KAPITEL

1

Kühle Schatten schieben sich über meine Haut, heißen mich willkommen und verschleiern mich. Ich könnte schwelgen in der Dunkelheit – selig unter den Sternen ausgebreitet liegen, während die Nachtlüfte meine verkrampften und überanstrengten Muskeln lösen – aber ich werde diese Nacht nicht für Ruhe oder flüchtige Wonne vergeuden. Dies sind die Stunden der Spione und Diebe. Dies sind meine Stunden.

Ich lasse zwei Haarnadeln in das Schloss gleiten, und meine aufgesprungenen Hände tanzen über sie wie über die Saiten einer Bratsche. Tausendmal habe ich dieses Lied geprobt, habe es in Momenten der allergrößten Verzweiflung gespielt. Besser für geschickte Finger beten, für Schatten und Tarnung, als zu den alten Göttern. Lieber stehlen als sterben.

In der Ferne geben Frösche ein Konzert, und ihr Chor überdeckt fast vollständig das satte Klicken, mit dem das Schloss aufspringt. Die Tür am Dienstboteneingang zu Creighton Gorsts Herrenhaus schwingt auf.

Gorst hat diese Nacht andernorts zu tun. Dafür habe ich gesorgt. Trotzdem halte ich in meiner Umgebung Ausschau nach Anzeichen von ihm oder seinen Bediensteten. Die meisten Reichen leisten sich eine Wachmannschaft, aber nur bei wenigen – wie Gorst – ist der Verfolgungswahn so stark, dass sie selbst Leute aus ihrem inneren Kreis nicht ohne Begleitung in die Nähe ihrer Schatzkammer lassen. Ich habe Monate auf eine Gelegenheit wie diese gewartet.

Über die steinerne Wendeltreppe tappe ich hinunter in den Keller. Mit jedem Schritt wird es kälter, aber meine Haut ist vom Adrenalin und meiner Kletterei über die Umfassungsmauer erhitzt, und der kühle Lufthauch, der mir über die Haut streicht, ist mir nur zu willkommen.

Am Fuß der Treppe nimmt ein Glimmstein meine Bewegung wahr, geht an und wirft einen schwachen Lichtschein auf den Boden. Ich steche mit dem Messer in sein weiches Herz und setze ihn so außer Gefecht. Die Finsternis, die sich über den Raum legt, ist so vollständig, dass ich kaum die eigene Hand vor dem Gesicht erkennen kann. Gut . Ich bewege mich ohnehin lieber im Dunkeln.

Ich folge der Kellerwand mit den Händen, bis ich den kühlen Stahl der Tür zur Schatzkammer spüre und sie blind mit den Fingerspitzen untersuche – drei Schlösser, aber keines davon allzu kompliziert. Nach weniger als fünf Minuten haben sie sich meiner Klinge und den Haarnadeln ergeben und ich kann fühlen, wie sich meine Muskeln entspannen. Diesen Monat werden wir die Rate bezahlen. Madame Vivias wird uns keine neuen Strafen auferlegen können.

Mein triumphierendes Lächeln währt nur kurz, als mir eingravierte Zeichen auf der Schwelle ins Auge fallen. So schnell ist der Rausch meines Erfolgs vorüber.

Gorsts Schatzkammer ist durch einen Bann geschützt.

Natürlich.

Ein reicher Mann, der so paranoid ist, einer Wachmannschaft nicht zu vertrauen, wäre sehr schnell arm, wenn er seinen Wohlstand nicht mit ein bisschen Magie absichern würde.

Mein Vorhaben heute Nacht ist gefährlich, und ich kann es mir nicht leisten, das auch nur für einen Moment zu vergessen. Ich bestehle nur jene, die mehr haben, als sie brauchen, aber Besitz bringt Macht mit sich – die Macht, Diebe wie mich hinrichten zu lassen, wenn wir erwischt werden.

Ich weiche den Zeichen aus und ziehe einen Sternenwurm aus meinem Beutel. Seine Haut fühlt sich seidig und glitschig zwischen meinen Fingern an, aber ich lege ihn an mein Handgelenk und zucke kurz zusammen, als er sich dort festhakt. Langsam saugt er ein bisschen Blut aus meinen Adern, fängt an zu glühen und beleuchtet den Boden vor mir. Die Dunkelheit gebe ich nur ungern auf, aber ich muss die Symbole erkennen. Ich gehe in die Hocke, fahre jede Linie und Kurve nach und vergewissere mich ihrer Form und Absicht. Listige Magie, keine Frage.

Die Runen würden mir den Weg in die Schatzkammer nicht verwehren. Sie würden mich einlassen, dort einschließen und zur Gefangenen machen, bis sich der Schlossherr um mich kümmern kann. Ein gewöhnlicher, nur in Schutzrunen bewanderter Dieb könnte irrtümlicherweise glauben, der Bann wäre fehlerhaft, wenn er ihn passiert. Ein gewöhnlicher Dieb würde eingeschlossen werden. Nur gut, dass ich alles andere als gewöhnlich bin.

In Gedanken suche ich nach einem geeigneten Gegenzauber. Eine Magierin bin ich nicht. Schon möglich, dass ich es gern wäre, aber mein Schicksal ist, den ganzen Tag Böden zu schrubben und hinter meinen verwöhnten Cousinen herzuputzen. Ich habe weder die Zeit noch das nötige Kleingeld für eine solche Ausbildung und werde deshalb niemals die Magie in Form von Zauberformeln, Tränken und Ritualen nutzen können. Ich muss schon froh sein, dass ich weiß, wie ich aus dieser Schatzkammer wieder herauskomme, wenn ich mir genommen habe, was ich brauche.

Ich ziehe das Messer aus dem Gürtel, beiße mir auf die Lippe und fahre mir mit der Klinge über meine Hand ohne Sternenwurm. Der stechende Schmerz verdrängt jeden Gedanken aus meinem Kopf. Zu viele Augenblicke lang taumele ich, und mein Körper fleht darum, sich in die Bewusstlosigkeit zu verabschieden.

Atmen, Abriella. Du musst atmen. Sauerstoff lässt sich auch durch noch so viel Mut nicht ersetzen.

Die Erinnerung an die Stimme meiner Mutter ist es, die mich wieder mühevoll Luft holen lässt. Was ist heute nur mit mir los? Ich bin doch sonst nicht so zimperlich, wenn es um Blut und Schmerz geht. Aber nach dem langen Arbeitstag ohne Pause bin ich erschöpft und ausgehungert. Und ich bin ausgedörrt.

Ich habe nicht mehr viel Zeit.

Ich tauche den Finger in das Blut, das in meiner Handfläche zusammenläuft, und male sorgsam die Runen für den Gegenzauber über die eingeritzten Zeichen. Dann wische ich die blutige Hand an der Hose ab und betrachte mein Werk, bevor ich wieder aufstehe.

Ich gestatte mir nicht, den Atem anzuhalten, während ich über die Schwelle trete; ich gehe rasch in beide Richtungen, um sicher zu sein, dass meine Runen wirken. Als ich die Schatzkammer betrete und der Lichtschein des Sternenwurms in den Raum fällt, stockt mir der Atem.

Creighton Gorsts Schatzkammer ist größer als mein Zimmer. In den Regalen an den Wänden sehe ich Raqon-Münzbeutel, Juwelen und schimmernde Waffen. Es juckt mich in den Händen, so viel mitzunehmen, wie ich tragen kann, aber das werde ich nicht. Wenn ich meiner Verzweiflung nachgebe, wird er wissen, dass jemand hier war. Vielleicht wird er das ohnehin. Vielleicht unterschätze ich, wie genau der Trunkenbold über den Wohlstand Bescheid weiß, den er im Handel mit Vergnügen und Fleischeslust angehäuft hat, aber wenn ich Glück habe, wird er nie erfahren, dass jemand seinen Bann überwunden hat.

Ich wusste, dass Gorst reich ist, doch Schätze wie diese habe ich nicht erwartet. Prostitution und Trinken machen Männer reich, aber so reich? Ich verschaffe mir einen Überblick über die Regale und strecke instinktiv die Hand aus, als ich die einzig mögliche Erklärung entdecke. Nur kurz bleibt meine Hand über einem Stapel von Lebensurkunden stehen; dann zuckt sie zurück vor der magischen Hitze, die von ihnen ausstrahlt.

Wäre ich in ein anderes Leben geboren worden, dann wäre ich allein wegen solcher Verträge eine machtvolle Magierin geworden. Dann würde ich den Zauber auflösen, der diese Leben an böse Menschen wie Gorst bindet. Ich würde all meine Kräfte dazu einsetzen, so viele Mädchen wie möglich zu befreien, bevor man mich fängt und hinrichtet. Obwohl ich genau weiß, dass ich nicht die Fähigkeit habe, die Magie in diesen Dokumenten aufzuheben, bringe ich es kaum über mich, sie dort liegen zu lassen. Jeder Gedanke in mir schreit förmlich, dass ich es wenigstens versuchen sollte.

Du kannst sie nicht retten.

Ich reiße mich mit Gewalt los und finde ein vollgestopftes Regal, wo ein fehlender Münzbeutel vielleicht nicht bemerkt wird. Ich suche nach Markierungen. Da sind keine. Vielleicht sollte Gorst mich dafür bezahlen, dass ich ihm beibringe, wie er seine Schätze richtig sichern kann. Ich greife mir einen Beutel und prüfe seinen Inhalt – mehr als genügend Raqon für unseren Tribut. Vielleicht sogar genug für die nächste Monatsrate.

Er verfügt über diesen gewaltigen Reichtum. Würde er es wirklich bemerken, wenn ich mehr nähme?

Wieder lasse ich den Blick über die Regale wandern und suche vorsichtig zwei weitere Beutel aus, die hinter einem Durcheinander von Schätzen versteckt liegen. Solchen Reichtum bekommen die Leute von Fairscape nur zu Gesicht, wenn sie mit den Fae Geschäfte machen. Vor diesem Hintergrund bekommen die magischen Verträge eine andere Bedeutung. Es ist schlimm genug, dass Gorst diese Leute dazu zwingen kann, seinen Willen zu erfüllen, schlimm genug, dass sie ihr Leben damit zubringen, eine unmöglich zu begleichende Schuld abzutragen, aber wenn er mit den Fae Handel treibt, verschachert er Menschen in ein anderes Reich, wo sie als Sklaven leben müssen. Wenn nicht noch schlimmer.

Da liegen drei Stapel mit Verträgen. Ich darf sie nicht anrühren, aber ich betrachte jeden Stapel. Eines Tages werde ich mir meine Freiheit erkaufen, und wenn meine Schwester nicht mehr auf mich angewiesen ist, werde ich hierher zurückkommen. Irgendwann werde ich einen Weg finden.

Mein Blick bleibt an dem Stapel in der Nähe der Tür der Schatzkammer hängen, und an dem Namen, der ganz oben steht. Ich lese den Namen noch einmal und das Datum, wann die Zahlung fällig ist. Einmal. Zweimal. Dreimal. Und mit jedem Mal schnürt es mir die Brust enger zusammen. Ich glaube nicht an die alten Götter, aber beim Anblick des Namens sende ich trotzdem ein Stoßgebet nach oben. Ein Kind hat ihn gekritzelt. Dazu das morgige Datum, unterstrichen mit seinem eigenen Blut.

Oben sind Schritte zu vernehmen, das Hallen von Männerstiefeln, und ich höre eine tiefe Stimme. Worte kann ich hier unten nicht verstehen, aber das brauche ich auch nicht, um zu wissen, dass ich verschwinden muss.

Das Diebesgut wiegt schwer in meinem Beutel und ich presse ihn eng an meine Hüfte, damit der Inhalt nicht rasselt, während ich aus der Schatzkammer laufe. Ich nehme den Sternenwurm von meinem Handgelenk und möchte schreien, als er sich wehrt, weil er mehr Blut haben will.

»Geduld«, flüstere ich und setze ihn auf den Boden. Der Blutegel kriecht über die Schwelle und leckt dort mit seiner kleinen Zunge mein Blut wieder auf.

Wieder Schritte dort oben. Dann Gelächter und Gläserklingen. Er ist nicht allein, aber wenn ich Glück habe, sind alle dort oben zu berauscht, um meine Flucht zu bemerken.

»Schnell, schnell«, flüstere ich dem Sternenwurm zu. Ich muss die Schatzkammer wieder schließen, aber wenn ich mein Blut zurücklasse, wird Gorst vielleicht bemerken, dass jemand hier war. Oder noch schlimmer – er bringt etwas davon zu einem Magier und macht mich damit ausfindig.

Die Stimmen kommen näher; dann hallen Schritte auf den Stufen.

Mir bleibt keine Wahl. Ich reiße den Sternenwurm von seinem blutigen Mahl weg und lasse ihn in meinen Beutel gleiten.

Dann spritze ich ein bisschen Wasser aus meiner Feldflasche auf die Steine und schwinge die Tür zu.

»Ich hole noch eine Flasche«, ruft Gorst vom oberen Treppenabsatz. Wie gut kenne ich diese Stimme. Ich habe in seinem Bordell sauber gemacht. Habe bis vor einem Monat dort Böden aufgewischt und Toiletten geschrubbt, bis er mich dazu drängte, in anderer Weise für ihn zu arbeiten.

Die letzten neun Jahre habe ich nach zwei Regeln gelebt: Stiehl nicht von denen, die ehrlich arbeiten, und arbeite nicht für Leute, die dich bestehlen. In jener Nacht kam eine neue Regel auf die Liste: Ich arbeite nicht für Leute, die mich zur Prostitution erpressen wollen.

Mit jedem Stiefeltritt kommt er näher, aber ich bleibe geschmeidig und bewege mich stetig weiter.

Ich lasse ein Schloss zuschnappen. Klick.

Schlurf, schlurf.

Das zweite Schloss. Klick.

Schlurf, schlurf.

Das dritte –

»Was zum Teufel?«

Klick.

»Diese Glimmsteine sind nutzlos«, knurrt er am Fuß der Treppe.

Ich atme ganz flach und drücke mich gegen die Wand, wo es am dunkelsten ist.

»Kommst du jetzt oder nicht?« Eine weibliche Stimme oben an der Treppe. Sie kichert. »Wir haben die andere Flasche gefunden, Creighton. Komm schon!«

»Ich komme.«

Ich zähle seine Schritte auf dem Weg nach oben und schiebe mich näher an die Treppe, während er weiter hinaufstolpert. Er ist betrunken. Vielleicht ist das Glück heute Nacht auf meiner Seite.

Ich lausche aufmerksam und verfolge ihren Weg durch das Herrenhaus, bis im Dienstbotentrakt über mir nichts mehr zu hören ist und nur noch Geräusche von weiter vorn im Haus zu mir dringen. Ich kann die Schatzkammer nicht noch einmal öffnen, um den Rest von meinem Blut zu entfernen. Das darf ich heute Nacht nicht riskieren.

Lautlos gehe ich die Treppe hinauf, auf demselben Weg, den ich gekommen bin.

Wie verkrampft meine Muskeln sind, wird mir erst klar, als ich aus dem Haus bin und die Anspannung schlagartig nachlässt. Hier unter dem kühlen Nachthimmel trifft mich eine Welle der Erschöpfung. Ausruhen kann ich jetzt nicht, aber ich habe meinem Körper diese Woche sehr viel abverlangt und kann seine Signale nicht mehr lange ignorieren.

Ich brauche Schlaf. Und Nahrung. Und am Morgen vielleicht ein paar unbekümmerte Minuten, in denen ich Sebastian beim Training im Hof hinter Madame Vivias’ Haus beobachte. Das wäre vielleicht sogar besser als Schlaf oder Essen.

Der Gedanke ist wie ein Adrenalinstoß für mein System und treibt mich weiter, das zu vollenden, was ich tun muss. Die Schatten geleiten mich aus dem Herrenhaus – ein verschlungener Weg um Büsche und Bäume herum, immer auf der Hut vor dem Mondlicht, als wäre dies alles ein Spiel.

Das Haupttor steht weit offen, und meine müden Muskeln flehen darum, diesen leichten Weg zu nehmen, aber das kann ich nicht riskieren. Ich ziehe das Seil aus meinem Beutel und werfe es über die Mauer, die Gorsts Besitz umschließt. Die Fasern graben sich in meine wunden Hände, und meine Arme schreien bei jedem Zug nach oben.

Auf der anderen Seite springe ich hinunter und lande weich in den Knien. Meine Schwester sagt, ich wäre wie eine Katze, weil ich schon immer auf diese Weise von Bäumen oder Dächern heruntergesprungen bin, ohne mich zu verletzen. Ich sehe mich eher als ein Schatten, unbemerkt und nützlicher, als es den Leuten erscheint.

Zu Fuß sind es nur zehn Minuten nach Hause und ich humple fast unter dem Gewicht meiner Diebesbeute. Es wäre so einfach, Madame Vivias’ Rate zu bezahlen, ins Bett zu gehen und dann zwölf Stunden zu schlafen.

Aber das kann ich nicht – nach allem, was ich in diesem letzten Stapel von Verträgen gesehen habe. Ich biege vom Nachhauseweg ab und gehe vorbei am Kleidergeschäft, wo meine Schwester Jas arbeitet, die Gasse hinunter. Um die Ecke von Gorsts Taverne, hinter einer überquellenden Mülltonne, schlüpfe ich durch den Eingang in die »Familienunterkunft« der Stadt. Der blanke Hohn. In dem viergeschossigen Gebäude gibt es zwölf Wohnungen mit zwei Zimmern und auf jedem Stockwerk ein Gemeinschaftsbad und eine Küche. Es ist ein Obdachlosenheim – und es gibt bedeutend schlimmere – aber jetzt wo ich Gorsts riesiges Anwesen gesehen habe, widert mich die Ungerechtigkeit geradezu an.

Bei meiner Freundin Nik ist die Tür angelehnt, und innen hört man jemanden schluchzen. Durch den Türspalt sehe ich ihre Tochter Fawn an die Wand gekauert sitzen; sie wankt und ihre Schultern beben. Fawn hat den dunklen Teint und die Locken von ihrer Mutter geerbt. Nik hat mir einmal erzählt, für sie hätte sich mit der Geburt ihrer Tochter alles verändert – von diesem Moment wäre ihr nur noch wichtig gewesen, eine bestmögliche Mutter zu sein, auch wenn sie dafür Grenzen überschreiten musste, die ihre Tochter nie überschreiten sollte.

Ich schiebe mich hinein und Fawn schreckt hoch. »Schhh. Ich bins nur, Kleine«, flüstere ich und gehe in die Hocke. »Wo ist deine Mama?«

Sie hebt den Kopf. Über ihre Wangen laufen Tränen. Ihr Schluchzen wird noch lauter und stärker; der ganze Körper zittert und schwankt, als müsse sie den Böen eines unsichtbaren Sturms standhalten. »Meine Zeit läuft ab«, sagt Fawn.

Ich frage nicht, was sie damit meint. Das weiß ich bereits. Ich höre Schritte, drehe mich um und sehe, dass Nik hinter mir steht. Sie hat die Arme verschränkt und ihr Blick ist voller Entsetzen.

»Sie hat es getan, um mich zu retten«, sagt Nik mit kratzender Stimme, als hätte sie geweint, aber ihre Tränen durch reine Willenskraft getrocknet. »Sie hat von Gorst Geld für Medizin von der Heilerin bekommen«

»Du lagst im Sterben«, sagt Fawn und wischt sich wütend die Tränen ab. Sie blickt mich an. »Ich hatte keine Wahl.«

»Doch, hattest du. Du hättest es mir sagen müssen. Ich hätte nicht zugelassen, dass du den Vertrag unterschreibst.«

Ich fasse die Hand meiner Freundin und drücke sie. Das Schlimme an der Verzweiflung ist, dass sie die richtige Entscheidung von der Liste der Möglichkeiten streicht. Nik weiß das nur zu gut.

»Ich werde an deiner Stelle gehen, Fawny. Verstanden?«, sagt Nik. Ihr ruhiger, entschlossener Gesichtsausdruck bricht mir das Herz.

»Und was geschieht dann mit mir?«, fragt Fawn.

Ich wünschte, sie wäre zu jung, um zu begreifen, dass ihre Mutter sie möglicherweise einem noch schlimmeren Schicksal aussetzt, wenn sie für sie einspringt. Niemand in Fairscape will ein zusätzliches Maul stopfen. Die Einzigen, die sich solche Wohltaten leisten könnten, sind zu gierig, um das auch nur in Betracht zu ziehen.

»Kannst du sie nicht aufnehmen, Brie?«, fragt Nik. »Du weißt, ich frage, weil mir keine andere Wahl bleibt. Nimm sie doch zu dir.«

Ich schüttle den Kopf. Ich würde es gerne tun, aber es würde entsetzliche Folgen haben, wenn Madame Vivias herausfindet, dass Fawn bei uns im Keller wohnt – nicht nur für Jas und mich. Auch für Fawn. »Es muss doch irgendjemanden geben …«

»Es gibt niemanden, das weißt du nur zu gut«, erwidert Nik ganz ohne jeden Vorwurf, aber resignierend.

»Wie viel schuldet sie?«

Nik verzieht das Gesicht und blickt weg. »Zu viel.«

»Wie. Viel.«

»Achttausend Raqon.«

Ich zucke unwillkürlich zusammen. Das sind zwei Monatsraten für Madame Vivias, einschließlich all ihrer »Zusatzstrafen«. Ich weiß nicht, wie viel ich heute Nacht aus Gorsts Schatzkammer geholt habe, aber es ist gut möglich, dass ich genügend in meinem Beutel habe.

Fawn sieht mich mit diesen großen Augen an, denen sie ihren Namen verdankt, und fleht darum, dass ich sie rette. Wenn ich mich weigere, dann ist Niks Leben zu Ende und Fawns wahrscheinlich auch. Im besten Fall endet sie dann als Dienstmagd bei irgendeiner reichen Adligen. Und schlimmstenfalls? Den Gedanken lasse ich nicht zu.

Nik erträumte sich etwas Besseres für ihre Tochter. Die Chance, etwas Besseres zu sein, es einmal besser zu haben. Aber wenn ich Madame V die Rate nicht bezahle, dann macht es für mich keinen Unterschied. Wir schulden zu viel und unser Leben ist zu sehr mit der Hexe verstrickt, von der wir seit Onkel Devlins Tod abhängig sind. Mich und Jas kann der Inhalt meines Beutels nicht retten – Fawn und Nik aber schon.

Ich greife in den Beutel und ziehe zwei Säckchen heraus. »Hier.«

Nik reißt die Augen auf. »Wo hast du das her?«

»Spielt keine Rolle. Nimm es.«

Mit großen Augen und offenem Mund späht Nik in die Säckchen und schüttelt den Kopf. »Brie, das geht nicht.«

»Doch, das geht. Ich will es so.«

Nik starrt mich einen langen Augenblick an, und ich sehe, wie in ihren Augen Verzweiflung und die Angst um mich miteinander ringen. Schließlich schließt sie mich in ihre Arme und drückt mich fest. »Ich zahle das zurück. Irgendwann. Irgendwie. Das schwöre ich.«

»Du schuldest mir nichts.« Ich mache mich los, möchte nur nach Hause und mich frisch machen. Und endlich schlafen. »Du würdest für mich und Jas dasselbe tun, wenn du könntest.«

Ihre Augen werden feucht und ich sehe, wie eine Träne hervorquillt, über ihre Wange läuft und ihr das Make-up verschmiert. Als sie meine blutige Hand sieht, verwandelt sich ihre Dankbarkeit in Sorge. »Was ist passiert?«

Ich mache eine Faust, um meine aufgeschlitzte Handfläche zu verbergen. »Ach, nichts. Nur eine Schramme.«

»Nur eine Schramme? Das ist eine üble Infektion.« Sie nickt in Richtung Schlafzimmer. »Komm. Ich kann da helfen.«

Da ich weiß, dass sie mich nicht ohne Streit gehen lässt, folge ich ihr in das winzige Zimmer mit der wackeligen Kommode und dem Bett, das sie sich mit ihrer Tochter teilt. Ich setze mich auf die Bettkante und sehe zu, während sie die Tür hinter sich schließt und das Nötige zusammensucht.

Sie hockt sich vor mich hin und streicht eine Salbe auf meine Wunde. »Das hast du dir beim Beschaffen des Geldes geholt.« Sie fragt gar nicht, also gebe ich mir keine Mühe, zu lügen. »Sonst bist du okay?«

Ich versuche stillzuhalten, während die Salbe einzieht. Meine Haut juckt, während sich die Wunde schließt. »Geht schon. Ich brauche jetzt nur was zu essen und ein Nickerchen.«

Ihre dunklen Augen blitzen ungläubig auf. »Ein Nickerchen? Brie, du bist so ausgelaugt, dass dich höchstens ein Koma wieder aufpäppeln würde.«

Ich lache – ich versuche es wenigstens, bringe aber nur ein lächerliches Maunzen zustande. So müde.

»Bei deiner Tante wieder eine Rate fällig?«

»Morgen.« Bei dem Gedanken muss ich heftig schlucken. Mit gerade mal siebzehn bin ich magisch an einen Vertrag gebunden, durch den ich, wenn alles so bleibt, für den Rest meines Lebens von Madame Vivias abhängig sein werde. Onkel Devlin war gerade gestorben und Mama hatte uns verlassen, als meine Schwester und ich uns vor neun Jahren zum Dienst verpflichteten. Die von Madame V geforderten Zahlungen erschienen vernünftig – jedenfalls besser als das unsichere Schicksal als Waisen –, aber wir waren nur kleine Mädchen, die nichts von Zinseszins verstanden oder der hinterhältigen Falle, die sie uns mit ihren Zusatzstrafen stellte. Genau wie Fawn, die den mit Gorst geschlossenen Vertrag im Grunde nicht verstand.

»Und dank uns«, sagt Nik, während sie nach der Gaze greift, »habt ihr jetzt wieder zu wenig.«

»Das ist es wert«, flüstere ich.

Nik kneift die Augen zu. »Diese Welt ist so verkorkst.« Fawn kann uns unmöglich hören, es sei denn, sie lauscht an der Tür, aber Nik senkt trotzdem die Stimme. »Ich habe da eine Freundin, die dir Arbeit geben könnte.«

Ich runzele die Stirn. »Was für eine Arbeit?« Es gibt keine Arbeit, bei der ich genug verdienen könnte. Keine außer – »Da könnte ich gleich für Creighton Gorst arbeiten, wenn ich das täte.«

»Creighton würde deinen halben Lohn für sich behalten.« Nik verbindet meine Hand und lächelt mich traurig an. »Es gibt Fae, die für die Gesellschaft einer schönen Frau gut bezahlen – und noch besser, wenn man einen Bund mit ihnen eingeht. Viel mehr, als Creighton bieten kann.«

»Fae?« Ich schüttle den Kopf. Eher würde ich mich auf Creightons grapschende Kunden einlassen, als mich einem Fae auszuliefern. Früher glaubte unser Volk, die Fae wären unsere Beschützer. Bevor sie den Himmel spalteten und die Portale öffneten, kamen sie nur im Zwielicht und in Geistergestalt zum Vorschein – nur Schatten oder Umrisse in den Bäumen, die wie etwas Lebendiges aussahen.

Die meisten Leute nannten sie Engel. Sie gingen auf die Knie und beteten, dass die Engel in der Nähe blieben, sie beschützten und über ihre kranken Kinder wachten. Als aber die Portale aufgingen und die Engel kamen und blieben, beschützten sie uns ganz und gar nicht.

Weil die Fae keine Engel sind. Sie sind Dämonen, und sie kamen, um uns auszubeuten, um Babys zu rauben und Menschen als Sklaven und als ihr Zuchtvieh zu benutzen. Tausende verleiteten sie dazu, ihnen ihr Leben zu übereignen, um in ihren Kriegen zu kämpfen. Erst als die Sieben Magier von Elora, die sieben wichtigsten dieser Welt, zusammenkamen, konnten wir ihnen an den Portalen den Zutritt verwehren. Jetzt können sie das Leben eines Menschen nur übernehmen, wenn es freiwillig geschenkt oder rechtmäßig dafür bezahlt wird – ein magischer Schutz, für den sich die schlauen Fae hundert Schlupflöcher haben einfallen lassen. Letztlich werden nur die Reichen und Mächtigen geschützt.

»Besser als nichts«, sagen viele Unterstützer der Sieben. »Es ist ein Anfang.« Oder schlimmer: »Wenn Leute nicht an die Fae verkauft werden wollen, sollten sie nicht so viele Schulden machen.«

»Warum sollten sie bezahlen, wenn sie Frauen einfach nur vorzugaukeln brauchen, dass sie bekommen, was immer sie sich wünschen?«, frage ich.

»Nicht so laut!« Nik wendet den Kopf, um zu sehen, ob die Tür immer noch geschlossen ist. »Es stimmt nicht alles, was man hört. Und meine Freundin kann –«

»Kommt nicht infrage. Ich werde eine andere Lösung finden.« Wenn ich eines mit Sicherheit weiß, dann, dass ich den Fae niemals trauen werde.

»Ich mache mir Sorgen um dich«, sagt Nik. »Die einzige Macht, die wir in dieser Welt haben, ist unsere Selbstständigkeit. Lass nicht zu, dass dich jemand in die Enge drängt. Lass nicht deine Verzweiflung Entscheidungen für dich treffen.«

Wie es bei Fawn gewesen ist. »Werde ich nicht«, verspreche ich, aber es fühlt sich an, als wüsste ich bereits, dass es eine Lüge ist. Ich bin ständig am Arbeiten und stehle so viel, wie ich ungestraft kann, und doch komme ich nicht über die Runden.

Und selbst wenn ich einverstanden wäre, meinen Körper zu verkaufen – was ich nicht bin –, ich würde trotzdem nichts mit den Fae zu tun haben wollen. Es ist mir egal, wie viel Geld sie bieten. Im Leben gibt es wichtigere Dinge als Geld. Sogar wichtigere Dinge als die Freiheit – wie zum Beispiel, sich um seine zwei kleinen Mädchen zu kümmern und sie nicht im Stich zu lassen, damit man sich mit seinem Fae-Liebhaber aus dem Staub machen kann.

***

»Ich kann dich hören, Mädchen«, sagt Madame Vivias noch im selben Moment, als ich die Hand auf den Türknauf zum Keller lege.

Ich kneife die Augen zu. Ich hätte durch die Kellertür hineingehen sollen, und es ist schon nach Mitternacht und ich habe keine Kraft für das, was auch immer sie mir jetzt auftragen wird. Ich senke den Kopf, drehe mich zu ihr um und mache einen kleinen Knicks. »Guten Abend, Tante V.«

»Guten Abend. Morgen ist Vollmond.«

»Ja, gnädige Frau.«

»Hast du mein Geld?«

Mein Blick bleibt an der Hand hängen, die sie in ihre Hüfte gestemmt hat – einen funkelnden Ring an jedem Finger. Jeder einzelne würde für die Monatsrate reichen. Ich hebe den Kopf nicht, gönne ihr nicht die Befriedigung, die Angst in meinen Augen zu sehen. »Morgen werde ich es haben, Madam.«

Sie schweigt so lange, dass ich wage, den Blick zu heben. Sie zupft die Juwelenketten zurecht, die ihr um den Hals hängen, und blickt mich mürrisch an. »Wenn du es heute nicht hast, wie stehen die Chancen, dass du es morgen haben wirst?«

Nicht besonders gut. Aber zugeben werde ich das erst, wenn es wirklich zu spät ist. Jedes Mal, wenn wir nicht pünktlich zahlen, läuft der Vertrag länger und die Raten steigen. Aus diesem Teufelskreis kommen wir nicht heraus. »Ich werde morgen bezahlen, Madam.«

»Abriella!«, hallt es schrill die Treppe herunter und ich zucke fast zusammen, als ich die Stimme meiner Cousine Cassia höre. »Meine Kleider müssen gewaschen werden!«

»In deinem Zimmer liegen frische Kleider«, antworte ich. »Ich habe sie heute Morgen erst gebügelt.«

»Das sind die falschen. Die kann ich morgen nicht zum Abendessen anziehen.«

»In meinem Zimmer muss sauber gemacht werden«, sagt ihre Schwester Stella, damit ich um Himmels willen nicht mehr für eine verzogene Cousine tue als für die andere. »Beim letzten Mal war sie nur ganz kurz dort drin, und es fühlt sich schon wieder schmutzig an.«

Madame V runzelt die Stirn und dreht sich zu mir um. »Du hast gehört, was sie sagen, Mädchen. Mach dich an die Arbeit.«

Der Schlaf muss noch ein paar Stunden warten. Ich drücke den Rücken durch und mache mich auf den Weg die Treppe hoch.