35. KAPITEL
Willow
Wir kamen zur ersten Szene des dritten Akts. Dem Ende von Ophelia und Hamlet.
Jemand von der Requisite drückte mir eine Perlenkette in die Hand und gab mir ein zusammengerolltes Pergament, das mit einem roten Band umwickelt war. Hamlets Liebesbrief, von Isaacs Hand geschrieben.
Nur zweifle an meiner Liebe nicht …
Ich spähte durch eine Lücke im seitlichen Vorhang ins Publikum. Irgendwo im dunklen Theater saßen meine Eltern und sahen zu. Genau wie der Casting-Agent, der Isaac ein neues Leben schenken konnte. Ich musste ihm diese Chance erhalten. Wenn irgendetwas Gutes aus diesem Albtraum entstand, dann, dass Isaac den Erfolg hatte, den sein Talent verdiente.
Und vielleicht, eines Tages …
Ich konnte diesen Tag nicht sehen. Alles fühlte sich hoffnungslos an. Ich sah nur eine kalte und verschneite Tundra, die sich in alle Richtungen ausdehnte. Mittendrin ich und ein eisiger Wirbelwind, der über mich hinwegpfiff. Und wenn ich achtzehn wurde, was dann? Ich hatte kein Geld. Mein ganzes Leben war ich von meinen Eltern abhängig gewesen. Jetzt hatten sie mich in der Falle.
Das Einzige, was ich tun konnte, war, Isaac mein Spiel zu schenken. Mein Bestes zu geben.
Erzähl einfach die Geschichte.
Isaac stand auf der Bühne und war mitten in dem »Sein oder nicht sein«-Monolog. Er sprach ihn so heftig und unverhüllt, das Publikum hing an seinen Lippen. Sein Zwiespalt brannte hell in jedem Wort. Die Anstrengung, weiterzumachen, obwohl er sich wünschte aufzugeben. Die Qual des Kampfes, obwohl man einfach nur schlafen wollte.
Am Ende hielt das Publikum den Atem an, bis ein einzelnes Paar Hände spontan applaudierte und das ganze Theater mitriss. Ich hatte so etwas noch nie erlebt.
Isaac blieb reglos stehen, bis es vorbei war. Ich trat auf die Bühne.
»Die reizende Ophelia!« , sagte er. Seine Stimme war nach innen gerichtet, und er fügte hinzu: »Nymphe, schließ in dein Gebet all meine Sünden ein!«
Hamlet ging in einem kleinen Kreis um mich herum, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Schwarze Hose, schwarze Stiefel und ein kurzer schwarzer Rock mit einem goldenen Anhänger, der vorne aufgenäht war. Dunkel und gefährlich. Und kurz vor dem Nervenzusammenbruch. Sein Haar war zerwühlt und wild im Kontrast zu den glatten, ordentlichen Kleidern. Auf seinen Lippen lag ein angespanntes, freudloses Lächeln. Seine Augen sahen mich an, eine stürmische See aus Liebe, Sehnsucht, Wut und Schmerz.
»Mein Prinz, wie geht es Euch seit so viel Tagen?« Meine Stimme zitterte jetzt schon.
»Dank untertänigst; wohl, wohl, wohl.«
Mit zitternder Hand hielt ich ihm den Brief und die Kette hin. »Mein Prinz, ich hab von Euch noch Angedenken, die ich schon längst begehrt zurückzugeben. Ich bitt Euch nun, nehmt sie zurück!«
Hamlet ruckte leicht mit dem Kinn, als wäre er verwirrt und amüsiert. »Nein, ich nicht. Ich gab Euch niemals was.«
Er ging weiter um mich herum, und ich hielt ihm wieder die Sachen hin.
»Mein teurer Prinz, Ihr wisst gar wohl, Ihr tatets. Und Worte süßen Hauchs dabei, die reicher die Dinge machten …« Ich schluckte meine Tränen hinunter. »… Da ihr Duft dahin, nehmt dies zurück; dem edleren Gemüte verarmt die Gabe mit des Gebers Güte.« Ich drückte ihm Kette und Brief in die Hand. »Hier, gnädger Herr!«
Hamlet nahm beides, ohne seinen Gang zu unterbrechen. Seine Lippen verzogen sich zu einem grauenvollen, höhnischen Grinsen, und sein Lachen war spöttisch.
»Haha! Seid Ihr tugendhaft?«
»Gnädiger Herr?«
»Seid Ihr schön?«
Mir wurde fast schwindelig, als ich versuchte, seinen Blick zu halten, während er nicht aufhörte, um mich herum zu gehen. »Was meint Eure Hoheit?«
Hamlet zuckte mit den Achseln, als wäre die Antwort leicht. »Dass, wenn Ihr tugendhaft und schön seid, Eure Tugend keinen Verkehr mit Eurer Schönheit pflegen muss.«
»Könnte Schönheit wohl bessern Umgang haben als mit der Tugend?«
Er antwortete, dass es dreimal leichter für die Schönheit wäre, eine Jungfrau in eine Hure zu verwandeln, als für die Tugend, aus einer Hure wieder eine Jungfrau zu machen.
Es ist zu spät , sagte er. Der Schaden ist angerichtet.
»Dies war ehedem paradox« , sagte er, seine Stimme wurde sanft, seine Schritte langsamer. »Aber nun bestätigt es die Zeit.« Endlich blieb er stehen und erwiderte meinen Blick, Schmerz lag offen auf seinem Gesicht. Dann ließ er den Blick zu dem Brief sinken, und ich sah, wie seine Augen sich mit Tränen füllten.
»Ich liebte Euch einst.«
Tränen liefen mir ungewollt über die Wangen. »In der Tat, mein Prinz, Ihr machtet michs glauben.«
Das ganze Theater hielt den Atem an. Die Luft fühlte sich gläsern an, bereit zu zerspringen.
»Ihr hättet mir nicht glauben sollen« , sagte er ruhig. Und zerriss den Brief und das rote Band. Die Fetzen fielen wie Schnee und Blut zu Boden, als er den Kopf hob und mich ansah.
»Ich liebte Euch nicht.«
Seine Worte trafen mich mitten in die Brust, tief ins Herz. Ich richtete mich zu meiner ganzen Größe auf, meine Lippen zitterten, als die Kälte zurückkam und mich taub machte. Gefühllos. Und diesmal hieß ich es willkommen.
Nicht zu fühlen, dachte ich, war besser als der Schmerz, der kommen würde.
»Umso mehr wurde ich betrogen« , sagte ich so lässig, wie ich konnte.
Angesichts meiner gleichgültigen Erwiderung riss Hamlet die Augen auf. Seine aufgestaute Wut, sein Schmerz strömten mit den uralten Worten aus ihm heraus. Er kam zu mir, überragte mich drohend.
»Geh in ein Kloster! Warum wolltest du Sünder zur Welt bringen?«
Er packte mich bei den Schultern, und ich keuchte. Mein Blick war mit seinem verschränkt, ich konnte ihn nicht abwenden.
»Wozu sollen solche Gesellen wie ich zwischen Himmel und Erde herumkriechen? Wir sind ausgemachte Schurken, alle: Trau keinem von uns!«
Sein Griff wurde fester, als er ruhiger atmete und seine Wut bezähmte. In seinen Augen sah ich eine Bitte aufsteigen. Eine letzte Chance für uns.
»Wo ist Euer Vater?« , fragte Hamlet, seine Stimme brach, und ich sah Isaac.
Das Stück verschwand. Die Bühne und das Theater lösten sich in Luft auf. Das Publikum schrumpfte, bis nur ein einziger Platz mit meinem Vater darauf übrig war. Der aus dem Dunkel zusah, als Isaac mich bat – mich ein letztes Mal anflehte – ihn zu wählen.
Er glaubte, es sei einfach – meinem Vater nicht zu gehorchen und ihn zu lieben. Ihn bedingungslos zu lieben. Aber er wusste nicht, worum er mich bat. Er wusste nicht, was ich wusste. Was mein Vater ihm antun konnte. In seinen Augen sah ich seine Liebe, aber ich sah auch, wie alles, wofür er gearbeitet hatte, kaputtging. Seine Träume zerschlagen durch die Anschuldigungen, die mein Vater erheben würde. Endlose Mittel und der Einfluss eines Multimilliarden-Dollar-Unternehmens hinter ihm.
Ich würde eher sterben, bevor ich das zuließe – bevor ich zuließe, dass man Isaac eines Verbrechens beschuldigte, an dem er unschuldig war, während Xavier davonkam.
Die Entscheidung zerriss mich. Egal, was ich entschied, es war mein Untergang. Ohne Isaac leben. Oder mit ihm und zusehen, wie er alles verlor.
Ich hatte keine Wahl.
Mein Vater sah aus dem Publikum zu.
Ich atmete stockend ein, meine Augen baten um Vergebung, als ich die einfache Lüge aussprach, die unser Ende war.
»Zu Hause, gnädiger Herr.«
Isaacs Augen blitzten auf. Sein Griff um meinen Arm schien sich zu lockern, aber er ließ nicht los. Er drehte sich zum Publikum. Durch die Beleuchtung war es unmöglich, meinen Vater in der Menge auszumachen, aber ich wusste, er sprach nur zu ihm.
»Lasst die Tür hinter ihm abschließen« , flüsterte er, »damit er den Narren nirgend anders spielt als in seinem eignen Hause
Isaac ließ mich los, und ich sank auf die Knie. Ich musste noch etwas sagen, aber konnte nicht, als ich nach Atem rang, während die Schluchzer mir die Kehle zuschnürten. Isaac wandte sich ab, er war fertig mit mir. Fertig mit uns.
Dann wirbelte er noch einmal herum, zitternd, unfähig, den Schmerz länger zu unterdrücken. Er ließ alles raus, die Worte trafen mich wie Ohrfeigen mitten ins Gesicht.
»Wenn du heiratest, so gebe ich dir diesen Fluch zur Aussteuer: Sei so keusch wie Eis, so rein wie Schnee, du wirst der Verleumdung nicht entgehn.«
Er erhob die Stimme, die sich überschlug, als Tränen seine Augen füllten. »Oder, willst du durchaus heiraten, nimm einen Narren, denn gescheite Männer wissen allzu gut« , er stieß den Finger gegen sein eigenes Herz, »was Ihr für Ungeheuer aus ihnen macht
Er stand über mir, die ich noch schluchzte, und atmete schwer. Dann nahm er seinen Schmerz, rief ihn zurück und holte ihn wieder nach innen. Seine letzten Worte sprach er ohne jede Emotion. Ohne Schmerz. Ein Tonfall, der sein Schweigen von diesem Moment an vorwegnahm.
»Leb wohl!«