33. KAPITEL
Willow
Ich rannte zum Fenster. Unten stiegen meine Eltern aus dem dunklen BMW meines Vaters.
»Verdammt, sie sind zurück. Warum sind sie zurück?«
Ich wirbelte herum. Isaac zog schon seine Jeans an. »Was ist der schnellste Weg nach draußen?«
»Gott, ich habe keine Ahnung«, sagte ich. Adrenalin rauschte durch meine Adern und hinderte mich am Denken.
Draußen hörte ich laute Stimmen. Mein Radiowecker zeigte 03:30 an, aber meine Eltern stritten, und die schrille Stimme meiner Mutter tönte über die ruhigen Straßen.
Isaac hatte jetzt seine Stiefel an. »Willow?«
»Warte«, sagte ich. »Sie kommen nie hier rein. Wir warten, bis sie ins Bett gehen, dann bringe ich dich zur Hintertür raus.«
»Bist du sicher?«
Ich nickte und öffnete meine Zimmertür einen Spalt, um zu lauschen. Das Sicherheitssystem piepte an der Haustür, und meine Eltern brachten ihren Streit herein. Mein Dad sprach gedämpft, meine Mutter so laut, wie sie konnte, beide Stimmen hallten durch das riesige Haus.
»Wann reicht es endlich?«, fragte Mom. »Wann? Wenn sie dich an den Nordpol versetzen?«
Isaac warf mir einen Blick zu. Ich zuckte mit den Achseln und schüttelte den Kopf.
»Ich habe eine wichtige Position in der Firma«, sagte Dad und klang müde und gestresst. »Es ist eine Notfallsituation, also muss ich hier sein.«
»Und dann? Kanada? Wirklich?«
»Hör zu, Regina, wenn du so gern in New York bleiben wolltest, hättest du bleiben sollen.«
»Was soll das bitte heißen?«
Ihre Stimmen wanderten zuerst in die Küche, dann ins Arbeitszimmer. Ich schloss die Tür.
Isaac fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Sie kommen nicht hier rein?«
»Bisher haben sie es noch nie getan.«
»Kanada?«
»Ich habe keine Ahnung, wovon sie reden.«
Schritte kamen die Treppe hinauf. Ich hörte, wie meine Mutter mit sich selbst redete. Wir hielten den Atem an, als sie an meinem Zimmer vorbeiging und die Tür des Schlafzimmers meiner Eltern zuknallte.
»Das heißt, dass mein Vater im Arbeitszimmer schläft«, flüsterte ich.
Wir warteten eine nervenaufreibende Dreiviertelstunde, um sicherzugehen, dass mein Dad schlief, dann schlich ich nach unten und sah nach, ob die Luft rein war. Die Tür des Arbeitszimmers war geschlossen. Das silbrig grüne Licht eines Fernsehers leuchtete in dem Spalt unter der Tür.
Ich schlich wieder hoch, nahm Isaacs Hand und führte ihn nach unten. Leise eilten wir durch das dunkle Haus und wagten kaum zu atmen. An der Tür, die von der Küche nach draußen führte, küsste ich ihn schnell.
»Ich liebe dich«, flüsterte ich und deaktivierte den Alarm.
»Ich liebe dich auch«, antwortete er leise. »Zweifle nicht.«
»Niemals.«
Er schlüpfte in die Dunkelheit hinaus, ein pechschwarzer Schatten, der durch den Garten huschte. Ich machte die Tür wieder zu, aktivierte das Sicherheitssystem und lehnte den Kopf gegen die kühle Glasscheibe. Erleichtert atmete ich aus.
»Was machst du da?«
Ein kleiner Schrei entfuhr mir, und ich wirbelte herum und sah meinen Vater in Unterhemd und langer Hose vor mir stehen. Er sah müde aus und hatte ein Glas mit einer gelben Flüssigkeit und zwei Eiswürfeln darin in der Hand. Seine abgespannte Miene wechselte von Verwirrung über Erkennen zu Wut, ein ganzes Spektrum.
»Was machst du da?«, fragte er wieder und sprach jedes Wort langsam aus. Er eilte zum Küchenfenster und sah hinaus. »Wer ist das? Wer war hier?«
»Niemand, Dad«, sagte ich. »Du und Mom habt geschrien, und ich bin aufgewacht. Ich bin runtergekommen, um nachzusehen …«
Meine Erklärungen zerfielen unter dem harten Blick meines Vaters.
»Er war das, oder? Der Junge vom Schrottplatz.«
»Nenn ihn nicht so. Und nein –«
»Warum hast du am Alarm rumgespielt?«
Bevor ich antworten konnte, packte mein Vater mich am Arm und zog mich vom Fenster weg. Ich keuchte unter seinem kräftigen Griff. Er hatte mich noch nie so hart angefasst.
»Dad, du tust mir weh.«
Er setzte mich auf die Couch im Wohnzimmer und blieb vor mir stehen.
»Es reicht«, sagte er, und sein Gesicht lief rot an. »Ich habe dir gesagt, dass du diesen Jungen nicht treffen sollst. Und jetzt war er hier? In meinem Haus? « Er reckte den Hals und schrie über die Schulter: »Regina, komm runter.« Dann drehte er sich wieder zu mir um. »Gib mir dein Handy.«
»Ich hab es nicht hier.«
»Dann hol es.«
»Nein«, sagte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. »Es war nichts. Du bist paranoid.«
Meine Mutter kam herunter und band einen seidenen Morgenrock um die Taille zu. Ihr Haar war noch steif von einer Hochfrisur, und ihr Gesicht knautschig vom Schlaf. »Was ist los?«
»Er war hier«, sagte Dad.
»Wer? Oh Gott, doch nicht dieser Junge?« Meine Mutter sah mich flehend an.
Ja , dachte ich. Dieser Junge. Der mir alles bedeutet.
»Ja, er war hier«, sagte ich schroff, obwohl mir das Herz bis zum Hals schlug. »Justin Baker. Justin Baker war hier. Ändert das die Sache? Ist jetzt alles okay? Super, dann gehe ich ins Bett.«
Ich wollte aufstehen, aber mein Dad hinderte mich daran. »Setz. Dich. Hin.«
Ich setzte mich wieder.
»Wirklich, Schatz?«, fragte Mom. »Justin? Er war wirklich nett …«
Da ging etwas in mir kaputt. Es war wie ein Dammbruch. All die Lügen und Geheimnisse flossen heraus, und Erschöpfung flutete mich. Ich hatte es satt, Isaac zu verstecken, mich für ihn zu schämen und mir ständig anzuhören, was meine Eltern von ihm hielten. Die Hoffnung in den Augen meiner Mutter, dass es Justin war. Der Blick meines Vaters, als er in Erwägung zog, den Falschen verdächtigt zu haben … Ich stürzte mich den Abgrund hinunter mitten in die Stromschnellen.
»Ihr seid solche Heuchler«, fuhr ich sie an. »Euch ist egal, ob ich unter eurem Dach mit einem Jungen Sex hatte. Es ist euch nur wichtig, ob es der richtige Junge war.«
»Willow.« Dad klang, als würde ihm gleich die Sicherung durchbrennen.
»Isaac ist nicht dieser Junge . Er ist der Junge . Der einzige. Er ist auf eine Weise gut zu mir, die ihr euch gar nicht vorstellen –«
»Ich will es mir nicht vorstellen«, rief Dad. »Er ist neunzehn. Du bist siebzehn. Er ist ein Erwachsener. Du ein Kind. Ich könnte ihn wegen Unzucht mit Minderjährigen anzeigen.«
Das Blut wich mir aus dem Gesicht, und mein Körper fühlte sich schwer und leblos an. Ich hatte das Gefühl, mich übergeben zu müssen.
»Nein«, sagte ich schwach. »Er hat nicht. Er hat nie …«
»Er hat hier übernachtet, während wir weg waren, hat sich um vier Uhr morgens aus deinem Zimmer geschlichen, und es soll nichts passiert sein?«
»Oh Gott, Willow.« Mit einem Stöhnen sank meine Mom auf den Sessel neben der Couch.
Mein Blick schoss zwischen beiden hin und her. »Was ist los mit euch beiden? Warum seid ihr so sauer?«
»Weißt du, warum wir unsere Reise unterbrechen mussten?«, fragte Dad. »Weil der Vater dieses Jungen dafür gesorgt hat, dass unser Unternehmen in die Nachrichten kommt. Und jetzt sind unsere Aktionäre auf die verkommenen Subjekte unter den Franchisenehmern von Wexx aufmerksam geworden. Es ist mein Job – überhaupt der einzige Grund, weshalb wir hier sind –, den Saustall aufzuräumen, den Leute wie Charles Pearce aus ihren Geschäften machen. Er hat unseren Namen und unser Logo mit Dreck beschmiert und dann auch noch angezündet. Und jetzt vögelt sein Sohn, ein Schulabbrecher, meine Tochter unter meinem Dach?«
»Daniel«, sagte meine Mutter mit bleichem Gesicht. »Warte bitte kurz …«
Dad drehte sich zu ihr um. »Nein, ich warte nicht. Dir ist das also egal? Was hast du jeden Tag gemacht, wenn sie bei der Probe war? Du hast zugelassen, dass das passiert.«
»Nein, Dad, du musst mir glauben!«, rief ich. »Er ist gut zu mir. Er ist –«
»Halt den Mund!«
Ich zitterte. Ich hatte ihn noch nie so wütend gesehen. Die Adern in seinem Hals pochten.
»Du hast dich mit ihm getroffen. Die ganze Zeit. Du hast einen Narren aus mir gemacht. Mir die ganze Zeit ins Gesicht gelogen.«
Blaues und rotes Licht erhellte die Fenster auf der Vorderseite. Meine Mutter riss die Augen auf, dann legte sie den Kopf in die Hände. »Gott, die Polizei. Was sollen die Nachbarn denken?«
Mir wurde eiskalt. Die Polizei. Isaac würde verhaftet werden. Es würde keine Premiere von Hamlet stattfinden. Keine Agenten würden ihn sehen und ihm eine Chance auf ein besseres Leben geben.
»Gut«, sagte mein Vater. »Wir werden ihnen erzählen, was passiert ist. Oder vielleicht haben sie ihn schon erwischt.«
»Es gibt nichts zu erzählen«, sagte ich. »Er hat in meinem Bett geschlafen, das ist alles. Wir haben nur geschlafen.«
»Lüg mich nicht an«, sagte mein Vater. »Oder soll die Polizei in deinem Zimmer nach Beweisen suchen, dass er dich unter meinem Dach geschändet hat?«
Als Dad zur Tür ging, zitterte ich am ganzen Leib. Meine Mutter saß steif und blass wie eine Statue da. Nur ihre Finger trommelten auf die Armlehne. Tränen stiegen mir in die Augen. »Mom …?«, fragte ich.
»Du musst das verstehen«, sagte sie. »Er steht extrem unter Druck.«
»Er verhält sich wie ein Irrer.«
»Es ist nicht seine Schuld. Du weißt, wie er ist, wenn er glaubt, dass man ihn herumschubst. Wir haben gerade erfahren …« Sie drückte die Finger gegen die Lippen.
»Was, Mom?« Ich schluckte schwer. »Was habt ihr erfahren?«
Mein Dad stürmte mit zwei Polizisten ins Wohnzimmer zurück. Einer war groß, einer etwas kleiner, aber beide einschüchternd und in Uniform. Der größere hatte Murphy auf seinem Namensschild stehen, der kleine hieß Underwood. Beide trugen auf einer Seite der Hüfte eine Pistole, auf der anderen einen Schlagstock. Ihre Blicke wanderten an mir rauf und runter, registrierten meine kurzen Shorts und das Schlaf-Shirt ohne BH. Zwei Männer, die mich mit ihrer massigen Gegenwart und ihren Blicken auf die Couch drückten.
Mein Dad verschränkte die Arme. »Mrs Chambers von nebenan hat einen jungen Mann aus der Hintertür kommen sehen. Sie hat die Polizei gerufen, weil sie dachte, dass bei uns eingebrochen wurde.«
Ich nahm meinen Mut zusammen. »Und warum hat sie mitten in der Nacht unser Haus beobachtet?«
»Sie hat Ihre Eltern streiten gehört, junge Dame«, sagte Murphy. »Würden Sie uns bitte erzählen, was heute Nacht hier passiert ist?«
»Und es sollte die Wahrheit sein.«
»Nichts ist passiert«, sagte ich. »Wir haben geschlafen. Das ist die Wahrheit. Warum ist das so schwer zu glauben, Dad?«
»Weil er –«
»Weil er arm ist?«, rief ich, und Tränen liefen mir über die Wangen. »Weil sein Vater Alkoholiker ist? Was, wenn er reich wäre? Auf eine Privatschule gegangen wäre? Was, wenn sein Vater der Chef eines milliardenschweren Unternehmens wäre? Würdest du mir dann glauben?«
Meine Mutter wurde blass und starrte mich an.
Der Gesichtsausdruck meines Vaters wankte, Verwirrung stand ihm in den Augen. »Es geht hier nicht um lächerliche Behauptungen«, sagte er. »Es geht darum, was heute passiert ist.«
»Nichts ist heute passiert« , sagte ich.
Es ist letzten Sommer passiert .
Geh zur Polizei , hatte Angie gesagt.
Jetzt war die Polizei hier. Stand breitbeinig und imponierend, distanziert und gelangweilt im Wohnzimmer und kümmerte sich um vier Uhr morgens um ein Familiendrama. Ich empfand sie nicht als bösartig, sie vermittelten aber auch kein Mitgefühl. Keine Verbindung. Kein Gefühl von Sicherheit. Sie erfüllten das Zimmer mit männlicher Gleichgültigkeit gegenüber der Welt eines siebzehnjährigen Mädchens. Wie würden sie reagieren, wenn ich meinen Eltern die Wahrheit über Xavier sagte?
Plötzlich sah ich es aus ihrer Perspektive. Ein ängstliches junges Mädchen, das mit ihrem Freund im Haus erwischt worden war und jetzt allen erzählte, dass sich das wahre Verbrechen vor fast einem Jahr ereignet hatte. Es war ein anderer Typ gewesen, in einer anderen Stadt, einem anderen Haus und ohne Beweise. Es würde wie die schlimmste, geradezu lächerliche Ablenkung aussehen.
Und es würde Xavier nicht wehtun, wenn ich die Wahrheit sagte. Es würde nur mein Leben zerstören. Die Ermittlung würde in meine Privatsphäre eindringen, ich würde endlose Befragungen über mich ergehen lassen müssen, um etwas zu beweisen, das nicht zu beweisen war. Fragen über Fragen mit Ich kann mich nicht erinnern beantworten.
Ich sah zu meinem Vater auf.
»Es ist nichts passiert«, flüsterte ich. »Ich sage es immer wieder, und du hörst mich nicht. Ich sage es mit meiner Stimme, und es ist wahr, und du hörst mich nicht
Mein Vater seufzte und wandte sich an die Beamten. »Können Sie ihn nicht einfach verhaften oder zur Befragung holen? Er hat sie in meinem Haus missbraucht –«
»Hör auf, das zu sagen!« , schrie ich. »Er hat mir nicht wehgetan. Nie.«
Underwood hielt eine Hand hoch und sagte mit harter Stimme: »Sie müssen sich beruhigen.«
»Es ist eigentlich kein Missbrauch, Sir«, sagte Murphy.
»Aber er ist neunzehn. Sie ist erst siebzehn.«
Ich starrte diese Männer an, die über mich redeten, als wäre ich nicht hier. Ich war hier. Aber ich war es auch nicht. Halb träumte ich, halb war ich wach. Ich wurde verrückt, weil alles so einleuchtend war.
»Das Schutzalter ist ab sechzehn«, sagte Murphy. »Aber wenn Sie wollen, dass wir ihn auf die Wache holen, damit er ein paar Fragen beantwortet, können wir das tun. Es wird noch ermittelt, was mit der Tankstelle passiert ist, und sein Name ist nicht zum ersten Mal aufgefallen.«
Ich konnte weder reden noch atmen, als ich ein anderes Szenario vor meinen Augen sah. Isaac wurde verhaftet und befragt. In Handschellen auf die Wache gebracht. Sexuelle Nötigung würde zu den vielen anderen Verbrechen, die er nicht begangen hatte, dazukommen. Der letzte Akt in der Tragödie seines Lebens. Einer Tragödie, die er nie gewollt hatte.
»Nein«, sagte ich und stand auf. Oder versuchte es. Meine Knie gaben nach, und ich sank vor Dad auf den Boden. »Das darfst du nicht tun. Bitte hör mir zu. Ich … ich werde ihn nicht mehr treffen. Ich verspreche es. Er wird die Stadt verlassen. Talentscouts kommen, um ihn in Hamlet zu sehen. Er geht weg aus Harmony. Bitte, Dad. Er braucht dieses Theaterstück. Nimm ihm das nicht weg. Ich verspreche, dass ich mich nicht mehr mit ihm treffe.«
Die Polizisten tauschten Blicke. »Sir?«
»Dad. Ich bitte dich.«
Stille senkte sich über den Raum. Der Kiefer meines Vaters mahlte, als er nachdachte.
»Ich danke Ihnen, Officers«, sagte er schließlich und sah mich ernst an. »Ich denke, wir haben alles unter Kontrolle. Trotzdem möchte ich mir das Recht vorbehalten, meine Meinung zu ändern und ihn befragen zu lassen. Wenn ich herausfinde, dass doch etwas Schlimmeres passiert ist, als meine Tochter behauptet. Regina?«
Meine Mutter löste sich aus ihrer Teilnahmslosigkeit. Sie erhob sich und zog den Gürtel ihres Morgenrocks fest. Wie die Gastgeberin der schlimmsten Party der Welt führte sie die Polizisten ins Foyer. »Danke, dass Sie gekommen sind.«
Ich saß auf dem Boden vor meinem Vater, das Haar hing mir ins Gesicht, die Tränen trockneten auf meinen Wangen.
»Er geht weg?«
»Ja«, flüsterte ich.
»Obwohl sein Vater im Krankenhaus liegt?«
»Weil er im Krankenhaus liegt«, sagte ich an den Teppich gerichtet. »Isaac muss Geld verdienen, um seinem Vater zu helfen. Jetzt noch mehr als vorher.«
»Als Schauspieler? « Mein Dad spuckte das Wort aus, als wäre es Dreck in seinem Mund. »Er und zehn Millionen andere? Ist das so einfach?«
»Du könntest ihm helfen«, sagte ich und hob den Kopf.
»Warum sollte ich das tun?«
»Für mich.«
»Nachdem er und du wer weiß wie lange meine Autorität missachtet habt? Gib mir einen Grund, warum ich das tun sollte.«
Ich nannte ihm den schlimmstmöglichen Grund. Das eine, von dem ich glaubte, es würde das Herz meines Vaters erweichen und Isaac und mich retten. Stattdessen ruinierte ich alles mit drei Worten:
»Ich liebe ihn.«
Meine Mutter war zurück im Wohnzimmer. Sie erstarrte bei meinen Worten, dann hielt sie sich an der Rückenlehne eines Sessels fest. Sie schloss die Augen, und die Zähne machten klick, als ihr der Mund zuklappte.
Mein Vater begriff langsam, und die Farbe wich ihm aus dem Gesicht. Das war nicht mehr nur Sex. Keine beiläufige Liebelei mit dem Bad Boy der Stadt. Keine unbedachte Affäre, die nach ein paar Monaten enden würde. Es war Liebe. Die Zukunft. Isaac würde ständig in meinem Leben präsent sein, und Dad würde jemanden tolerieren müssen, den er des Namens Holloway für unwürdig befand.
»Nein, tust du nicht«, sagte er und betonte jedes Wort. »Ich habe die letzten neun Monate zugesehen, wie du dein Leben wegwirfst. Wie du deine Chancen wegwirfst, auf ein ordentliches College zu gehen, obwohl du auf dem Weg zu einer der besten Unis warst. Ich werde nicht untätig danebenstehen, wenn du den Rest deiner Zukunft mit diesem Abschaum ruinierst.«
»Dad, hör auf! «, rief ich. Das Herz zerbrach mir in der Brust.
»Dieser Unsinn endet hier. Du wirst ihn nicht wiedersehen. Nie wieder.« Er atmete geräuschvoll aus, fuhr sich zufrieden durch sein schütter werdendes Haar. »Vorhin war ich niedergeschlagen, Regina, aber jetzt bin ich froh über die Versetzung. Angesichts der Umstände ist es genau das, was wir brauchen.«
»Welche Versetzung?«, fragte ich.
»Wir ziehen um. Mr Wilkinson möchte, dass ich unser Unternehmen in Kanada leite. Anfang Juni ziehen wir nach Edmonton.«
Ich schnaubte. Dann brach ein Lachen aus mir hervor. »Kanada?« Ich lachte wieder. »Nein.«
»Doch.«
Mein Lachen verwandelte sich in neue Schluchzer. »Nein. Wir ziehen nicht schon wieder um. Ich kann nicht …«
»Du kannst – und du wirst.«
»Ich werde nicht«, sagte ich und stand taumelnd auf. »Ich bleibe hier. Ich kann bei Angie wohnen, bis ich achtzehn werde. Ich geh nicht von hier weg.«
»Doch, du gehst. Und du wirst Isaac nicht mehr sehen.«
»Das kannst du nicht machen. Du kannst mich nicht aufhalten. Wenn ich achtzehn bin –«
Dad packte mich an den Schultern. »Ich bin verdammt noch mal dein Vater und habe das letzte Wort. Du bist fertig mit ihm. Wenn ich mitbekomme, dass du ihm auch nur eine einzige Nachricht schreibst, lasse ich ihn wegen Unzucht mit Minderjährigen verhaften und sorge dafür, dass die ganze Welt es erfährt. In Hollywood ist man heutzutage nicht sehr tolerant gegenüber Sexualstraftätern. Was auch immer er für Karrierechancen hat, das ist damit erledigt. Ich werde jedes Mittel nutzen, das mir zur Verfügung steht, jeden Pressekontakt, jede Strippe, die ich ziehen kann …«
… schütte ihnen Gift in die Ohren …
»Wenn ich mit ihm fertig bin, kriegt er nicht mal mehr bei McDonald’s in Los Angeles einen Job, geschweige denn beim Film.«
»Warum?«, fragte ich heiser flüsternd. »Warum solltest du ihm oder mir so etwas antun?«
Zu meinem Erschrecken füllten die Augen meines Vaters sich mit Tränen, und sein Griff um meine Schultern wurde weicher. »Weil ich dich liebe«, sagte er.
Ich schüttelte den Kopf. »Tust du nicht …«
»Willow, hör zu. Ich kenne solche Typen, ich habe das schon oft gesehen. Alkoholismus ist erblich. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Isaac scheitert, und du würdest mit ihm scheitern.« Er schnaubte, und seine Stimme wurde hart. »Und ich will verdammt sein, wenn ich danebenstehe und das zulasse. Es ist zu deinem Besten. Ich habe Erfahrung. Ich sehe das ganze Bild. Du nicht, weil du eine Siebzehnjährige bist, die glaubt, verliebt zu sein.«
Er ließ mich los und tat alles ab, was ich fühlte oder wollte, als würde er eine Kerze ausblasen.
»Was ist mit dem Stück?«, brachte ich heraus. »Ich wollte … eine Aufführung.«
Er schüttelte den Kopf. »Nicht, wenn er mitspielt.«
»Nur eine Aufführung«, sagte ich. »Bitte. Dann … geht er weg, und das ist das Ende. Und wir ziehen um.« Ein Schluchzer entfuhr mir. »Dad, ich verspreche, ich werde mich bessern.«
Mom meldete sich endlich, ihre Stimme war ein dünner Faden. »Dan, lass sie eine Aufführung haben. Sie hat so hart gearbeitet. Monatelang.«
Der Kiefer meines Vaters mahlte wieder. Die Wut verließ ihn endlich, die Heftigkeit der Nacht machte Erschöpfung Platz. Und vielleicht Mitleid.
»Die Premiere«, sagte mein Vater. »Du bekommst die Premiere und nicht mehr. Morgen und übermorgen kommst du direkt nach der Schule nach Hause. Du gehst nirgendwo anders hin.«
»Okay.«
»Freitag bringen wir dich ins Theater und danach nach Hause. Das war’s. Du wirst Isaac Pearce nach Freitag nicht wiedersehen. Oder es kommt genauso, wie ich gesagt habe.«
Ich nickte, spürte, wie etwas in mir schwarz wurde und sich zusammenrollte, etwas, worauf meine Großmutter stolz gewesen wäre.
Ich klammerte mich an den Docht, aber es war kaum etwas übrig.