34. KAPITEL
Isaac
Drei Tage lang antwortete Willow nicht auf meine Nachrichten. Als ich sie anrief, klingelte es ewig. Donnerstagmorgen ging ich im Wohnzimmer der Fords auf und ab und überlegte, auf dem Weg ins Krankenhaus an der Schule vorbeizufahren. Marty riet mir davon ab.
»Wenn du glaubst, ihr Vater ist der Grund für die Funkstille, dann komm besser nicht mal in die Nähe der Schule.«
»Was soll ich machen?«, fragte ich. »Ich muss wissen, ob es ihr gut geht. Wenn ihr Dad herausgefunden hat, dass wir uns sehen, muss sie den Ärger ganz allein aushalten.«
»Warte ab«, sagte Marty. »Hab einfach Vertrauen.«
Ich hatte kein Vertrauen. Und keine Geduld. Nur ein entsetzliches Gefühl, dass Willow etwas Schreckliches passiert war. Es nagte an mir bis Freitagabend – dem Abend der Premiere –, als Willow im Theater erschien. Von der anderen Seite des Raums sah ich, wie sie ein paar Worte mit Marty sprach. Die Anspannung fiel vor Erleichterung von mir ab, und einen Moment lang war alles in Ordnung.
Dann verschwand das strahlende Lächeln aus Martys Gesicht. Willow ging mit gesenktem Kopf, blass und mit ausdruckslosem Gesicht in Richtung Frauengarderobe.
Ich rannte zu Marty. »Was ist los?«
»Sie spielt nur eine Vorstellung«, sagte er. »Heute.«
»Was? Warum?«
»Sie will es nicht sagen.«
Ich ballte die Hände zu Fäusten. »Es sind ihre verdammten Eltern. Ihr Dad muss herausgefunden haben, dass ich da war. Scheiße.«
Marty sah mich bohrend an. »Herausgefunden haben, dass du wo warst?«
»Ich bin neulich Nacht zu Willow gefahren. Sie sollten eigentlich nicht in der Stadt sein –«
»Mein Gott, Isaac.«
»Es ist nichts passiert«, sagte ich. »Wir haben zusammen geschlafen … wirklich geschlafen, meine ich. Echter Schlaf zum ersten Mal seit Monaten. Das war alles.«
Marty rieb sich das Kinn. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Vielleicht solltest du ihr heute Abend nicht zu nahe kommen. Gib ihr etwas Raum.«
»Damit die Vorstellung reibungslos verläuft?«, schimpfte ich. Sofort hob ich die Hände. »Sorry. Tut mir leid. Ich mach mir einfach solche Sorgen.«
»Das weiß ich doch. Es ist gerade viel los, aber du musst dich konzentrieren. Der Casting-Agent aus Los Angeles hat heute früh bestätigt, dass er kommt. Gib dein Bestes. Für dich. Und auch für Willow, da es ihre einzige Vorstellung ist.«
Ich ging wie in Trance in die Garderobe. Mir war völlig egal, ob dieser Casting-Agent kam oder ob ich gut spielte.
Gott, ich bin so ein Arschloch.
Ich hatte gewusst, dass ich nicht zu ihr hatte fahren sollen. Aber ich hatte sie gebraucht. Ich war so verdammt fertig gewesen, hatte keine Lust mehr gehabt, allen zu sagen, dass es mir gut ging. Es war mir nicht gut gegangen, also hatte ich etwas verdammt Dummes gemacht und war hingefahren.
Ich hatte alles kaputt gemacht.
Willow blieb während der Stimm- und Atemübungen in der Garderobe. Ich nahm Lorraine beiseite und fragte, ob es ihr gut ging.
»Sie sieht blass aus und so zart«, sagte Lorraine mit einem königlichen Tonfall. »Ich muss glauben, dass sie sich in die Rolle einfindet. Sie ist ruhig, aber unbeständig.« Sie legte sich eine Hand aufs Herz. »Ich denke, die heutige Vorstellung wird unglaublich werden.«
Nichts davon gab mir ein besseres Gefühl. Ich hatte keine Zeit mehr. Die Räder der Premiere waren in Gang gesetzt. Aufwärmübungen, ein paar letzte aufmunternde Worte von Marty, der letzte Soundcheck, das Publikum, das auf der anderen Seite des Vorhangs den Saal füllte. Und kein Zeichen von Willow.
Ich zwang mich, mich auf meinen Text zu konzentrieren. Hunderte und Aberhunderte Worte, die ich heute sagen würde. Worte, die mir Zuflucht geboten hatten. Die mir eine Stimme gegeben hatten.
Aber die einzigen Worte, die ich sagen wollte, waren Es tut mir leid .
Oder Ich liebe dich .
Ich sah Willow erst, als sie im ersten Akt zusammen mit Justin, ihrem Bruder, auf die Bühne kam. Laertes warnte Ophelia, sich von Hamlet fernzuhalten, ihn zu fürchten. Hamlet könne ihr nicht die Zukunft bieten, die er ihr versprochen habe. Er sei durch seine Geburt gefesselt, unfähig, sein eigenes Schicksal zu wählen. Was auch immer er sage, man könne es nicht glauben.
Dann kam Polonius, Ophelias Vater, auf die Bühne und ließ sich seinerseits aus. Erklärte, dass sie seelisch zu labil sei, um ihren eigenen Selbstwert zu kennen. Unfähig, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen.
dass Ihr Euch selber nicht so klar versteht …
Pah, Zuneigung! Ihr sprecht, wie junges Blut …
… Ihr seid ein dummes Ding …
Und diese Gespräche zeigten sich auf Ophelias Gesicht. Alles war in ihren wunderschönen Zügen zu sehen. Das Publikum war hingerissen. Sie welkte unter dem Druck ihres Bruders und ihres Vaters. Ihre Liebe zu Hamlet zerbröckelte unter dem Gewicht von deren Erwartungen. Willow erzählte die Geschichte von neulich Nacht, die Geschichte ihres Lebens, als hätte Shakespeare sie für sie geschrieben. Es brach mir das Herz.
Ich nahm diesen Schmerz mit auf die Bühne für die Szene, in der der Geist von Hamlets Vater seine Geschichte erzählt. Betrug und Mord. Gift, das sein Bruder ihm ins Ohr geträufelt hatte.
Sobald ich von der Bühne kam, ging ich Willow suchen. Ich fand sie hinter den seitlichen Kulissen, wo sie auf einem umgedrehten Eimer saß, die Hände im Schoß gefaltet. Sie keuchte erschrocken, als ich ihren Arm nahm, und riss sich sofort los. »Nein. Ich kann nicht mit dir reden, Isaac.«
»Psst.« Ich zog sie in eine dunkle Ecke, schwach von einem Notausgangschild beleuchtet.
»Ich kann nicht mit dir reden«, sagte sie wieder und hob die Stimme.
»Willow …«
»Ich kann nicht.« Ihr Blick fuhr in der Dunkelheit umher. Noch nie hatte ich sie so zerbrechlich und nervös gesehen. Der leiseste Windstoß würde sie davonwehen.
»Du kannst. Erzähl mir, was passiert ist.«
Sie schüttelte den Kopf, ihre Augen waren geweitet. »Ich kann nicht. Ich habe es versprochen.«
»Wem? Deinem Dad?« Sanft nahm ich ihre Schultern. »Er sagt, dass du nicht mit mir reden sollst. Warum? Wofür?«
Ihr Mund ging auf und wieder zu. Sie sah fast panisch aus, als sie sich von mir losriss. »Ich muss gehen. Ich verpasse meinen Auftritt.«
»Scheiß auf das Stück«, sagte ich. »Rede mit mir.«
»Sag das nicht«, sagte sie. »Da sind Talentscouts im Publikum. Es ist dein Abend, du wirst –«
»Geht es um die Schulden meines Vaters?«, fragte ich. »Wenn es das ist, dann denk nicht länger dran. Ich werde mich darum kümmern.«
»Nein, du verstehst nicht«, sagte sie und schüttelte elend den Kopf. »Es geht um so viel mehr als nur Geld.«
»Dann sag es mir.«
»Er wird dich zerstören …«
»Scheiß auf ihn«, sagte ich. »Ich hab keine Angst vor ihm!«
»Solltest du aber.«
»Warum?«
»Weil du keine Ahnung hast, was dich erwartet.« Sie war jetzt ruhiger, stoisch und resigniert, was schlimmer war als die panische Angst von eben. »Ich habe selbst erlebt, was Leute tun, wenn sie glauben, das Recht dazu zu haben.«
Ich fuhr mir mit der Hand durchs Haar. »Du glaubst nicht, dass ich es schaffe? Ist es das?«
»Du kannst nichts tun«, sagte sie, und ihre Stimme war nur noch ein Flüstern. »Und wir gehen weg.«
»Weg.«
»Er ist nach Kanada versetzt worden. Wir verlassen Harmony in vier Wochen.«
Die Worte trafen mich mitten in die Brust. Sie durfte nicht nach Kanada gehen. Sie fand gerade erst ihren Weg aus der Kälte. Sie brauchte Harmony, um gesund zu werden.
»Das darf er nicht«, sagte ich, und die Wut brannte in meiner Kehle.
»Er darf. Ich bin noch nicht achtzehn, und selbst wenn –«
»Du wirst in zwei Monaten achtzehn.«
Sie schüttelte den Kopf. »Es ist ihm egal.«
»Was willst du damit sagen? Es … es ist vorbei? Für immer?«
In der Dunkelheit leuchteten ihre Augen weich und groß. »Ich hoffe nicht. Aber …«
»Aber was? Wir warten? Monate? Wochen? Wie lange? Verdammt, Willow …« Ich packte ihre Hand, und sie verzog das Gesicht. »Bleib. Bleib bei mir. Oder bei Marty. Er nimmt dich auf.«
»Nein, Isaac. Du musst auch gehen. Das heute ist deine Chance auf Erfolg.« Sie kämpfte, um ihre Hand zu befreien. »Du tust mir weh«, flüsterte sie.
Sofort ließ ich sie los. Der Schmerz traf mich überall gleichzeitig. Sie gab auf. Entschied sich für ihn anstatt für mich.
Ich verlor sie.
»Ich muss gehen?«, fragte ich. »Wofür? Um mich zu beweisen? Was ist nötig, Willow? Wie viel Geld muss ich verdienen, bis ich nicht mehr nach Schrottplatz stinke? Wie viel ist gut genug für deinen Vater? Gut genug für dich?«
»Du weißt, dass das nicht stimmt«, sagte sie. »Du warst immer mehr als gut genug für mich.«
»Warum kämpfst du dann nicht?«, presste ich durch die Zähne hervor. »Du gibst auf. Du lässt ihn gewinnen.«
»Er hat schon gewonnen. Wenn ich …«
»Wenn du was?« Ich nahm wieder ihre Hand und versuchte, die Antworten, die sie mir nicht gab, aus ihr herauszuquetschen. »Was will er?«
»Isaac, hör auf.«
»Sag es mir, Willow. Sag es mir jetzt. Wogegen hast du mich eingetauscht?«
»Ich muss gehen.«
Ich zog sie an mich, atmete sie ein, spürte ihren Körper ein letztes Mal. »Ich hätte alles für dich getan.«
»Ich weiß«, sagte sie, ihre Tränen nass an meinem Hals. »Es tut mir leid.« Sie trat einen Schritt zurück. Dann noch einen. »Leb wohl, Isaac.«
Dann rannte sie auf die Bühne zu, stürmte wie ein Komet ins Licht und fiel ihrem Vater in die Arme.
»O lieber Herr, ich bin so sehr erschreckt!«
Als ihre Klage auf der Bühne erklang, schloss der alte Panzer des Schweigens sich um mich.
Nie wieder.
Ich würde mich nie wieder jemandem öffnen.
Ich hatte Willow Dinge gesagt, die ich noch nie jemandem gesagt hatte. Ich hatte ihr mein bestes Ich gezeigt. Und wofür? Sie kämpfte nicht für uns. Jetzt stand ich hier, allein, hilflos. Ich konnte ihr nicht helfen. Ich konnte nicht allein für uns kämpfen.
Ein Teil von mir hasste sie. Aber in Wahrheit liebte ich sie. Verstand sie. Ich wusste genau, was passierte: Es waren die Wunden, die Xavier ihr zugefügt hatte. Sie hatten gerade erst angefangen zu heilen, und ihr Vater hatte sie, ohne es zu wissen, wieder aufgerissen.
Es war nicht ihre Schuld.
Es war auch nicht ihre Schuld, dass meine Mutter gestorben war. Aber der Verlust blieb. Die gähnende Leere eines Lebens ohne Willow.
Ich hatte sie verloren, also hatten meine Worte keine Bedeutung mehr.