39. KAPITEL
Isaac
Frank wirkte schwer beunruhigt, als er mich in Martys Büro führte und dann losrannte, um ihm zu sagen, dass ich da war. Ich wartete wie ein Schüler, den man zum Rektor geschickt hatte und der richtig Ärger kriegen würde. Diese Folgen würden schlimmer werden als Hausarrest. Marty war wahrscheinlich unglaublich wütend. Wen wollte ich verarschen – er war verletzt .
Ich lehnte mich in meinen teuren Jeans und der schwarzen Jacke an den Schreibtisch und versuchte so zu tun, als wäre es keine große Sache. Als säße ich irgendwie am längeren Hebel. Dann stürmte Marty herein, mit rotem Gesicht und Feuer spuckend. Der Zorn schlug praktisch Funken um ihn herum, so wütend hatte ich ihn noch nie gesehen. Und obwohl ich es erwartet hatte, war es verstörend, Martin Ford so zu sehen.
»Drei Jahre«, sagte er ohne Einleitung und schlug die Tür hinter sich zu. »Drei Jahre ohne ein Wort. Ohne ein einziges Wort. Dass du zur Beerdigung deines Vaters gekommen bist, zählt nicht. Du hast damals nicht mit mir gesprochen. Und auch danach hast du nichts gesagt.«
»Marty«, sagte ich. »Es tut mir leid –«
Er kam einen Schritt näher und stieß mit dem Finger nach mir. »Und von Brenda und Benny und Willow will ich gar nicht erst anfangen.«
Ich knirschte mit den Zähnen. »Ich weiß, ich war –«
»Und jetzt tauchst du einfach so hier auf? Eine Viertelstunde , bevor ich auf die Bühne muss? Was soll das, Isaac? Soll ich später anfangen, damit wir eine verfluchte Tasse Kaffee trinken können?«
Er starrte mich an und presste die Kiefer zusammen. Einen Moment lang dachte ich, er würde mich rauswerfen lassen. Gott, vielleicht die Polizei rufen. Oder mich einfach mit einem Tritt in den Hintern auf die Straße befördern. Als er zwei Schritte auf mich zuging, wünschte ich fast, er täte es.
Los , dachte ich. Ich verdiene dich nicht, Marty.
Stattdessen nahm er meine Schultern und zog mich in eine Umarmung. Ich schloss die Augen vor Erleichterung und Dankbarkeit.
»Ich dachte, es wäre zu spät. Ich dachte, du hasst mich«, sagte ich rau.
»Ich hasse dich auch.«
»Ich kann es dir nicht verübeln.«
Marty löste sich von mir und hielt mich auf Armeslänge von sich weg. »Bist du wirklich hier? Um zu bleiben und zu reden? Um hier zu sein?«
Ich nickte.
»Okay, dann zählt, was ich dir einmal gesagt habe. Es gibt kein ›zu spät‹. Wenn du wirklich hier bist, dann bleibe ich dabei. Aber Gott, Isaac. Was soll ich Willow sagen?«
»Sie soll nicht wissen, dass ich hier bin. Erst nach der Vorstellung.«
»Ihretwegen sind wir ausverkauft«, sagte Marty, verschränkte die Arme und lächelte. »Ich weiß nicht, wo du sitzen sollst.«
»Ich stehe hinten. Solange ich sie sehen kann, bin ich glücklich.«
Martys Lächeln verschwand. »Warum bist du zurückgekommen?«
»Wegen ihr«, sagte ich. »Wegen dir und Brenda und Benny, aber vor allem wegen ihr. Um zu klären, was passiert ist und – was?«
Marty schüttelte den Kopf. »Nein, nein, nein. Ich passe ein bisschen auf sie auf, weißt du? Eigentlich sogar sehr
»Ich will sie nicht verletzen, Marty«, sagte ich. »Es ist das Letzte, was ich will, aber sie … Scheiße.«
»Sie hat dich auch verletzt«, endete Marty. »Du bist wütend auf sie, aber du kennst nicht die ganze Geschichte. Nicht einmal annähernd. Hat sie gesagt, womit ihr Vater gedroht hat?«
»Nein. Sie hat sich geweigert, es mir zu verraten.«
»Du kannst es dir nicht vorstellen?«, fragte er in ernstem Ton.
»Ich weiß nicht. Ja, schon. Er hätte mich verhaften lassen, weil ich in seinem Haus war. Er hätte meinen Dad bis zum Gehtnichtmehr verklagt. Er hätte ihr verboten, an dem Stück teilzunehmen, und wir hätten Hamlet verloren, aber na und? Ich hätte alles hergegeben, wenn ich nur sie hätte behalten dürfen. Sie hat mir nicht geglaubt.«
»Du hättest nicht nur Hamlet verloren«, sagte Marty. »Ihr Vater hat gedroht, dich wegen sexuellen Missbrauchs einer Jugendlichen verhaften zu lassen.«
Die Worte hingen hässlich und gemein in der Luft. Das Blut wich mir aus dem Gesicht, und ich schluckte. »Okay«, sagte ich langsam. »Ich hätte damit rechnen sollen. Aber trotzdem –«
»Nichts trotzdem. Er hat geschworen, seine Position und seine Macht zu nutzen, um deinen Ruf für immer zu zerstören. Um dich als Sexualstraftäter abzustempeln, damit dir in Hollywood niemand auch nur im Traum eine Rolle gibt. Sie wollte nicht nur Hamlet beschützen. Es ging um alles. Dich, die Schulden deines Vaters, deine Zukunft.«
»Ich … ich habe nicht begriffen, dass er mich so sehr gehasst hat. Oder sie.«
»Die Nacht, in der er gesehen hat, wie du aus seinem Haus abgehauen bist, muss für Willow ein Albtraum gewesen sein. Schlimmer als alles, was du dir vorstellen kannst. Und ich sage das nicht, damit du dich schlecht fühlst …«
»Verdammt, Marty. Zu spät.« Ich lehnte mich zusammengesunken an den Schreibtisch.
»Aber ich will ehrlich zu dir sein. Wenn du gekommen bist, um noch einmal aufzuwärmen, was vor drei Jahren passiert ist, trete ich dir so dermaßen in den Hintern, dass du in der übernächsten Woche landest. Das Mädchen hat genug gelitten. Du hast es nicht gewusst. Sie hat es dir nicht erzählt, und du hast so gut es ging versucht, mit dem Verlust fertigzuwerden. Das verstehe ich. Aber ich verlange, dass du vorsichtig mit ihrem Herzen umgehst.«
Ich biss die Zähne zusammen und kämpfte gegen die Tränen, die mir in die Augen traten. »Ich habe dichtgemacht«, sagte ich. »Das mache ich. Ich habe einfach …«
»Das weiß ich doch, Junge. Du hast es auch nicht leicht gehabt.«
»Es tut mir leid«, sagte ich.
»Das weiß ich auch«, sagte Marty und umarmte mich wieder. »Und ihr tut es auch leid.«
»Ich weiß nicht, was jetzt kommt«, sagte ich und wischte mir die Augen in der Armbeuge ab. »Du bist der Regisseur, Marty. Gib mir eine Anweisung.«
»Ihre Eltern geben für uns eine Party im Renaissance Hotel in Braxton. Sieh dir das Stück an – und komm danach mit dahin.«
»Ihre Eltern?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ich muss sie allein sehen.«
»Ich glaube, es wäre besser, wenn du sie an einem öffentlichen Ort siehst. So kann sie selbst entscheiden, ob sie allein mit dir reden will oder bei ihren Freunden, ihrer Unterstützung, bleibt. Fair?«
Ich zögerte, und Martin packte mich an den Schultern.
»Verschwende keine einzige Sekunde mehr«, sagte Marty. »Jede Sekunde wäre ein Kilometer mehr, der zwischen euch liegt. Die Distanz ist so schon groß genug.«
»Will sie mich denn sehen?«, fragte ich und fühlte mich so nackt und bloß wie nie zuvor in meinem Leben. Solche nackten Gefühle hatte ich in Schweigen verwandelt, um mich einzugraben und zu schützen.
»Ich weiß es nicht«, sagte Marty. »Aber wenn ich raten müsste …« Er hob die Hände, sein Lächeln war gütig und voller Hoffnung. »… würde ich sagen, es ist nie zu spät.«
In der ersten Reihe war eine Reservierung gecancelt worden. Da es nicht infrage kam, dass ich dort saß, spielte Marty ein bisschen Bäumchen-wechsel-dich, bis ich einen Platz in der letzten Reihe bekam, wo Willow mich nicht sehen konnte.
Die Lichter im Zuschauerraum wurden gedimmt. Das Gemurmel von fünfhundert Menschen legte sich. Dann ging das Bühnenlicht an, und zum ersten Mal seit drei Jahren sah ich Willow.
Stockend holte ich Luft. Sie war so wunderschön. Inzwischen war sie fast einundzwanzig und hielt sich mit der Anmut und Würde einer sehr viel älteren Person. Einer Person, die aus der Hölle zurückgekommen war und noch immer aufrecht stand.
In den nächsten zwei Stunden führte sie ihre Figur von einer naiven, hoffnungsvollen jungen Ehegattin zu einer Frau, die bereit ist, für sich selbst einzustehen in einer Gesellschaft, in der Ehe und Mutterschaft die wichtigsten Ziele sind.
Sie war brillant. Gleichzeitig mitreißend und subtil. Aber vor allem in der letzten Szene fesselte sie mich. Sie saß auf einem Stuhl, die Hände im Schoß gefaltet. Absolut still und aufrecht. Das Auge des Sturms, der ihr Ehemann war. Len Hostetler als Helmer, der sie erst verwirrt und dann in Panik umkreiste.
»Die Tage des Spiels sind nun vorüber; jetzt kommt die Zeit der Erziehung« , sagte Len.
»Wessen Erziehung? Meine oder die der Kinder?«
Sie stritten. Oder besser, Len stritt. Willow sprach ihren Text mit ruhiger Sicherheit. Und Würde.
»Ich verlasse dich jetzt« , sagte Willow, den Blick ins Publikum gerichtet. Sie hätte es zu mir sagen können. Oder zu ihrem Vater. Oder zu Justin Baker oder Xavier. Zu allen Männern in ihrem Leben, die etwas aus ihr machen wollten, das sie nicht war.
»Ich muss ganz allein stehen, wenn ich mich mit mir selbst und mit der Außenwelt zurechtfinden soll! Deshalb kann ich nicht länger bei Dir bleiben.«
Len war der Mann, dem die Frau in seinem Leben sagte, dass sie ihn nicht länger brauchte. Der Sitzengelassene. Der gescheiterte Flirt in einer Bar. Die Online-Abfuhr nach einer ungebetenen Anmache.
»Du bist von Sinnen! Das darfst Du nicht! Ich verbiete es Dir!«
»Es hat fortan keinen Zweck mehr, mir etwas zu verbieten« , entgegnete Willow ruhig. »Ich nehme mit, was mir gehört. Von Dir will ich nichts haben, – nicht heut, noch später
»So entziehst Du Dich Deinen heiligsten Pflichten gegen Deinen Mann und Deine Kinder?«
»Ich habe andere Pflichten, die ebenso heilig sind.«
»Das hast Du nicht. Was für Pflichten könnten das wohl sein!«
»Die Pflichten gegen mich selbst.«
Ich sank in meinen Sitz, presste die Hand an die Lippen. Der Schmerz, sie zu verlieren, einst so unerträglich, wurde weicher und verwandelte sich, als ich ihr zusah. Als ich ihr zuhörte .
Es war so leicht, ihr an allem die Schuld zu geben. Ihr vorzuwerfen, dass sie nicht für uns eingetreten war, obwohl ich bereit gewesen war, alles zu riskieren. In Wahrheit war sie für uns eingetreten, und ich hatte sie fallen lassen. Sie hatte versucht, mich zu beschützen, und ich konnte sie nicht davon überzeugen, dass ich keinen Schutz brauchte. Dass ich mit Freuden die Pfeile und Schleudern erduldet hätte, mit denen ihr Vater mich angreifen wollte.
Ich hatte nur nicht beachtet, dass sie das nicht konnte.
Ich hatte nur zu dem unglaublichen Druck beigetragen, unter dem sie stand. Die Tatsache, dass sie nicht zerquetscht worden war, war ein Beweis für ihren Mut und ihre Kraft. Als ich sie nun auf der Bühne sah, empfand ich einen wilden Stolz, der mir nicht zustand. Ich hatte nichts mit ihrem Erfolg, Talent oder Mut zu tun. Sie hatte alles sich selbst zu verdanken.
Mir blieb nur noch, mich ihr zu Füßen zu werfen und sie um Vergebung zu bitten.