31. KAPITEL
Willow
Als ich am Montag in die Schule kam, war irgendetwas merkwürdig. Auf den Fluren schien es zu surren, Gruppen von Schülern standen zusammen und unterhielten sich lebhaft. Manche verstummten, sobald sie mich entdeckten, und die bis vor Kurzem als »Plastics« bekannten Mädchen starrten mich regelrecht an, als ich vorbeiging. Fast fürchtete ich, dass Isaac und ich aufgeflogen waren.
Nimm dich nicht so wichtig , dachte ich. Das ganze Gerede kann nicht nur wegen dir sein .
Aber warum starrten mich alle so an?
Als ich im Englischkurs ankam, drehte sich der ganze Raum zu mir um. Justin unterbrach sein Gespräch mit Jessica Royce, und beide sahen mich seltsam an. Justins Blick war gelassen und selbstzufrieden, Jessicas weicher, als würde sie sich schämen und es nicht gut verbergen können.
Ich sah Angie und setzte mich schnell an das Pult neben ihr.
»Was bitte ist los?«
»Ist dein Telefon an? Ich hab dir heute Morgen etwa tausend Nachrichten geschrieben.«
»Es ist in meiner Tasche«, sagte ich und holte es heraus. »Ich kann nicht schreiben und gleichzeitig Fahrrad fahren.«
Angie gestikulierte und schüttelte den Kopf. Sie ergriff meine Hand und zog mich näher. »Ich habe es erst heute Morgen erfahren. Alle haben das.«
»Was erfahren?« Kalte Angst lief mir den Rücken hinunter.
»Es gab gestern eine Explosion in der Wexx-Tankstelle von Isaacs Vater.«
Ich erstarrte. Tentakel aus Eis schlangen sich um meine Brust, und ich konnte kaum atmen.
»Wann?«
»Irgendwann am Nachmittag. Sie haben gesagt, das ganze Ding ist explodiert. Eine riesige Feuerkugel. Charles Pearce ist schwer verletzt. Hat am ganzen Körper Brandwunden. Sie haben gesagt –«
»Was ist mit Isaac?«, fragte ich und drückte ihre Hand so kräftig, dass sie eine Grimasse zog. »Er war am Sonntag da. Das ist der Tag, an dem er seinem Dad Geld bringt … Oh, mein Gott. Mir wird schlecht.«
Ich holte mein Telefon aus der Tasche und rief die Textnachrichten auf. Acht von Angie. Keine von Isaac.
»Oh Gott«, flüsterte ich.
»Jetzt warte mal«, sagte Angie und schluckte. »Niemand hat etwas von einer zweiten Person gesagt.«
Mein Kopf zeigte mir sofort das schlimmste Szenario.
Weil nichts von ihm übrig ist. Eine riesige Feuerkugel. Sie haben die Leiche nicht gefunden.
Mit zitternden Händen schrieb ich Isaac.
Hab’s grade gehört. Wo bist du? Geht’s dir gut?
Keine Antwort. Die Nachricht wurde als »gesendet«, aber nicht als »gelesen« markiert. Ich konnte nicht hier sitzen und warten.
»Welches Krankenhaus?«, fragte ich Angie und schnappte mir meine Tasche. Die anderen Schüler drehten sich auf ihren Stühlen um. »Wo haben sie Mr Pearce hingebracht?«
»In die Klinik nach Braxton.« Jetzt nahm auch Angie ihre Sachen. »Warte, ich fahre dich.«
Wir rannten aus dem Klassenraum, Mr Paulson rief uns nach. Was hieß, meine Eltern würden bald erfahren, dass ich die Schule geschwänzt hatte. Es war nicht wichtig. Nur Isaac war wichtig.
»Ruf im Krankenhaus an«, sagte Angie, als wir in ihren Toyota stiegen. »Frag sie, wie viele Patienten nach der Explosion der Tankstelle reingebracht wurden.« Sie sah mein blasses Gesicht und die zitternden Hände. »Oder lieber nicht. Versuch, nicht in Panik zu geraten, Süße, okay? Die Wahrscheinlichkeit, dass er da war, ist –«
»Ist wirklich groß«, beendete ich ihren Satz. »Die Wahrscheinlichkeit ist wirklich groß, Angie.«
Ich suchte die Nummer des Krankenhauses in Braxton. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, bis jemand ans Telefon ging. Dieser jemand sagte, bisher sei nur eine Person eingeliefert worden, und mehr dürften sie mir nicht sagen.
»Keine große Hilfe«, sagte ich und beendete den Anruf. »Es geht ihm vielleicht gut. Oder? Oder nicht.«
»Du musst aufhören, so zu denken«, sagte Angie, als sie die ruhige zweispurige Landstraße Richtung Braxton entlangfuhr. »Was ist mit deinem Regisseur? Isaac wohnt doch bei ihm, oder?«
»Verdammt, ja, Martin.« Die Panik machte mich dumm. Ich rief Martin an, den ich in meinen Kontakten hatte, aber er ging auch nicht ran. Ich hinterließ ihm eine Nachricht, in der ich ihn bat, mich anzurufen, und dann schickte ich ihm noch eine Nachricht.
Ist Isaac bei dir? Bitte sag Ja.
Ich hielt das Telefon fest und sah die Landschaft draußen vorbeifliegen. Mit dem Frühling waren auch Gras und Getreide zurückgekommen. Alles war neu und hell und grün, während ich innerlich vor Angst kalt und gefühllos wurde. Ich raste auf eine schreckliche unbekannte Zukunft zu. Eine mit Isaac oder ohne ihn.
Gerade als Angie auf den Parkplatz fuhr, kam eine Textnachricht von Martin.
Er ist bei mir. Wir sind im Krankenhaus in Braxton. Sein Vater hat schwere Verbrennungen.
Der Laut, der aus mir herausbrach, war zur Hälfte ein Schluchzen, zur Hälfte ein erleichterter Seufzer.
Isaac geht es gut?
Es geht ihm gut, meine Liebe.
»Es geht ihm gut«, sagte ich Angie mit Tränen in der Stimme. »Ich werde ihn umbringen, aber im Moment geht es ihm gut.«
Wir rannten hinein und wurden in den dritten Stock zur Verbrennungsstation geschickt. Der Wartebereich war weit von den Zimmern entfernt, um Infektionen zu vermeiden. Isaac saß auf einem Stuhl, die Ellbogen auf die Knie und den Kopf in die Hände gestützt, Brenda und Martin Ford saßen zu seinen Seiten.
Ich durchquerte den Warteraum und blieb vor ihm stehen, die Hände zu Fäusten geballt. Ich wollte ihn berühren und sichergehen, dass er real war, während mich Gefühle überwältigten, von denen ich nicht einmal wusste, dass ich sie hatte.
»Isaac.«
Er sah zu mir hoch, die Augen gerötet und glänzend. Er sah jetzt schon aus, als hätte er seit einer Woche nicht geschlafen.
Ich bin so wütend auf dich.
Ich bin so froh, dass du in Sicherheit bist.
Ich liebe dich so sehr.
Der letzte Gedanke kam aus einem tiefen Ort in meinem Herzen, und die Tränen liefen über. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Martin und Brenda aufstanden und sich leise mit Angie entfernten.
Ich ließ mich neben Isaac auf einen Stuhl fallen. »Ist er …?«
»Er hat Verbrennungen auf über zweiundachtzig Prozent seines Körpers«, sagte Isaac. »Sie sagen, es ist ein Wunder, wenn er die Nacht überlebt.«
»Es tut mir so leid«, flüsterte ich. »Was ist passiert?«
Isaac schüttelte den Kopf und blickte auf seine Hände. »Gestern hab ich ihm wie immer ein bisschen Geld vorbeigebracht. Ich habe ihm gesagt, dass er sich keine Sorgen machen soll, dass ich mich um alles kümmern würde. Ich bräuchte nur ein bisschen Zeit. Zwei Stunden später hat Martin einen Anruf von einem Freund bekommen, der bei der Feuerwehr arbeitet. Seitdem bin ich hier.«
Ich nickte, kämpfte gegen die Tränen und verlor. »Isaac, ich hatte Angst, als ich gehört habe, was passiert ist. Furchtbare Angst. Ich hatte nichts von dir gehört und dachte … Ich … ich will dir nicht sagen, was ich gedacht habe.«
Er hob elend den Kopf. »Es tut mir leid.«
»Nein, es ist okay …«
»Du hättest wenigstens eine Nachricht verdient«, sagte er dumpf.
»Es ist in Ordnung«, sagte ich, meine Stimme belegt vor Tränen. »Aber bitte, schließ mich nicht aus, okay?«
Er nickte, sagte aber kein Wort. Ich versuchte ihn so gut ich konnte zu trösten, aber jedes Mal, wenn ein Arzt in die Nähe des Schwesternzimmers kam, riss er den Kopf hoch und ließ ihn wieder sinken, wenn es keine Neuigkeiten gab.
»Paps war so niedergeschlagen«, sagte er und spielte mit seinem Feuerzeug. »Und jedes Mal, wenn ich ihn gesehen habe, war es schlimmer. Ich hätte wissen müssen, dass so etwas passieren würde. Ich hätte dort sein sollen.«
»Du musstest weg«, sagte ich. »Er hat dir wehgetan.«
Isaacs Schultern hoben und senkten sich. »Es war auszuhalten. Aber er hat es anscheinend nicht ausgehalten, allein zu sein. Oder alles ist auf ihn eingestürzt, und er hat am Ende aufgegeben.«
Ich setzte mich auf. »Was meinst du damit?«
Er sah mich jämmerlich an. »Vielleicht war es kein Unfall.« Er seufzte und beschäftigte sich wieder mit seinem Feuerzeug. »Angestellte von Wexx sind jetzt vor Ort. Wir haben sowieso schon bis zum Hals in Schulden gesteckt. Aber jetzt …«
Er schüttelte den Kopf.
Ich biss mir auf die Lippen, hatte keine Ahnung, was ich tun oder sagen sollte.
»Egal«, sagte er schroff und richtete sich auf. »Ich schaffe das. Egal, was wir schulden, ich kriege das hin.«
Aber trotz seiner Haltung schien etwas in ihm zusammenzusacken. Als laste das Gewicht der ganzen Welt auf seinen Schultern. Agenten würden kommen, um ihn zu sehen, aber das war keine Erfolgsgarantie. Als Schauspieler Geld zu verdienen war schwierig, selbst für so unglaubliche Talente wie ihn.
In diesem Moment war ich schrecklich wütend auf meinen Vater. Er hätte Isaac helfen und mit einer einzigen Unterschrift einfach die Schulden seines Vaters tilgen können, aber das würde er nicht einmal im Traum tun. Nicht einmal für mich. Vor allem nicht für mich. Weil Isaac nicht der Richtige für mich war.
»Willow?«, fragte Angie, als sie und die Fords wieder näher kamen. »Ich muss in die Schule zurück. Kommst du mit?«
Isaac hob den Kopf. »Geh, Babe. Hier gibt es nichts zu tun, außer zu warten.«
»Ich will bei dir bleiben …«
»Wenn dein Vater herausfindet, dass du geschwänzt hast, um bei mir zu sein, wird alles nur noch schlimmer.« Er schüttelte den Kopf. »Ich schaff das schon.«
»Wir bleiben bei ihm«, sagte Martin sanft.
»Okay.« Ich legte kurz das Kinn auf seine Schulter, dann gab ich ihm einen Kuss auf den Mundwinkel. »Wir sehen uns bald. Ruf mich an oder schreib, wenn es Neuigkeiten gibt.«
»Das mache ich.«
Ich ging mit Angie, mein Magen war total verkrampft.
»Er ist in Sicherheit, Süße«, sagte Angie, als wir auf den Fahrstuhl nach unten warteten. »Und in der Schule sagen wir … irgendwas. Meine Mom wird uns helfen.«
»Danke, Angie«, sagte ich. »Du hast recht. Er ist in Sicherheit. Das ist alles, was zählt.«
Der Fahrstuhl hielt im Erdgeschoss. Davor warteten zwei Männer in Anzügen mit Aktentaschen in der Hand. Sie traten zur Seite, als wir den Fahrstuhl verließen, und aus dem Augenwinkel sah ich eine winzige Krawattennadel glitzern. Ein orangefarbenes W mit Goldrand. Ich hatte es tausendmal bei meinem Vater gesehen. Auf seinen Visitenkarten, dem Bildschirmschoner, auf jedem Briefkopf, seit ich ein Kind gewesen war.
Plötzlich hatte ich überhaupt nicht mehr das Gefühl, dass Isaac in Sicherheit war.