Ich stürze in Madame Vivias’ Büro und knalle dabei die Tür so heftig gegen die Wand, dass die Bilder dort scheppern. »Wo ist sie?«
Meine Tante erschrickt nicht einmal. Sie legt ihren Füller weg, tätschelt sich den Kopf und rückt den perfekten Knoten aus dunklem Haar zurecht, den sie mit Zauberformeln glänzend und dicht erhält. »Hallo Abriella. Herzlichen Glückwunsch zu deiner Freiheit.«
»Nein« , keuche ich, aber dann sehe ich ihn – den Aschehaufen auf der Ecke ihres Schreibtisches – alles was von einem erfüllten magischen Vertrag übrig bleibt. »Warum?«
»Irgendwann musste ich ja einmal den Schaden begrenzen.« Sie faltet die Arme vor der Brust und lehnt sich in ihrem Stuhl zurück. »Ich hätte das schon vor Monaten tun können, aber ich wollte abwarten, ob du noch einmal aufholen könntest.«
Mir ist, als hätte jemand alle Luft aus mir herausgequetscht und würde mich so festhalten, dass ich die Lungen nicht wieder auffüllen kann. Erst jetzt wird mir klar, dass ich gehofft habe, Cassia hätte gelogen. Mir wird klar, dass ich … Hoffnung gehegt hatte.
Madame V winkt mit der Hand, als wäre das alles so unbedeutend wie die Frage, wer das Abendessen vorbereitet, und es ginge nicht um das Leben meiner Schwester. »Deiner Schwester wird es in Faerie gut gehen. Ich bin mir sicher, sie wird dort alle bezaubern, genau wie hier.«
»Sie haben sie zur Sklavin gemacht. Man wird sie zu Tode schinden oder zum Vergnügen foltern … oder …« Den Rest kann ich gar nicht aussprechen, bringe es gar nicht fertig, die anderen entsetzlichen Möglichkeiten aufzuzählen. Das ist einfach nicht möglich.
»Jetzt mach hier kein Theater. Es ist wirklich das Beste, was sie sich für ihre Zukunft wünschen kann angesichts der Grube, die ihr beide euch geschaufelt habt. Was hätte sie denn tun sollen? Böden schrubben für den Rest ihres Lebens wie du? Oder sich an Männer verkaufen, die auf billige Zerstreuung aus sind?«
»Sie hätten mich warnen müssen. Ich hätte –«
»Was denn? Gestohlen, was zum Begleichen eurer Schulden fehlt?« Ihre hochgezogene Augenbraue lässt vermuten, dass sie alle meine Geheimnisse kennt. »Das hättest selbst du nicht geschafft, Abriella. Offen gestanden kannst du von Glück sagen, dass ich all diese Jahre darüber hinweggesehen habe. Ebenso gut hätte ich dich für dein verbotenes Treiben anzeigen können.«
»Aber das haben Sie nicht. Sie haben das Geld genommen, ganz egal, woher ich es hatte. Tausende haben Sie Monat für Monat an diesem ungerechten Vertrag verdient und Jas jetzt trotzdem verkauft.« Mein ganzer Körper brennt vor Wut und mein Blut kocht, dass ich nahe daran bin, mich zu vergessen.
»Komm schon. Sei nicht lächerlich. Sie werden ihr Fae-Wein zu trinken geben und ihr wird alles wie ein Traum vorkommen.«
Mir kommt es vor, als würde ich vibrieren. Ich möchte ihr die Juwelen herunterreißen und mit bloßen Händen zu Staub zermahlen. Ich will toben und schreien, bis ich aufwache und erfahre, dass das alles nur ein schrecklicher Albtraum ist.
»Jasalyn hat dich mit ihrem Opfer heute aus der Schuld erlöst – sei froh.«
»Wohin?«, frage ich. »Wo haben Sie sie hingebracht?« Ich werde sie finden. Um meine Schwester zurückzubekommen, werde ich das ganze gottverdammte Reich absuchen.
»Vielleicht verliebt sie sich ja in einen Fae-Lord«, sagt meine Tante, ohne auf meine Frage einzugehen. »Vielleicht lebt sie glücklich bis ans Ende ihrer Tage, wie in den Geschichten, die eure Mutter immer erzählt hat.« Jedes ihrer Worte trieft vor Abscheu. Ich will Madame Vivias in keiner Weise ähneln. Aber in diesem sind wir uns einig – ihrem Abscheu, ihrem Urteil. Ich hasse meine Mutter dafür, dass sie uns verlassen hat, dass sie uns bei ihrem Bruder gelassen hat, damit sie bei ihrem Fae-Geliebten bleiben kann. Dass sie uns zu einem Leben verurteilt hat, das uns an diesen Punkt gebracht hat.
»Wenn Jas stirbt, dann wird ihr Tod Sie hoffentlich bis zum letzten Tag Ihres Lebens verfolgen«, flüstere ich. »Und wenn sie verletzt wird, bitte ich, dass das Schicksal Sie doppelt so tief schneidet.«
»Jetzt hörst du dich wie eine von denen an, belegst wahllos anständige Leute mit Flüchen.«
»Anständige Leute verkaufen keine Mädchen an die Fae.«
Sie gackert. »Hast du denn nicht gesehen, in was für einer Welt wir leben, Abriella? Hast du gesehen, wovor ich euch bewahrt habe, als ich euch unter diesem Dach Schutz gewährte? Vielleicht hat deine Schwester ja Glück. Vielleicht solltest du dir wünschen, du hättest an ihrer Stelle gehen können.« Sie wedelt in Richtung Tür. »Aber jetzt hinaus. Geh und genieße deine Freiheit. Aber wenn du nicht einen Mietvertrag unterschreiben willst, wirst du dir einen neuen Platz zum Schlafen suchen müssen, und zwar ab sofort.«
Keine Nacht würde ich hierbleiben, selbst wenn sie mich dafür bezahlte, aber ich mache mir gar nicht die Mühe zu antworten. Ich ziehe die Bürotür hinter mir zu und eile in den Keller hinunter.
Unser Zimmer sieht eigentlich aus wie immer. Jas’ Nähzeug liegt ausgebreitet neben der Wand. Sie muss am Arbeiten gewesen sein, als Bakken sie geholt hat. Das Musselin-Modell für mein Kleid liegt zusammengefaltet am Fuß des Bettes, und ich presse es an meine Brust und achte nicht auf die pikenden Stecknadeln im Stoff.
Ich krabble ins Bett und rolle mich auf der Seite zusammen. Ich bin zu müde, um zu weinen, zu bestürzt, aber meine Augen brennen. Sie ist wirklich fort.
Es klickt an der Tür. Mit quietschen Angeln geht sie auf und schließt sich wieder mit einem Zischen. Ich spüre seine Gegenwart, ohne aufzublicken. Die Matratze bewegt sich, als Sebastian sich aufs Bett sinken lässt, das Gesicht mir zugewandt. Er fasst mich am Kinn und schiebt es hoch, sodass wir uns in die Augen sehen. »Hey …« mit dem Daumen wischt er meine Tränen ab. »Dann stimmt es also?«
Ich kann ihn nur anstarren – diese Augen wie eine stürmische See, diese Falte zwischen seinen Augenbrauen, die mehr über seine Angst und Sorge verrät, als es seine Worte wahrscheinlich tun werden.
»Brie?«
»Es stimmt.« Ich schlucke und versuche, mit ruhiger Stimme zu antworten. »Madame V hat sie verkauft.«
Er schließt die Augen und murmelt einen Fluch. »Ein Jahr«, flüstert er und beißt die Zähne zusammen. »Nur ein Jahr noch, dann hätte ich euch freikaufen können.«
»Das ist nicht deine Schuld, Bash. Gibt dir nicht die Schuld für das, was Madame V getan hat.«
Er atmet lange aus, öffnet die Augen, zieht meine Hand weg vom Musselin und fasst sie mit beiden Händen. »Bitte versprich mir, dass du nicht dort nach ihr suchen wirst. Ich ertrage den Gedanken nicht, was mit dir geschehen könnte, wenn du nach Faerie gehst.«
»Und was geschieht Jas dort jetzt?«
»Gib mir einfach eine Chance. Lass mich sehen, was ich herausfinden kann.«
Sebastian zieht morgen weiter und beginnt den nächsten Teil seiner Ausbildung. Ich weiß nicht, was er denkt, dass er für sie tun kann, aber ich nicke. Obwohl ich nicht glaube, dass er sie retten kann, werde ich seine Hilfe nicht ausschlagen.
Er lässt meine Hand los und blickt sich um in dem Raum, den ich mit meiner kleinen Schwester neun Jahre lang geteilt habe. »Wo wirst du hingehen?«, fragt er.
Ich besitze nicht viel. Ich könnte zusammenpacken und noch vor Sonnenuntergang von hier fort sein. »Meine Freundin Nik schuldet mir einen Gefallen. Ich werde bei ihr bleiben.« Bis ich mir einen Plan ausgedacht habe, wie ich Jas zurückbekommen kann.
Nik wird ein furchtbar schlechtes Gewissen haben wegen dem, was Madame V getan hat. Sie wird sich vielleicht sogar die Schuld geben, aber im Grunde weiß ich, wenn nicht heute, dann hätten wir schon bald eine andere Zahlung versäumt. Das Geld, das ich Nik gegeben habe, hätte Jas nicht retten können, wenn eine seelenlose Hexe ihr Leben in Händen hält.
»Es tut mir so leid«, sagt er und sieht mich fragend an.
»Mir auch.«
»Ich habe Magier Trifen versprochen, ihm mit seinem nächsten Kunden zur Hand zu gehen. Ist es okay, wenn ich gehe? Ich komme später wieder vorbei.«
Ich nicke und mir kommt die nächste Träne. Sebastian beobachtet, wie sie mir über die Wange läuft, und folgt ihr mit dem Daumen auf ihrem Weg. Seine Berührung ist so sanft, dass ich die Arme um ihn schlingen, mein Gesicht an seiner Brust vergraben und so tun möchte, als würde das alles gar nicht geschehen.
Stattdessen verabschiede ich mich von ihm und bin froh, dass er geht, wenn auch nur, damit ich einen Plan schmieden kann.
***
Madame Vivias’ Hauskobold wohnt unter der Treppe neben der Küche. Während ich leise mit der einen Hand klopfe, ziehe mit der anderen das Band aus meinem Haar.
Kobolde lieben Menschenhaar, -zähne und -nägel. Sie sammeln sie in der Art, wie die Königin von Seelie den Gerüchten nach Juwelen hortet. Wenn ich etwas aus Bakken herausbekommen will, brauche ich dafür mein Haar. Ich kann nur hoffen, dass er es umso mehr begehrt, weil ich es ihm all diese Jahre versagt habe.
Bei meinem zweiten Klopfen reißt er die Türe auf, und es weht ein schwacher Geruch nach faulem Obst aus seiner winzigen Kammer. Bakken ist ein typischer Hauskobold – klein, mit einem runden Bauch, spindeldürren Gliedmaßen und dünnen Lippen, die sich über seinen spitzen Zähnen nicht ganz schließen. »Guten Tag, Feuermädchen. Wie kann ich dir helfen?«
Ich ignoriere den Spitznamen, den ich bei ihm habe, seit wir bei Onkel Devlin eingezogen sind und ich Bakken zum ersten Mal getroffen habe. Damals nahm er meine Hand und schielte lüstern auf die Narbe an meinem Handgelenk – der einzige Beweis für die Verbrennungen, die mich hätten umbringen sollen. Damals war ich schockiert, dass er über das Feuer und mein überraschendes Überleben Bescheid wusste, während er mir völlig unbekannt war. Damals wusste ich nicht, dass Kobolde mit Geschichten handeln – Historien, Geheimnissen und Informationen. Bescheid zu wissen ist ihr Geschäft. »Bring mich zu meiner Schwester.«
Mehrmals kneift er die Augen zu, als würde er meine Forderung verarbeiten, schüttelt aber dann den Kopf. »So funktioniert das nicht.«
»Cassia hat gesagt, du hättest sie zu den Händlern gebracht. Du musst mir sagen, wer sie gekauft hat – und wie man sie retten kann.« Mein Herz rast viel zu schnell und ich kann mir nicht verkneifen, über die Schulter zu schauen, ob Madame V noch in ihrem Büro ist. Sie würde bestimmt nicht wollen, dass ich mit Bakken rede, und würde garantiert eine Möglichkeit finden, mich auch für dieses Recht bezahlen zu lassen – oder es mir gerade zum Trotz zu verweigern. Aber wenn ich nicht jetzt mit ihm spreche, werde ich wahrscheinlich keine Gelegenheit mehr dazu haben. »Bitte!«
»Das hat seinen Preis.« Er leckt sich mit spitzer Zunge die Lippen und kommt ganz nahe heran. Er späht in beiden Richtungen in den Korridor, zieht mich dann in seinen winzigen Raum und schließt hinter mir die Tür. Als sie mit einem Klick zuschnappt, fährt er mir mit einem langen, spitzen Fingernagel vom Ohr bis hinunter zur Schulter durchs Haar. Mir kribbelt vor Ekel die Haut, aber ich weiche nicht zurück. Er kichert selig. »So ein faszinierendes Rot. Als hätte dein Haar an jenem Tag die Farbe des Feuers angenommen.«
»Bring mich zu dem, der Jasalyn gekauft hat.«
Er runzelt die Stirn. »Warum denn das?«
»Ich möchte sie … Ich werde sie zurückkaufen.« Wenn ich die Summe irgendwie zusammenbringen will, muss ich wieder in Gorsts Schatzkammer einbrechen. Vielleicht muss ich sie diesmal ganz ausräumen. Aber das ist es wert.
»Es geht nicht immer nur um Geld, Sterbliche.« Bakken zieht die Augen zu Schlitzen zusammen und neigt den Kopf zur Seite. »In eurer Welt wäre man doch froh, man hätte ein Maul weniger zu stopfen, aber du scheinst … untröstlich zu sein? Merkwürdig.«
Unwillkürlich balle ich die Fäuste. Es ist bekannt, dass sich Kobolde zwischen den Reichen bewegen und Informationen sammeln. Nicht bekannt sind sie für ihr Mitgefühl. »Wo?«
»Lass es sein, Feuermädchen. Du willst dieses Schicksal nicht erleiden, das dich in Faerie erwartet.«
»Ich will meine Schwester zurückhaben. Sag mir, wo du sie hingebracht hast. Bitte.«
»Was gibst du mir für diese Information?«
Alles, was du willst, liegt mir wie eine saure Frucht auf der Zunge. Ich will es aussprechen, aber Kobolde nehmen einen beim Wort. Ich mache nicht den Fehler, mehr anzubieten, als ich geben kann. »Eine Locke meines Haars.«
»Ah, aber all dein Haar wäre mir lieber.« Er streckt die Hand aus, lässt sie aber sinken, bevor er mich berührt. »Es würde wirklich einen schönen Schal ergeben. Was soll ich mit einer einzelnen Locke anfangen?«
»Was könntest du mit nichts anfangen?«
Er grinst, aber ich sehe die Gier in seinen Augen, das verzweifelte Funkeln. »Zeige mir, wie viel.«
Ich nehme eine Strähne zwischen die Finger und halte sie ihm hin. »Von hier«, sage ich und zeige auf einen Punkt auf der Locke gleich unter meinem Auge, »bis zum Ende.« Jas trug ihr Haar um die Augen kürzer, sodass sie ihr Gesicht umrahmten. Mir hat immer gefallen, wie das die Aufmerksamkeit auf ihre Augen lenkt. Bakken darf natürlich nicht wissen, dass ich ihm etwas anbiete, was ich nicht vermissen werde; sonst würde er nur noch mehr fordern.
»Ja, das genügt.« Bevor ich Atem schöpfen kann, hat er schon ein Messer in der Hand und nimmt sich das Haar mit einem einzigen Klingenhieb.
Ich lasse mir den Schreck über seine Geschwindigkeit nicht anmerken. »Sage es mir.«
»Ich habe sie auf den Markt der Händler dem Gesandten des Königs gebracht, der sie zum Schattenkönig bringen sollte. Madame Vivias konnte der gebotenen Summe nicht widerstehen.«
Zum König? Das Blut in meinen Adern wird augenblicklich zu Eis und ich friere bis auf die Knochen. »Zu welchem König?«
»Der Gesandte brachte sie zu Seiner Hoheit König Mordeus«, sagt er, »der für das Leben deiner Schwester eine Menge bezahlt hat.«
Nein. Das darf nicht sein. Meine Schwester irgendeinem Fae abzukaufen oder zu stehlen ist eine Sache, aber sie von einem König zurückzubekommen – von Mordeus, dem Herrscher der Unseelie, dem Schattenkönig persönlich? Während Sterbliche die Seelie als »gute« Fae betrachten, ist das Königreich Unseelie der gefährlichste, tödlichste Ort für Menschen. Ihr König genießt den Ruf, am Foltern von Kreaturen aller Art großes Vergnügen zu finden. Menschen, die dieses Königreich betreten, kehren selten zurück – und wenn doch, dann nur als leere Hüllen ihrer selbst. Andererseits verfügt Mordeus über zahllose menschliche Sklaven. Vielleicht würde er ihr Fehlen nicht einmal bemerken. »Ein Menschenmädchen ist so gut wie das andere. Warum hat der König nicht eins der Mädchen gekauft, das nach Faerie gehen will? «
»Weil er Jasalyn Kincaid haben will, die Schwester des Feuermädchens, Tochter der schönen Sterblichen, die –«
»Ich weiß selbst, wer meine Schwester ist«, schnauze ich. Das hier muss ein Albtraum sein. Es ergibt keinen Sinn. »Warum will er ausgerechnet sie? Warum Jasalyn?«
»Es ist nicht an mir, den König infrage zu stellen. Vielleicht möchte er sie zu seiner Königin machen.« Sein Seufzer könnte als verträumt durchgehen, wenn er dabei nicht so … lüstern aussehen würde. »Vielleicht gefällt ihm ja einfach ihr kastanienbraunes Haar.«
»Wenn er kein Geld haben will, was will er dann? Was kann ich ihm sonst als Bezahlung anbieten?«
Bakken tippt sich mit einem langen, schmutzigen Fingernagel an die Schneidezähne. »Nichts ist König Mordeus so wichtig, wie seinen Platz auf dem Thron zu sichern.«
Ich schüttle den Kopf. »Aber er ist doch König. Was gibt es da abzusichern?«
»Manche behaupten, er wäre nicht König, nicht wirklich. Vor vielen Jahren hat Mordeus seinem Bruder den Thron gestohlen und nun wartet er auf den Tag, an dem sein Neffe – Prinz Finnian, Sohn von König Oberon und rechtmäßiger Erbe des Schattenthrons – aus dem Exil zurückkehrt und die Krone für sich beansprucht. Auch seine Untertanen warten darauf. Manche haben ihm Treue geschworen und werden für den Erhalt seiner Macht kämpfen. Andere glauben, der Hof der Schatten liegt wegen Mordeus’ Betrug im Sterben und wird sich erst erholen, wenn der rechtmäßige Erbe mit Oberons Krone auf dem Thron sitzt.«
Normalerweise wäre mir die Politik von Faerie egal, aber ich verstaue das Gesagte für den Fall, dass es mir später nützlich sein könnte. »Aber was hat das damit zu tun, wie ich Jas zurückbekommen kann?«
Er zieht die Lippen auseinander und lächelt mit seinen gelben, spitzen Zähnen. »Du darfst König Mordeus nicht unterschätzen. Er tut nichts zufällig. Bei jeder seiner Entscheidungen geht es um Macht – seine Macht.«
Was er sagt, ergibt in meinem Kopf einfach keinen Sinn. Jasalyn hatte nie mit den Fae zu tun – jedenfalls nicht, soweit ich weiß. Welche Macht gewinnt er durch ihre Versklavung? Hat es vielleicht etwas mit unserer Mutter zu tun? Aber das ergibt keinen Sinn. Hätte er sie aus irgendeinem Grund für unsere Mutter gefordert, würde sie dann nicht ihre beiden Töchter haben wollen, und nicht nur die jüngere? Und warum sollte sie sich nun plötzlich um uns kümmern, nach neun Jahren? »Bring mich zu meiner Schwester. Bitte.«
Bakken konzentriert sich auf die abgeschnittene Haarlocke in seinen Händen und streichelt sie liebevoll. »Das Reich der Schatten ist ein gefährlicher Ort für ein Menschenmädchen, sogar für ein Feuermädchen. Du wärst besser dran, wenn du deine Schwester vergisst und deine neue Freiheit genießt.«
»Das ist keine Option.«
Er lässt mein Haar in einer Tasche verschwinden. »Hinbringen kann ich dich nicht, aber für eine weitere Locke kann ich es dir erzählen. «
Ich denke nicht einmal darüber nach, als ich ihm eine fast identische Locke von der anderen Seite anbiete.
Seine Augen tanzen, als er sie abschneidet. »Um Mitternacht wird sich das Flussportal für die Feier der Geburt des Seelie-Prinzen öffnen. Dort kannst du den Hof der Sonne betreten und das geheime Portal der Königin zum Hof des Mondes. Es öffnet sich nur einmal am Tag, wenn die Uhr Mitternacht schlägt.«
Ich stutze. »Warum sollte die Königin der Seelie ein Portal zum Hof der Unseelie haben? Ich dachte, die beiden Reiche wären erbitterte Feinde.«
Bakken streicht über die zweite Locke und beachtet mich kaum. Er antwortet abwesend, so wie man eine Melodie summt, die man schon tausendmal gehört hat. »Einst war die Goldene Königin nur eine Prinzessin. Sie liebte Oberon, den Schattenkönig, und setzte viel aufs Spiel, um sich heimlich mit ihm zu treffen. Ihr Königreich führte seit Jahrhunderten Krieg gegen das Reich der Schatten, und ihre Eltern hätten niemals einen Besuch erlaubt.«
Ich runzle die Stirn. Das ist genau die Geschichte, die uns meine Mutter vor dem Schlafengehen immer erzählt hat – die Goldene Prinzessin und der Schattenkönig. »Ich dachte, das wäre nur eine Legende. Ist etwas davon wirklich wahr?«
»Was glaubst du, wovon Legenden ihren Ausgang nehmen, wenn nicht von der Wahrheit?«
Mit einem Mal wünsche ich mir, ich hätte mehr von den Geschichten meiner Mutter behalten, aber das ist alles sehr lange her, und jahrelang habe ich mich nur mit Widerwillen daran erinnert. Ich schüttle den Kopf und versuche, mich auf das Naheliegende zu konzentrieren. »Wo ist das Portal?«
»Du findest es in ihrem Kleiderschrank aus Kindertagen – einem massiven Stück mit Flügeln auf den Türen. Sie hat es nie über sich gebracht, ihn zu zerstören.«
Ich muss heftig schlucken. Das Reich des Lichts betreten, das geheime Portal der Königin suchen, um an den gefährlichsten Ort von Faerie zu gelangen, dann meine Schwester finden und sie vor einem machthungrigen König retten. Kinderspiel.
Bakken fängt meinen Blick auf und sieht mich verwundert an. Dann greift er in seine Tasche und zieht ein aus feinen Silberfäden gewirktes Armband heraus. Er bietet es mir auf der flachen Hand an. »Nimm es. Niemand außer dir wird es sehen oder an deinem Handgelenk fühlen können.«
Zwar habe ich schon von Koboldarmbändern gehört, aber noch nie eines gesehen. Die Silberfäden sind so fein, dass man sie kaum sieht, aber sie funkeln im Kerzenlicht.
»Jeder Faden steht für eine Geschichte in Faerie. Geschichten sind Macht, Feuermädchen. Wenn du mich brauchst, zerreiß einfach einen Faden, dann werde ich erscheinen.«
»Wenn ich einen von diesen zerreiße« – ich betrachte die Fäden vorsichtig, bevor ich ihn anblicke –, »dann wirst du mir helfen?«
Er nickt. »Ja. Aber aus tödlicher Gefahr kann ich dich nicht retten, also gib dir keine Mühe, wenn du drauf und dran bist, die nächste Mahlzeit von irgendeinem Untier zu werden. Aber mit Informationen über das Reisen im Reich kann ich helfen.«
»Zu welchem Preis?«
Sein Grinsen ist eher verschlagen als beruhigend. »Nur eine Haarlocke. Oder Zähne, wenn dir das lieber ist.«
Meine Hand zittert, als ich das Armband nehme. »Was ist, wenn ich einen Faden versehentlich abreiße?«
»Koboldfäden reißen nicht versehentlich. Es muss absichtlich geschehen.«
Ich schiebe das Armband über mein Handgelenk, wo es sich durch Magie augenblicklich zusammenzieht. »Ich danke dir, Bakken.« Ich greife nach der Tür und trete hinaus in den Gang.
»Feuermädchen!«, sagt Bakken und ich bleibe stehen. »Vergiss nicht: Der Schattenkönig ist schlau. Er wird dein Schicksal zu seinem Vorteil gegen dich ausspielen.«
Mich gegen mein Schicksal ausspielen? Was soll das überhaupt bedeuten? Fae-Rätsel. »Ich glaube nicht an das Schicksal, Bakken. Alles, woran mir liegt, ist meine Schwester.«
»Und genau das weiß der König.«