26. KAPITEL
Willow
Samstagnachmittag nahmen Angie und ihre Mom mich in die Mall in Braxton mit – ein Frauenausflug.
»Du siehst aus, als könntest du eine Stärkung gebrauchen«, sagte Angie.
Wir hatten uns eingehakt und die Tüten mit Klamotten von Urban Outfitters schlugen uns gegen die Oberschenkel. All die T-Shirts mit den Sprüchen waren in der Wäsche, also trug Angie heute ein T-Shirt ohne Aufschrift. Aber sie hatte ein neues gekauft, auf dem stand: Wenn ich ein Vöglein wär, wüsste ich genau, wem ich als Erstes auf den Kopf scheißen würde .
Bonnie war ein neues Topf- und Pfannenset kaufen und wollte uns im Food Court treffen.
»Was ist eigentlich mit Isaac?«, fragte Angie. »Seid ihr immer noch nur Freunde? Nach allem, was passiert ist?«
»Ja, es hat sich nichts geändert. Er verlässt die Stadt, sobald er kann, und … das war’s.«
Sie sah mich an. »Das war’s.«
»Wir haben das Stück, solange mein Dad mir das nicht versaut. Es werden Talentscouts kommen, um Isaac bei der Premiere zu sehen. Hab ich dir das erzählt?«
»Nur etwa hundertmal«, sagte sie. »Ich würde ja sagen, dass das eine kluge Entscheidung ist, wenn du nicht so traurig aussehen würdest.«
»Ich bin nicht traurig.«
Ich liebte Ophelia.
Gott, Isaacs Stimme in diesem Augenblick. Ich hatte so etwas noch nie gehört. Es hatte mich aus meinem falschen Tod gerissen, und sein Gesichtsausdruck, als ich die Augen öffnete …
»Es ist dumm«, sagte ich und winkte ab. »Das Stück geht mir wirklich nahe, weißt du? Ich glaube, es bringt meine Gefühle durcheinander. Es wird immer schwerer, die Realität von der Fiktion zu unterscheiden.«
Angie runzelte die Stirn. »Es ist schwer, die Realität von einem uralten Stück über Hofleute und Prinzen und Totengräber zu unterscheiden?«
»Das ist Kunst«, sagte ich und erinnerte mich an Isaacs Worte. »Je besser sie ist, desto mehr kann man sich darin wiedererkennen.«
Sie schürzte die Lippen und nickte. »Das kapier ich schon. Aber er hat neulich Nacht etwas Gutes für dich getan, und ich dachte, vielleicht …«
Ich zuckte mit den Achseln und sah weg. »Vielleicht war es ein Fehler, es ihm zu erzählen. Ich weiß nicht, warum ich mir überhaupt Isaac ausgesucht habe. Wahrscheinlich der Alkohol.«
»Oder weil du dich bei ihm sicher fühlst«, sagte Angie. »Der Alk war nur die Schmiere, damit es rauskam. Es gibt einen Grund, warum du ihm geschrieben hast.«
Ich machte den Mund auf, um es zu leugnen, um zu sagen, dass ich ihn zufällig zuerst in meinen Kontakten gesehen hatte. Aber die Wahrheit war, dass ich selbst in total betrunkenem Zustand wusste, dass Isaac ein sicherer Ort auf der Welt war.
»Was ist mit später?«, fragte Angie, als ich nicht antwortete. »Wenn du achtzehn wirst und er ausgezogen ist, um sein Glück zu suchen. Wie Westley in Die Brautprinzessin .« Sie hielt inne und packte mich am Arm. »Oh Gott, du bist total wie Buttercup. Gibt es das als Theaterstück? Das musst du unbedingt spielen.«
»Konzentrier dich, Angie.« Ich seufzte. »Angesichts dessen, was mit X passiert ist, glaube ich nicht, dass zwischen mir und Isaac etwas passieren könnte. Körperlich, meine ich.«
Angie blieb stehen. »Merk dir den Gedanken. Ich muss dir was sagen.«
»Was?«
»Irgendwie hab ich, ähm, meiner Mom erzählt, was mit X passiert ist.«
»Willst du mich verarschen?«
»Wir haben einfach diese Art von Beziehung. Ich kann ihr nichts verheimlichen. Sie wollte wissen, ob es dir gut geht, und ich habe angefangen zu heulen.« Sie berührte mich vorsichtig an der Schulter. »Sie wird nichts sagen, das verspreche ich.«
»Muss sie das nicht? Ist sie nicht gesetzlich dazu verpflichtet?«
Angie schüttelte den Kopf, ihre schwarzen Locken hoben ab. »Sie arbeitet nicht für die Schule oder den Staat, und du bist nicht ihre Patientin. Sie muss gar nichts tun, das schwöre ich.« Sie drückte meine Hand. »Es tut mir wirklich leid. Ich wollte dein Vertrauen nicht enttäuschen. Ich konnte einfach nichts dagegen tun.«
Ich hatte gedacht, ich würde mich gedemütigt oder betrogen oder ängstlich fühlen, aber ich empfand beinahe Erleichterung. Als hätte ich einen Menschen mehr auf meiner Seite.
»Sie hat echt ein Pokerface«, sagte ich, als wir weitergingen. »Auf der ganzen Fahrt hierher hat sie mich behandelt, als wäre alles normal.«
»Das ist ihr Job«, sagte Angie. »Und du bist normal. X ist die herzlose Missgeburt.«
»Sie wird wollen, dass ich es jemandem sage, oder?«
»Sie wird dich nicht unter Druck setzen, aber ich kann nicht versprechen, dass sie nicht einen Haufen Fragen stellen wird.«
»Das ist genau dasselbe.«
Angie umarmte mich fest. »Meine Mom ist großartig. Und um ehrlich zu sein, wollte ich es ihr sagen. Ich hatte das Gefühl, du könntest einen Menschen mehr auf deiner Seite gebrauchen.«
Kurz starrte ich Angie an.
»Was?«
»Nichts.«
Im Food Court saß Bonnie an einem Vierertisch. Vor ihr standen eine Limo und ein Teller mit Pommes, neben ihr eine große Tüte aus dem Haushaltswarengeschäft. Sie blickte konzentriert auf ihr Telefon und kaute auf ihrer Unterlippe.
»Hey Mom«, sagte Angie und beugte sich vor, um ihr einen Kuss auf den Kopf zu geben. Sie warf einen Blick auf das Display. »Hätte ich mir denken können. Mom ist süchtig nach Online-Scrabble.«
»Die Pommes sind für alle«, sagte Bonnie abwesend, dann seufzte sie. »Hier.« Sie gab mir ihr Telefon. »Willst du ’s mal versuchen? Ich weiß nicht, was ich mit vier A und drei E machen soll.«
»Vielleicht das Geräusch, das jemand beim Gähnen macht«, sagte Angie, nahm sich eine Pommes und tauchte sie in Ketchup.
Mein Gehirn verweigerte die Zusammenarbeit, als es mir richtig klar wurde. Drei Menschen kannten jetzt mein Geheimnis. Ich hatte das Gefühl, als würden Bonnie, Isaac und Angie es wie eine heiße Kartoffel von einem zum anderen werfen. Sobald es runterfiel, würde es explodieren, Granatsplitter würden in alle Richtungen fliegen und alles kaputt machen.
»Mir fällt nichts ein«, sagte ich und gab ihr das Telefon zurück.
»Blödes Spiel«, sagte Bonnie leise lachend und warf das Telefon in ihre Handtasche. »Und, habt ihr was Schönes gefunden? Habt ihr Hunger?«
Angie warf mir einen Blick zu, dann sagte sie leise: »Sie weiß, dass du es weißt, Mom.«
Bonnies Miene verwandelte sich sofort in ihr, wie ich annahm, Therapeutinnengesicht. Einladend, freundlich und extrem ruhig. Ein Blick, der einem das Gefühl gab, dass sie alles unter Kontrolle hatte, selbst wenn das für einen selbst nicht galt.
»Ich hatte gehofft, mit dir darüber reden zu können, Willow«, sagte sie. »Aber vielleicht nicht im Food Court der Mall.« Sie warf ihrer Tochter einen Blick zu, dann war das Therapeutinnengesicht zurück. »Wir müssen nicht hier darüber reden.«
»Ich will überhaupt nicht darüber reden«, sagte ich.
»Das ist in Ordnung«, gab Bonnie zurück. »Darf ich nur eine Frage stellen? Seid du und deine Mutter euch nah? Wenigstens ein bisschen?«
»Sie kennen die Antwort schon«, sagte ich. »Sie ist keine Person, der man nah ist. Sie schottet sich mit Wein ab.«
»Verstehe.«
»Und alles, was ihr wichtig ist, sind Äußerlichkeiten. Unsere Kleidung, das Haus, in dem wir wohnen, die Autos, die wir fahren.«
Die Jungen, die wir mögen …
»Ob ich aufs richtige College gehe …«
»Hast du Pläne fürs College?«
»Das sind zwei Fragen«, sagte ich mit einem Lächeln. »Nicht mehr.«
Bonnie nickte. »Nur noch eine Frage, dann höre ich auf.«
»Mom«, sagte Angie lang gezogen.
»Hat das kleine schwarze X auf deinem Handgelenk mit dem Übergriff zu tun?«
Ich blickte nach unten auf die Tinte unterhalb meines linken Daumens.
»Ja.«
Einen Moment schwiegen wir alle.
»Okay, keine Fragen mehr, Mom«, sagte Angie. »Sonst hasst Willow mich, weil ich es dir gesagt habe.«
Bonnie lächelte, und die Therapeutin machte Supermom Platz. »Angie hat erzählt, dass du die Ophelia in der Hamlet -Inszenierung des HCT spielst. Das klingt aufregend. Macht es dir Spaß?«
»Ja«, sagte ich. »Ich mag es wirklich sehr.«
»Sie liebt es«, sagte Angie. »Das Stück, meine ich. Ich meine nur das Stück, nichts sonst. Ich meine, was sonst sollte ich meinen?«
Ich schlug ihr auf den Arm.
»Hast du jemals vorher Theater gespielt?«
»Nein, noch nie«, sagte ich. »Ich habe einfach gedacht, dass es helfen könnte.«
»Gefühle auf sichere Art ausdrücken?«
Ich nickte. »Ja, genau das.«
Angies Blick wanderte zwischen mir und meiner Mom hin und her. »Oooookay. Ich hol mir mal kurz ein Pizzastück. Willow, willst du auch?«
»Mit Peperoni, bitte, und eine Cola Light.«
»Mom?«
»Ich möchte nichts, danke, mein Schatz.«
Als Angie weg war und in der Schlange für die Pizza wartete, nahm Bonnie meine Hand.
»Es ist nicht wirklich der richtige Ort, aber ich denke, ich sollte dir sagen, dass es mir leidtut. Was dir passiert ist. Es war ein schreckliches Verbrechen, und es war nicht deine Schuld.«
Ich nickte. Ich drückte ihre Hand, um die Tränen zurückzuhalten. »Werden Sie mir sagen, dass ich es anzeigen soll?«
»Nein, das werde ich nicht«, sagte sie. »Ich denke, der Täter gehört ins Gefängnis, und in einer perfekten Welt könntest du einfach auf ein Polizeirevier fahren, deine Geschichte erzählen, und sie würden ihn genauso erbarmungslos befragen wie dich. Aber meiner Erfahrung mit Vergewaltigungsopfern nach ist das Erstatten einer Anzeige manchmal ebenso traumatisch wie die Tat selbst. Ich sage das nicht, um dich abzuhalten. Ich sage es, weil ich glaube, du wirst deine Geschichte erzählen, wenn du bereit dafür bist. Zu dem Zeitpunkt, der dir richtig erscheint, und so, wie es für dich am besten ist. Im Moment solltest du dich nur darauf konzentrieren. Okay? Auf das, was für dich am besten ist.«
Ich nickte, wagte nicht zu sprechen. Irgendwie hatte Bonnie mir die Erlaubnis gegeben, nicht jede Minute die Luft anzuhalten. Sondern einfach zu atmen.
»Und wenn du jemals wirklich reden willst, bin ich für dich da.« Sie drehte meine Hand um und rieb mit dem Daumen über die X. »Ich wäre wirklich froh, wenn die hier verschwänden.«
»Ich auch.«
Bonnie tätschelte meine Hand und ließ sie los. Sie gab mir eine Serviette, nahm sich eine Pommes und trank einen Schluck. Und plötzlich war ich wieder ein Mädchen, das mit der Mutter ihrer besten Freundin an einem Tisch saß.
»Was hab ich verpasst?«, fragte Angie, als sie ein Pizzastück und die Cola Light vor mich hinstellte. »Vergesst es einfach. Anwaltsgeheimnis.«
»Allerdings«, sagte Bonnie. »Also zurück zu diesem Stück, in dem du mitspielst. Im Januar habe ich König Ödipus gesehen. Isaac Pearce ist ein großes Talent.«
»Ja, ist er«, sagte ich und stupste wieder Angie an. »Halt den Mund.«
Angie riss die Augen auf, während sie an ihrer Pizza kaute. »Ich hab kein Wort gesagt.«
»Hat er dich neulich Morgen zu uns gebracht?« Bonnie wedelte mit den Händen. »Ich will nicht auf die Umstände zurückkommen. Das ist ein ganz normales Gespräch.«
»Ja, er war es«, sagte ich. »Ich habe es ihm erzählt. Und es war nicht schön, wie Sie gesehen haben. Wir sind uns irgendwie nähergekommen. Bei den Proben«, fügte ich rasch hinzu. Ich hatte Angie nichts von unserem Tanz am Aussichtspunkt erzählt. Diese Erinnerung behielt ich wie einen kleinen Schatz für mich.
»Und jetzt hast du Gefühle für ihn?«, fragte Bonnie und schnappte sich eine Peperoni von dem Pizzastück ihrer Tochter. »Das passiert, wenn man über persönliche Erfahrungen redet. Es ist fast unmöglich, sich jemandem nicht nahe zu fühlen.«
»Ich denke schon. Aber wir können nicht zusammen sein. Er wird Harmony bald verlassen. Zur Premiere von Hamlet werden Talentscouts kommen.«
»Oh. Dann habt ihr über eure Gefühle füreinander geredet?«
»Mom«, sagte Angie. Sie verdrehte die Augen und hörte abrupt damit auf. »Moment, die Antwort darauf wüsste ich auch gern.«
»Ja, wir haben darüber geredet.« Ich bemühte mich, das Lächeln und den Tonfall beiläufig zu halten. »Und es ist besser so. Professionell zu bleiben. Außerdem ist er älter und erfahrener – und ich … nicht.« Ich hielt mir die Hände vors Gesicht. »Gott, ich kann nicht glauben, dass ich jetzt auch darüber rede.«
Bonnie lächelte. »Reden ist manchmal wie einen Felsen einen Abhang hinunterzurollen. Zuerst scheint es unmöglich, ihn von der Stelle zu kriegen, aber sobald er sich einmal bewegt, wird es immer leichter.«
»Mehr gibt es darüber nicht zu sagen«, sagte ich. »Nur, dass es ätzend ist.«
Sie legte den Kopf schief. »Du magst diesen Jungen?«
Ich nickte, dann zuckte ich mit den Achseln. »Aber es ist nicht das Ende der Welt.«
»Vielleicht ist es am besten so«, sagte Angie. »Wenn er sowieso weggeht. Ich will nicht, dass du verletzt wirst.«
»Da sind wir schon zwei«, sagte ich und täuschte eine Leichtigkeit vor, die ich nicht empfand.
Weder Angie noch Bonnie fragten nach. Wahrscheinlich wurde ich langsam eine wirklich gute Schauspielerin.
Diese Nacht, auf dem Boden in die Decke gewickelt, las ich beim Licht meines Telefons mein Hamlet -Skript. Ich kämpfte mit den Liedchen am Ende von Akt vier, die Ophelia singt, nachdem sie wahnsinnig geworden ist.
»Ich weiß nicht wirklich, was ich damit machen soll«, hatte ich bei der Probe zu Martin gesagt.
»An der Wurzel jedes Wahnsinns liegt eine unerträgliche Wahrheit«, hatte er entgegnet. »Nur der Mensch, der den Wahn erleidet, kennt sie. Ophelias Lieder enthüllen diese Wahrheit. Denk drüber nach, was es sein könnte.«
Auf meinem Deckenlager dachte ich nach. War die Wurzel von Ophelias Wahnsinn die Trauer um ihren Vater? War es das Ende der Liebe zu Hamlet? War es beides?
»Um die Liebe ihres Vaters zu behalten«, murmelte ich, »gibt sie Hamlet auf. Dann verliert sie ihren Vater trotzdem. Nichts bleibt ihr. Und das ist unerträglich.«
Es war unerträglich, dass sie ihrem Herzen nicht gefolgt war.
Ich klappte das Skript zu und machte »Imagination« von Shawn Mendes an. Der Song, zu dem Isaac und ich auf dem Aussichtspunkt getanzt hatten.
Ich schloss die Augen und driftete zu dem wunderschönen Song in den Schlaf. Meine Decken wurden zu Isaacs Armen. Der harte Boden war seine Brust. Mein letzter Gedanke galt noch etwas anderem, das Martin gesagt hatte: Wenn du vor Ja oder Nein stehst, entscheide dich immer für Ja.
Entscheide dich für Ja , dachte ich und driftete in den Schlaf.
Isaac sah mich an, eine Frage in den Augen.
Ich lächelte.
Ja.