27. KAPITEL
Isaac
Sonntag aß ich mit Benny und Yolanda zu Mittag, dann ging ich zum Trailer, um nach Dad zu sehen und ihm ein bisschen Geld zu geben. Er war nicht da, und es sah schlimmer aus als sonst. Der Couchtisch verschwand komplett unter Flaschen, Dosen, ausgedrückten Zigaretten und Fast-Food-Behältern. Ich räumte kurz auf, wusch ein bisschen Geschirr ab und stellte es zum Trocknen in die Spüle. Dann ging ich zur Tankstelle am Ende des Grundstücks. Gott, sie sah so baufällig und schäbig aus. Ich spürte praktisch das Gewicht der unbezahlten Rechnungen und Lizenzgebühren, das sie in einen bodenlosen Abgrund drückte und meinen Vater gleich mit.
Paps saß in der Tankstelle hinter dem Schalter und rauchte eine Zigarette. Ich schob einen dünnen Umschlag unter dem Glas hindurch – der größere Teil meines Lohns aus der Werkstatt in Braxton. Paps’ Rauch wirbelte hinter der Scheibe.
»Nächste Woche kommt mehr«, sagte ich.
Er nickte, zog den Umschlag zu sich, rutschte vom Hocker und verschwand im Hinterzimmer.
Ende des Gesprächs.
Seit dem Vorfall mit der Bierflasche hatte er kaum ein Wort mit mir gewechselt. Und mir gefielen weder sein Schweigen noch sein Blick. Das bisschen Licht, das darin noch gewesen war, schwand. Oder ertrank.
Das passiert, wenn man arm ist , dachte ich plötzlich wütend, als ich zu meinem Pick-up zurückging.
Das ständige schwere Gewicht des Wollens und Brauchens war wie eine riesige Hand, die einen zu Boden drückte. Ich wusste, was die Leute in Harmony dachten: Würde mein Dad sich zusammenreißen, ginge es ihm besser. Er war der Boxer im Ring, und sie waren die Zuschauer, die seinen Kampf nicht kämpfen mussten. Sie saßen auf ihren Plätzen und schrien: »Steh wieder auf!« Als ob das einfach wäre, nachdem man so oft getreten worden war.
Ich muss hier weg , dachte ich wieder. Ich musste mich um meinen Vater kümmern. Er war mein Fleisch und Blut. Familie. Mehr war nicht wichtig.
Und Willow?
»Nein, heute nicht, danke«, murmelte ich und stieg in den Pick-up. Das Skript lag auf dem Beifahrersitz. Ich hatte vor, den Text im Heckenlabyrinth zu lernen. Allein. Einfach nüchtern den Text zu lernen und mich an die Worte zu halten. Professionell zu sein.
Aber als ich in die Windmühlenhütte in der Mitte des Heckenlabyrinths kam, war dort Willow. In Jeans und einer weiten Bauernbluse mit Blumen. Ihre Augen leuchteten überrascht auf, als sie »Hi« sagte.
Oh, mein Gott.
Ihr Lächeln war voller Erwartungen und Möglichkeit. Jede Nuance ihrer Gedanken war auf ihrem wunderschönen Gesicht zu sehen.
Lass es.
»Was machst du hier?«, fragte sie.
»Ich wollte Text lernen.«
»Ich auch.«
»Okay.«
»Okay, also …« Sie wickelte sich eine Haarsträhne um den Finger. »Ich war zuerst hier.«
»Du warst zuerst hier? Ich war mein ganzes Leben hier.«
Sie zuckte mit den Achseln und breitete die Arme aus, wie um zu sagen: »Was willst du dagegen machen?«
Sie war so verdammt süß. Sie war umwerfend schön, aber manchmal war sie einfach nur verdammt süß.
Ich schlug mir mit dem Skript gegen das Bein. »Wir könnten uns helfen. Da wir schon beide hier sind.«
»Könnten wir«, sagte sie. »Wir sind schließlich Profis, oder? Du zuerst. Womit hast du Schwierigkeiten?«
Das ist eine verfängliche Frage.
»Ich habe einen riesigen Monolog am Ende der vierten Szene im vierten Akt.«
Willow klappte ihr Skript auf und überflog die Seite. Die Kurve ihres Halses ging elegant in ihr Schlüsselbein über – und die Rundung ihrer Brüste unter dem T-Shirt …
Professionell. Wir sind professionell.
Sie sah auf. »›Wie jeder Anlass mich verklagt‹  …?«
»Genau der.«
»Von mir aus kann’s losgehen.«
Ich stand auf und fing mit dem Monolog an, ging vor dem Windmühlenhäuschen auf und ab. Nach einem ersten wackeligen Durchgang legte Willow den Kopf schief. »Worum geht es?«
»Hamlet grübelt über den Krieg nach und was Männer dazu bringt, ihr Leben zu riskieren. Wofür es sich lohnt zu sterben. Ehre. Er sagt, dass Claudius noch immer König ist, seine Mutter noch immer mit einem Mörder verheiratet, und er nichts getan hat.«
Willow las aus meinem Skript vor. »O von Stund an trachtet nach Blut, Gedanken, oder seid verachtet.«
Ich nickte. »Die Zeit zu reden ist vorbei. Jetzt muss er handeln und tun, was richtig ist, für die Ehre seiner Familie und seinen Namen.«
»Ja, das sollte er.«
Ich sah zu ihr und bemerkte, dass sie mich weich betrachtete. »Jetzt ich.«
Ich setzte mich auf die Bank, und sie legte mir ihr Skript auf den Schoß und zeigte auf die Stelle.
»All diese Liedchen am Ende der Wahnsinnsszene«, sagte sie. »Es ist so schwer, den Überblick zu behalten. Ich weiß, dass ich sie kann, aber dann fange ich an zu zweifeln.«
»Dazu fällt mir was ein«, sagte ich. »Geh zum Anfang des Labyrinths und sprich den Text im Gehen.«
Sie verzog das Gesicht. »Wie soll das helfen? Ich werde mich verlaufen und den Text durcheinanderbringen.«
»Du hast gerade gesagt, du kannst den Text. Dein Gehirn braucht etwas anderes, worum es sich Sorgen machen kann. Lass die Worte einfach kommen, während du dich darauf konzentrierst, durch das Labyrinth zu gehen.«
»Aber wie willst du mir die Stichworte geben?«, fragte sie. »Gertrude und Claudius haben ziemlich viel Text.«
Ich zuckte mit den Achseln. »Du rufst, und ich rufe zurück. Das ist auch eine gute Übung, um so laut zu sprechen, dass man es in der letzten Reihe hört.«
Sie ging wieder ins Labyrinth, ihr langes Haar wogte hinter ihr. »Bist du sicher, dass uns niemand hört?«, rief sie.
»Shakespeare-im-Park.«
»Sehr witzig.«
Der Nachmittag war still und ruhig, die Luft warm, aber noch nicht schwül von der Feuchtigkeit des Sommers.
»Kannst du mich hören?«, rief sie. Ihre Stimme war glockenhell.
»Jepp«, rief ich in ihre Richtung. »Fang an.«
Willow sagte ihren Text. Ich lächelte, als sie sich unterbrach und fluchte, als sie in eine Sackgasse gekommen war.
»Wie erkenn ich dein Treulieb
vor den andern nun? An dem  – Mist!«
Ich lachte leise. »Das war nicht richtig.«
»Verdammt«, murmelte sie.
»Wieder falsch«, rief ich und lachte lauter.
»Das ist nicht hilfreich«, schrie sie.
Shakespeare hallte über den Hecken hin und her, bis Willow schließlich wieder bei der Windmühle ankam. Die Sonne hinter ihr leuchtete in ihrem Haar wie Gold, und sie stemmte die Hände in die Hüften. Ihre Augen waren unglaublich blau, als sie mir einen Blick zuwarf.
»Nun, ich hoffe, du hast das lustig gefunden, denn …«
Sie verstummte, und die spielerische Stimmung zwischen uns verwandelte sich, wurde zu etwas Tieferem. Der Moment lag nackt und offensichtlich zwischen uns und wartete.
Die Zeit zu reden war vorbei.
Ich überwand die Entfernung zwischen uns mit drei großen Schritten, nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie. Sie keuchte überrascht, wich aber nicht zurück und versteifte sich nicht. Ich küsste sie so sanft ich irgend konnte. Machte es ihr leicht, sich loszumachen. Aber sie stöhnte leise, ein Laut, der mich mit Erleichterung und Ekstase erfüllte. Ihre Lippen öffneten sich, sie schmiegte sich an mich, und ihre Zunge wagte sich ein winziges bisschen in meinen Mund.
Es ist so wunderschön.
Sie schmeckte so süß, ihre Zunge war zart, als sie sich an meiner rieb. Ein Knurren erklang aus meiner Brust, als ich den Kuss intensivierte und meine Zunge ihren Mund erforschte. Ihr Körper wurde ganz nachgiebig an meinem, und ich hielt sie fester, küsste sie leidenschaftlicher. Sie reagierte auf jede Drehung meines Kopfes, jede Bewegung meines Mundes an ihrem. Willig. Begierig.
Meine Hände gruben sich in die weiche, seidige Dichte ihres Haares. Ich wickelte es mir um die Fäuste, achtsam, um nicht daran zu ziehen. Ihr Mund zog mich an und ließ mich los wie Ebbe und Flut. Wir bewegten uns zusammen vor und zurück, öffnend und schließend, nippten an unseren Lippen, erforschten uns mit den Zungen. Das Verlangen nach ihr wurde heißer, drängender. Schließlich bremste ich mich, küsste sie ein letztes Mal innig und löste mich dann von ihr.
Schwer atmend standen wir voreinander, sie hielt die Aufschläge meiner Jacke gepackt. Ich wollte ihr Haar nicht loslassen, aber ich strich mit den Händen über ihren Rücken nach unten und ließ sie auf ihrer schlanken Taille liegen. Noch einmal atmete ich tief ein und drückte die Stirn an ihre, dann trat ich einen Schritt zurück.
In ihren Augen standen Tränen.
»Mist, tut mir leid«, flüsterte ich. »War es zu viel?«
»Nein«, hauchte sie mit einem kleinen Lächeln. »Es war perfekt. Es war perfekt. Und ich hatte geglaubt, dass nie wieder etwas perfekt sein würde.«
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um mich wieder zu küssen, weich, langsam und tief. Sie nahm sich Zeit, genoss diesen Sieg über ihre Albträume. Und ich erwiderte den Kuss, schwelgte in der süßen Ekstase, ihren Mund auf meinem zu spüren. Auch wenn jeder Kuss und jede Berührung es uns am Ende so viel schwerer machen würden.
»Was tun wir nur?«, hauchte sie zwischen zwei Küssen. Sie fuhr mir mit den Fingern durchs Haar, und ich hatte im ganzen Leben noch nie etwas so verdammt Schönes empfunden.
»Ich weiß es nicht.« Mein Mund war auf ihrem Hals, küsste ihre Kehle hinunter. »Wir wollten eigentlich professionell sein.«
Sie zog meinen Mund an ihren und küsste mich wieder. »Isaac …«
»Gott, Willow …«
Wir küssten uns, bis die Erektion in meinen Jeans schmerzhaft wurde. Sie drückte sich an mich, fühlte sie und keuchte. Ich wich zurück.
»Tut mir leid … Er hat einen eigenen Willen.«
»Es braucht dir nicht leidzutun«, sagte sie. »Es ist okay. Wirklich.«
Ihr Gesicht war gerötet, ihre Lippen geschwollen von meinen Küssen, ihr Kinn rosa von meinen Bartstoppeln.
So sollte sie markiert werden , dachte ich. Durch Küsse, die sie will, nicht diese verfluchten schwarzen X.
Das Verlangen nach ihr verschränkte sich mit dem Bedürfnis, sie zu beschützen, und der Gedanke, aus Harmony wegzugehen, fühlte sich plötzlich an wie der Tod.
Ihre verträumte Miene stockte in diesem Moment, als könnte sie mir ansehen, was ich dachte. »Nein«, sagte sie und zog mich wieder an sich.
»Nein?«
»Du musst weggehen. Es ist dein Traum.« Sie legte mir die gespreizten Hände auf die Brust und strich über mein T-Shirt. »Aber ich muss ständig an etwas denken, das Martin ganz am Anfang der Proben gesagt hat. Er meinte, Hamlets und Ophelias Geschichte fängt an, bevor das Stück anfängt. Weißt du noch?«
»Sicher«, sagte ich.
»Ich weiß nicht, was danach passiert. Ich weiß, du musst aus Harmony weggehen, und ich werde dich nicht aufhalten. Ich würde nie versuchen, dich aufzuhalten. Vielleicht ist es also egoistisch von mir, dich jetzt zu wollen. Oder vielleicht … ist es einfach das, was in der Geschichte passiert.«
Sie legte mir die Arme um den Hals. Ihre Berührung war tapfer und ohne Scham, auch wenn ich spüren konnte, wie schnell ihr Herz schlug.
»Vielleicht haben wir diese Zeit«, sagte sie. »Bevor wir auf die Bühne gehen und spielen. Bevor du von einer großen Agentur entdeckt wirst, die dich von hier wegholt. Vielleicht können wir in der Zeit vor dem Stück leben. Wo die Geschichte anfängt.« Sie sah zu mir auf, ihre blauen Augen waren klar und strahlend und unbeirrt. »Die Liebe war zuerst da.«
Ich schob ihr eine Locke aus dem Gesicht. »Das war sie.«
Da lächelte Willow, und mir stockte der Atem. Noch nie hatte ein Mädchen mich so angesehen wie sie in diesem Moment. Als wäre ich wertvoll. Ich küsste sie wieder und wieder und wollte nichts, als sie zu umarmen und beschützen.
»Gott, Isaac«, hauchte sie, als wir uns zwangen, einander loszulassen. »Das ist Irrsinn.«
»Es ist das Leben«, sagte ich. »Es ist mit nichts zu vergleichen. Aber wie soll es funktionieren?« Meine Hände waren wieder in ihrem Haar, um mich davon abzuhalten, über die weichen Kurven ihres Körpers zu streichen. »Wenn uns jemand sieht …«
»Wir benutzen einen Code, falls mein Dad in meinem Handy herumschnüffelt.«
»Einen Code?«
»Ich notiere dich in meinen Kontakten als … Ham? Hammy? Nein, das ist zu offensichtlich.«
»Der Däne«, sagte ich. »Dane.«
»Dane.« Ihr Gesicht leuchtete auf. »Meine neue Freundin Dane. Sie spielt auch in dem Stück mit. Sie vergisst ständig, welche Szene wir gerade proben. Wenn wir uns, sagen wir, um drei Uhr dreißig treffen wollen, schreiben wir Akt drei, Szene drei.«
»Perfekt.«
Sie sah mich neckisch und ein bisschen ironisch an. »Und wenn wir uns etwas Nettes schreiben wollen – Mädchen mögen das, weißt du …«
»Ach wirklich?«
»In so einem Fall …« Sie biss sich auf die Lippen und dachte nach.
»Akt zwei, Szene zwei. A2, S2.« Ich zog sie an mich. »Weißt du?«
Ihre Lippen öffneten sich, und ihre Wangen färbten sich rosa. »Natürlich. Der Brief. Nur zweifle an meiner Liebe nicht
»Zweifle nicht, Willow.«
Ich küsste sie wieder. In diesem Moment schien es so leicht. So perfekt, dass ich fast vergaß, dass die Worte aus einer Tragödie stammten.