, nachdem Sie ihr angeboten hatten, mich nach Hause zu fahren«, sagte ich und gab Barkley ein Stück von meinem Speck. »Ihr Misstrauen hat sich gelegt, und jetzt ist sie nur noch genervt, dass sie mich abholen muss.«
Angies Mom hob die Augenbrauen. »War sie der Grund für deine schwierige Nacht?«
»Nein«, sagte ich.
»Dann würde ich rausgehen und mich bei ihr entschuldigen.« Sie lächelte hinter ihrer Kaffeetasse. »Du weißt schon. Für die Umstände.«
Ich musste lachen. Angies Mom hatte nach einem einzigen Telefonat begriffen, wie meine Mutter tickte.
Ich rutschte vom Hocker, und Angie und Bonnie begleiteten mich zusammen mit Barkley zur Tür. Draußen wartete meine Mutter in ihrem silbernen Mercedes. Ich kraulte den Hund hinter den Ohren und umarmte dann Bonnie, in der Hoffnung, etwas von ihrer Gemütlichkeit mit nach Hause nehmen zu können.
»Danke«, sagte ich.
»Du dankst mir am besten, wenn du nicht vergisst, was ich gesagt habe«, sagte Bonnie. »Du kannst jederzeit mit mir reden.«
Tränen stiegen mir in die Augen. Als ich Angie umarmte, liefen sie mir über die Wangen.
»Wir Mädels halten zusammen, stimmt’s?«, sagte sie mit bebender Stimme. »Wir reden später weiter, okay? Wenn du dich ausgeruht hast.«
Ich nickte. Ich war erschöpft bis auf die Knochen.
Meine Mutter drückte auf die Hupe und ich seufzte. »Mein Stichwort.«
Ich ging nur mit dem Telefon in der Hand die Auffahrt hinunter, Angies Rock raschelte mir um die Beine. Angie und Bonnie standen mit ihrem süßen Hund an der Tür und winkten. Ein Bild von Wärme und Freundschaft und einem Zuhause .
Ich winkte zurück, bevor ich auf den Beifahrersitz kletterte. Ich ließ das Haar auf der linken Seite meines Gesichts runterfallen, in der Hoffnung, dass Mom meine roten und geschwollenen Augen nicht bemerkte.
»Hey, Mom. Tut mir leid wegen gestern. Wir haben die Zeit vergessen, und heute fühle ich mich gar nicht gut.«
»Wohl eher nicht. Deine Stimme klingt furchtbar«, sagte sie, als sie anfuhr. »Und ich begrüße so etwas gar nicht, Willow. Es macht keinen guten Eindruck vor der Mutter deiner Freundin, dass ich nicht wusste, wo du gestern Nacht warst.«
»Sie versteht das. Sie ist Therapeutin. Und ich mag sie. Sehr.«
»Therapeutin.« Mom schniefte. »Vielleicht sollte ich dich zu ihr schicken.«
»Vielleicht solltest du das«, murmelte ich.
Meine Mom schniefte wieder und sah zu mir. Die Falten auf ihrer Stirn vertieften sich, und ich machte mich auf eine Frage gefasst. Die Frage, die Bonnie stellen würde. Die ich beinahe hören wollte. Wieder spürte ich, wie die Wahrheit in mir aufstieg. Ich hatte es schon zweimal erzählt. Ich konnte es auch ihr sagen. Sie musste nur fragen.
Mom: Was ist los, Schatz?
Ich: Mom, es war Xavier …
Aber sie brachte ihren Text durcheinander. »Was hast du da für Sachen an?«