38. KAPITEL
Willow
Der Samstag schien immer schneller näher zu kommen. Marty hatte in letzter Minute noch eine Vorstellung am Donnerstagabend hinzugefügt, damit ich, Len und Lorraine – die meine beste Freundin Christine spielte – einen zusätzlichen Abend hatten. Sie war innerhalb von Stunden nach der Ankündigung ausverkauft. Der Freitagabend war ebenfalls voll, und als der donnernde Applaus über mich hinwegbrandete, versuchte ich, ihn zu genießen und festzuhalten. Es gab nur noch eine einzige Vorstellung.
Mittags traf ich mich mit Angie im Scoop. Das Herz pochte mir in der Brust, und vor Glück musste ich lachen, als ich mein Fahrrad vor dem Restaurant abschloss. Wir hatten telefoniert und uns geschrieben, aber durch ihren vollen Stundenplan in Stanford und die ständigen Versetzungen meines Vaters hatten wir uns drei Jahre lang nicht gesehen.
Ich öffnete die Tür des Diners, und sie saß in einer Nische für zwei mit Blick zur Tür. Ich bemerkte, dass sie jetzt eine Brille trug. Ihr lockiges Haar war ein bisschen kürzer, und ihr Gesicht ein bisschen blasser, weil sie so viel lernte.
Dann brach ich in Tränen aus.
Sie verschwamm zu einem Fleck, als sie hastig aus der Nische rutschte. Sie fiel mir um den Hals, und ich hielt sie fest und weinte an ihrer Schulter – die ganzen Jahre, die sie mir gefehlt hatte, überwältigten mich so sehr, dass ich mich kaum auf den Beinen halten konnte.
Ich löste mich lange genug von ihr, um mir über die Augen zu wischen und sie anzusehen. Auf ihrem T-Shirt stand: Ich werde dich mit meiner Unbeholfenheit verführen . Ich lachte, dann fing ich wieder an zu heulen.
Wir standen mitten im Diner und hielten uns fest, bis wir hörten, wie ein kleines Mädchen fragte: »Mami, was machen die Damen da?«
»Hast du das gehört, Holloway?«, fragte Angie, löste sich von mir und trocknete sich die Augen ab. »Das erste und letzte Mal, dass mich jemand eine Dame nennt.«
Ich lachte wieder und drohte erneut in Tränen auszubrechen. Schnell setzten wir uns in unsere Nische, nahmen uns Servietten, lachten, hielten uns über dem Tisch an den Händen und brauchten noch mehr Servietten.
Ich schüttelte den Kopf, als ich sie ansah. »Oh Gott, Angie, ich hab dich so vermisst.«
»Ich dich auch. Es ist so schön, dich zu sehen. Dich richtig zu sehen. Du siehst großartig aus.«
»Danke«, sagte ich. »Es war ein langer Weg, bis ich halbwegs vorzeigbar war.«
»Wie geht es dir wirklich? Wie ist es mit deinen Eltern?«, fragte sie und machte sich auf die Antwort gefasst.
»Schräg«, sagte ich. »Mein Dad ist im Arschkriechmodus. Ich glaube, die ersten Monate in Kanada haben ihm die Augen geöffnet, und er hat gesehen, wie schlecht es mir ging. Da hat er endlich kapiert, was er angerichtet hat. Er hat geglaubt, dass mein Schmerz vergehen würde. Ist er aber nicht. Ich bin nie über Isaac hinweggekommen.« Ich zuckte mit den Achseln und sah auf meine Hände. »Ich bin jetzt zwanzig und liebe ihn immer noch.«
»Ach, Süße.« Angie griff über den Tisch und nahm meine Hand.
»Nicht, dass es irgendwas bedeuten würde.«
Ihre dunklen Augen flammten vor Wut auf. »Isaac hat gewusst, dass du gezwungen wurdest, ihn zu verlassen, oder?«
»Ich denke schon. Ich habe ihm nie gesagt, womit mein Vater wirklich gedroht hat. Es war so schlimm. So absolut falsch . Ich hatte Angst, Isaac würde in Harmony bleiben, wenn er es erführe. Bleiben und für uns kämpfen und am Ende alles verlieren. Seine Zukunft. Das konnte ich nicht zulassen, er hätte es mir bestimmt irgendwann vorgeworfen.« Ich seufzte. »Ich bin froh, dass er gegangen ist. Ich habe nur nicht erwartet, dass er … sich nie wieder meldet. Ich denke, es war zu schwer für ihn. Er hatte schon so viel verloren.«
»Und was ist mit dir?«, stieß Angie hervor. Sie hatte mir durch die dunklen Monate geholfen, nachdem mein Vater mit uns aus Harmony weggezogen war, und ich wusste, sie hatte sich die Bemerkungen über Isaac die ganze Zeit verbissen. »Und das war’s jetzt?«, fragte sie und bemühte sich, ruhig zu bleiben. »Du vergibst ihm? Einfach so?«
»Es ist nicht so einfach«, sagte ich. »Es ist nicht einfach Ja oder Nein, es ist … total verworren. Ja, ich bin verletzt und wütend auf ihn. Aber wir waren beide gezwungen, Dinge zu tun, die wir nicht wollten. Jetzt versuchen wir, klarzukommen. Er tut das auf die einzige Art, die er kann, und ich auch. Endlich. Ich habe es zurück nach Harmony geschafft. Ich bin weg von meinen Eltern und kann neu anfangen.«
Angie schüttelte den Kopf. »Drei Jahre, Willow.«
»Ich weiß«, sagte ich. »Ich will nicht leugnen, dass es wehtut. Das tut es. Ich werde jeden Tag stärker, aber so zu tun, als würde ich ihn nicht lieben, nicht vermissen, bringt mich auch nicht weiter.«
»Klingt, als hätte da jemand mit meiner Mutter gesprochen.«
Ich lachte ein bisschen und sah mich um. »Wo ist Bonnie? Ich dachte, sie würde auch kommen?«
»Sie wollte uns ein bisschen Zeit zu zweit geben. Aber sie kommt zur Vorstellung. Das würde sie nie verpassen. Ich habe gehört, du bist der totale Hammer in dem Ibsen-Stück.«
»Ich weiß nicht, aber es macht mir Spaß. Und es hat auch geholfen. Aber genug von meinem Kram. Wie ist es in Stanford? Wie geht’s Nash?«
Wir bestellten Burger und Milchshakes und aßen, während Angie mir alles erzählte. Nash studierte in Pennsylvania. Er und Angie führten eine Fernbeziehung, während sie in Stanford Robotik und Medizin studierte.
»Es ist so viel Stoff, ich werde studieren müssen, bis ich achtzig bin«, sagte sie. »Dann kann ich noch etwa ein Jahr als Ärztin arbeiten, bevor ich ins Gras beiße.«
»Aber in dem einen Jahr kannst du dann wirklich solide Kenntnisse anwenden.«
»Absolut!«
Als wir redeten und lachten, spürte ich, wie ein weiterer Teil meiner selbst, der zerbrochen und überall in Nordamerika verteilt gewesen war, wieder an seinen Platz rückte.
Draußen umarmten wir uns erneut.
»Bis später, meine Liebe«, sagte sie. »Wir sehen uns heute Abend, nachdem du sie fertiggemacht hast.«
Sie wollte schon gehen, aber ich nahm ihre Hand und musste schon wieder Tränen wegblinzeln.
»Bevor ich Isaac getroffen hatte, bevor ich für Hamlet vorgesprochen hatte oder für irgendetwas gut war, hatte ich dich. Du warst der erste Mensch, der die Mauer durchbrechen konnte, die ich nach all dem Mist mit Xavier um mich hochgezogen hatte, und ich will dir dafür danken.«
»Verdammt, Holloway«, sagte Angie und wischte sich mit den Fingerspitzen unter den Augen entlang.
»Du bist eine Lebensretterin, McKenzie, okay?«, sagte ich. »Du hast mir verdammt noch mal das Leben gerettet.«
Angie zog mich wieder an sich. »Tust du mir einen Gefallen?«, fragte sie und schniefte.
»Alles was du willst.«
»Kannst du das Stanford sagen? Es würde mir einen Haufen Studiengebühren ersparen.«
Ich traf meine Eltern um Viertel nach sechs in der Lobby des HCT. Mir wäre nicht wohl dabei gewesen, sie in meinem kleinen Cottage zu empfangen. Jetzt, da ich nicht länger von ihnen abhängig war, war ihr Einfluss auf mich bestenfalls gering. Genau wie mein Einfluss darauf, ihnen vergeben zu können.
Sie begrüßten mich mit zu breitem Lächeln und sprachen zu laut.
»Ich freue mich, dass du uns diese Party nach der Vorstellung ausrichten lässt«, sagte mein Vater.
»Es ist sehr aufmerksam von euch«, sagte ich.
»Ja, es wird sicher nett, denke ich«, sagte meine Mutter. »Das Hotel – das Renaissance – ist wirklich nett. Klingt das nicht nett?«
Lustig, wie sie alles in Harmony plötzlich nett fand, wo der gesamte Mittlere Westen vorher unter ihrer Würde gewesen war. Plötzlich taten sie mir beide unendlich leid.
»Es wird toll«, sagte ich. »Danke, dass ihr gekommen seid. Ich muss mich fertig machen. Ich hoffe, euch gefällt das Stück.«
Gott, ich klang wie eine automatische Ansage.
»Willow«, sagte mein Vater. Er sah aus, als wollte er meine Hand nehmen. »Ich wollte nur, dass du weißt, dass ich stolz auf dich bin«, sagte er und stopfte die Faust in die Tasche seines Jacketts. »Die Rezensionen waren sehr schmeichelhaft. Und was ihr hier leistet, du und Mr Ford, um das Theater als lebendiges Stück Geschichte in dieser Stadt zu erhalten, ist wirklich verdienstvoll.«
Er blickte zu Boden, dann zwang er sich, mir in die Augen zu sehen. »Du sollst wissen, dass ich deine Leistungen anerkenne. Und deshalb haben wir etwas für dich – für euch – auf der Party. Eine kleine Überraschung.«
Meine Mutter guckte komisch und stieß meinen Vater mit einem aufgeregten Lachen an. »Komm schon, verdirb es jetzt nicht – und mach sie nicht nervös.«
»Ja. Sicher«, sagte mein Vater. »Nach der Vorstellung. Hals- und Beinbruch.«
Sie eilten in den Theatersaal, bevor ich ihnen sagen konnte, dass ich keine Überraschung wollte. Die Party war mir schon zu viel. Ich hatte nur zugestimmt, weil das Ensemble einen besseren Abschluss verdiente als Burger und Pommes im Scoop.
Ich ging nach hinten, um mich vorzubereiten – Make-up, Haar und Kostüm. Dann versammelten sich alle auf der Bühne für Aufwärmübungen, angeleitet von Martin, der den Krogstad spielte. Auf der anderen Seite des Vorhangs hörten wir die Leute ins Theater strömen.
»Es sind nur noch Stehplätze frei«, sagte Marty zu mir. »Hals- und Beinbruch.«
»Ich geb mein Bestes.«
Er war schon am Gehen, als er stehen blieb und mich aufmerksam ansah. »Alles in Ordnung?«
»Klar, alles gut«, sagte ich und zwang mich zu lächeln.
»Dernièren-Lampenfieber?«
»Ach, ich fürchte, diese Party, die meine Eltern unbedingt geben wollen, bringt mich ein bisschen aus der Ruhe. Oder … ich weiß es nicht. Irgendwie ist die Atmosphäre heute merkwürdig. Wie die Luft, bevor der Blitz einschlägt, weißt du? Irgendwie angespannt und sirrend?« Ich schüttelte den Kopf. »Aber ich krieg das schon hin. Es war eine wundervolle Erfahrung, Marty. Ich danke dir so sehr. Ich lass dich nicht im Stich.«
»Danke für deine unglaubliche Nora, meine Liebe«, sagte er. »Und dafür, dass du zu mir gekommen bist, als du zurück warst. Dafür, dass du ein so wunderbarer Teil dieses Theaters bist.«
»Marty«, sagte ich misstrauisch. »Das klang verhängnisvoll. Hast du Nachrichten vom Stadtrat? Schlechte Nachrichten?«
Er grinste. »Als wenn ich dir zwanzig Minuten, bevor der Vorhang aufgeht, etwas Derartiges mitteilen würde. Nein, ich wollte nur –«
Frank, der Inspizient, kam angelaufen und sah blass aus. Er flüsterte Marty etwas ins Ohr und sah mich dabei an. Martys Augen weiteten sich, dann blickte er auch zu mir.
»Was?«, fragte ich. »Was ist los?«
Marty glättete sein Gesicht. »Ich komme sofort«, sagte er ruhig zu Frank. »Danke, Frank.« Dann drehte er sich zu mir um und klopfte mir auf die Schulter. »Ein Intendant hat immer zu tun. Selbst am Abend der Dernière. Ich bin gleich zurück.«
»Marty«, sagte ich und nahm seine Hand. »Sag es mir.«
»Nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest. Versprochen.«
Ihm hätte ich geglaubt. Er war ein fantastischer Schauspieler. Frank allerdings war das nicht, und der sah aus, als hätte er ein Gespenst gesehen.