Im Schloss zu leben ist seltsam. Es sollte sich wie ein wahr gewordener Traum anfühlen. Tag für Tag werde ich verwöhnt, bekomme nur Köstlichkeiten zu essen und werde in prächtige Gewänder gekleidet. Ich versuche zwar, meine Dienerinnen dazu zu bringen, für mich Hosen aufzutreiben, aber eigentlich sind die in all diesem Luxus gar nicht nötig. Nachts schlafe ich unter allerweichsten Decken in einem warmen Bett.
Nie zuvor habe ich ein Leben wie dieses geführt und hätte auch nie gedacht, das einmal zu tun. Genießen kann ich es trotzdem nicht. Jeder Tag, an dem ich den Spiegel nicht finde, ist ein weiterer Tag, an dem meine Schwester eingesperrt bleibt. Der König sagt, sie sei in Sicherheit, aber was ist für ihn schon sicher?
Seit fünf Nächten bin ich bereits im Schloss, und trotz all der Pracht würde ich am liebsten aus der Haut fahren. Ich gehe mit den anderen Mädchen zu den Mahlzeiten, nehme Tanzstunden und höre mir lange Vorlesungen über die Geschichte des Seelie-Hofs und die Verbrechen der gesetzlosen Unseelie an. Kurz gesagt tue ich das Nötige, um diese Scharade als mögliche Braut fortzusetzen, und nutze jeden freien Augenblick, um Wege in die Gemächer der Königin zu erforschen. Dazu beobachte ich die Wachleute und auch das Kommen und Gehen der anderen Bediensteten.
Ich komme zwar im Augenblick mit dem Spiegel nicht weiter, hoffe aber, dass mir alles, was ich über das Schloss jetzt erfahre, meine späteren Aufgaben erleichtern wird. Je schneller ich diese Mission erfüllen und Jas nach Hause holen kann, desto besser.
Ich sehe zu meinem Fenster hinaus und suche den darunter liegenden Garten ab. Die Taglilien recken die Köpfe in die Sonne und ich muss an Sebastian denken. »Hört man etwas, wann der Prinz wieder zurückkehren wird?«, frage ich meine Mägde. Zur großen Enttäuschung der Mädchen ist Sebastian nur selten im Schloss, und ich frage mich, wie er seine möglichen Bräute überhaupt kennenlernen will, wenn er so oft weg ist.
»Er ist nicht fort«, antwortet Tess, während sie mir die Haare flicht, damit sie mir nicht ins Gesicht hängen. »Er verbringt den Tag mit einem der anderen Mädchen.«
Die Eifersucht liegt mir wie ein Stein im Magen. »Oh. Muss wohl eine Favoritin sein, oder?«
Meine Miene muss mich verraten, denn Tess lächelt mein Spiegelbild im Fenster neckisch an. »Ihr braucht Euch keine Sorgen zu machen. Alle wissen, dass er Euch bevorzugt.«
Und doch haben wir uns seit unserem Gespräch beim Tee in der Küche nicht mehr unterhalten. Er hat auch keinen Grund, seine knappe Zeit mit mir zu verbringen, wenn er weiß, dass ich nicht daran interessiert bin, seine Braut zu werden. Eigentlich sollte ich froh darüber sein – denn so habe ich mehr Zeit für meine Suche –, aber es fällt mir nicht leicht, mich von den Gefühlen zu verabschieden, die ich zwei Jahre lang für Sebastian gehegt habe.
»Bestimmt wird er bald Zeit mit Euch verbringen«, bemerkt Tess. Sie bindet den Zopf ab und beginnt auf der anderen Seite. »Außerdem weiß er womöglich, dass Ihr nicht verfügbar seid.«
»Ach, das bin ich nicht?«
»Ihr werdet heute Eure Lehrerin kennenlernen.«
»Meine Lehrerin?«, frage ich verwundert. »Für was?«
»Alle Mädchen bekommen Lehrerinnen zugewiesen. Sollte der junge Prinz Euch als seine Braut erwählen, müsst Ihr vorbereitet werden. Die Lehrerin wird Eure Manieren verbessern und dabei persönlich auf Euch eingehen.«
»Könnt ihr das nicht machen?«, frage ich. Ich mag meine Dienstmädchen gern und habe mich an sie gewöhnt. Ich will gar nicht, dass eine andere Person mich beobachtet.
Emmaline lacht im Badezimmer, wo sie gerade die Wanne schrubbt. »Wir sind doch keine Damen «, sagt sie und streckt den Kopf zur Tür heraus. »Nur Mägde.«
»Ich wette, ihr könntet mir alles beibringen, was eine Lehrerin kann.«
Die Zwillinge sehen sich an. Ich kann nicht sagen, ob sie nun belustigt oder verwundert sind. Vielleicht beides. »Jedenfalls«, sagt Tess, »muss Eure Lehrerin jeden Augenblick hier sein. Sie heißt Eurelody und arbeitet seit mehr als einem Jahrhundert mit den Historikern der Königin zusammen. Ihr könnt von Glück sagen, dass Ihr sie bekommt.«
Mehr als ein Jahrhundert. Vielleicht kennt sie ja auch den Terminplan der Königin und weiß, wann Arya das Schloss einmal für eine Reise verlässt. Wenn ich das nur diskret erfragen könnte …
»Können wir noch etwas für Euch tun, bevor wir gehen?«, fragt Emmaline.
»Nein, alles bestens. Vielen Dank.«
Ich weiß nicht, warum ich davon ausgegangen bin, dass Sebastian nicht im Schloss ist, nur weil er mich nicht besucht hat. Vielleicht habe ich ihn ja vor den Kopf gestoßen mit meinen Bemerkungen über seine heiligen Traditionen.
Oder er versucht eine Braut zu finden.
»In Gedanken verloren, wie ich sehe«, höre ich eine angenehme Stimme hinter mir sagen.
Ich drehe mich um zu einer kleinen und drallen Elfe mit rosigen Wangen und spitzen Ohren. Ihre durchsichtigen Flügel passen kaum durch die Tür. Ich setze ein Lächeln auf. Es ist ja nicht ihre Schuld, dass ich kein Interesse an unserem Zusammentreffen habe. »Hallo. Ihr müsst Eurelody sein. Ich bin Abriella.«
Die Frau mustert mich kurz, findet meinen Aufzug offenbar annehmbar und wendet sich gleich wieder um zur Tür. »Sehr gut. Dann wollen wir den Palast mal für eine Weile verlassen, nicht wahr?«
Mir stockt der Atem. Bis zu diesem Augenblick hatte ich gar nicht bemerkt, wie sehr ich mich zwischen diesen Mauern eingeschlossen fühlte. Nachdem ich im Wald beinahe umgekommen war, hatte ich nicht gewagt, mich Sebastians Anordnung, innerhalb der Palasttore zu bleiben, zu widersetzen, aber zusammen mit Eurelody kann bestimmt nichts passieren.
Sie ist schon auf dem Weg den Korridor hinunter, sodass mir nichts anderes übrig bleibt, als ihr zu folgen. »Wohin gehen wir denn?«
Sie macht sich nicht die Mühe, bei ihrer Antwort langsamer zu gehen oder sich zu mir umzublicken. »Wenn du eine Prinzessin werden willst, musst du deine künftigen Untertanen kennenlernen.«
***
Die Kutsche ist bequem mit Kissen gepolstert, und Vorhänge an den Fenstern sorgen für Privatsphäre. Als wir das Schloss verlassen, sitzen Eurelody und ich Knie an Knie, und es entgeht mir nicht, wie aufmerksam sie mich beobachtet, während ich die Landschaft draußen betrachte. Ich gebe mir keine Mühe, das Schweigen zu überbrücken, und sie ebenso wenig. Stattdessen konzentriere ich mich auf die sanften grünen Hügel, den Wald in der Ferne und die Berge jenseits davon. Obwohl ich weiß, wie gefährlich dieser Wald ist, finde ich ihn doch wunderschön. Alles im Reich der Seelies leuchtet im frischen Grün des Spätfrühlings. Ich frage mich, ob es im Reich der Schatten ebenso ist oder ob die Schatten-Fae im ewigen Winter leben.
Meilen vom Schloss entfernt biegen wir in ein nettes kleines Dorf ab. Die Kutsche holpert über Pflastersteine und ich werde hin und her geschüttelt, bis wir plötzlich stehen bleiben.
»Wir sind da«, sagt Eurelody.
Auf den von Fachwerkhäusern gesäumten Straßen bieten Fae aller Art den Passanten ihre Waren an. Der Duft nach frischem Brot und feinem Gebäck weht von einem Händlerkarren herüber. Ein Weinhändler schenkt einem Kunden eine Kostprobe ein, andere verkaufen Blumen, hübsche Stoffe oder Schmuck.
Fairscape hat auch einen solchen Markt. Als ich noch ein Kind war, nahm meine Mutter uns manchmal mit, wenn sie Besorgungen zu erledigen hatte für die reichen Leute, bei denen sie angestellt war. Sie wurde wegen Kerzen und Kleidung hergeschickt, oder wegen Gemälden für die Wände des großen Herrenhauses. Wenn wir brav waren, kaufte Mutter jeder von uns etwas Süßes. Ich stellte mir immer gern vor, dass wir für uns selbst einkaufen würden, dass wir uns solche Luxusartikel leisten könnten.
»Was sind das dort für kleine Wesen?«, frage ich Eurelody und nicke in Richtung winziger fliegender Wesen mit Schmetterlingsflügeln.
»Still, Mädchen.« Kopfschüttelnd zieht sie mich am Arm zu einer schmalen Gasse gegenüber dem Markt. Hier steht eine Reihe fast identischer Häuser, und sie führt mich die Eingangstreppe des dritten hinauf. Die Tür öffnet sich mit einem Quietschen, sie zieht mich hinein und wirft sich von innen dagegen, um sie zu schließen. »Elementargeister«, sagt sie und wedelt erbost mit dem Zeigefinger, »mögen es überhaupt nicht, wenn man sie klein nennt.«
»Aber sie –«
»Sie sind mächtiger, als sie aussehen, und boshafter, als du dir vorstellen kannst«, erklärt sie. »Manche nennen sie aus diesem Grund Gemeingeister, aber das ist abwertend, und viele Elementargeister empfinden das als Beleidigung. Wenn du einen Elementargeist verunglimpfst, wirst du möglicherweise von Feuerameisen angegriffen, oder ein Schwarm wild gewordener Bienen geht auf dich los.«
»Sie sind aber nicht alle so gemein«, höre ich eine tiefe Stimme sagen. »Manche sind ganz sanftmütig.«
Ich drehe mich nach rechts, weiche dann aber sofort zurück in Richtung Tür, als ich den Mann entdecke, der aus dem Zwielicht des Zimmers auftaucht. Kane. Der gehörnte Fae mit den roten Augen, der mich auf seiner Schulter zu Finn getragen hat.
Ich drehe mich weg von Kane und lächle meine Lehrerin an. Ich weiß nicht, wo wir sind, aber niemand von Königin Aryas Personal soll denken, ich würde mit dem Feind gemeinsame Sache machen. »Wir sollten gehen.«
Eurelody lächelt mich an, und dann beginnt die Luft um sie herum zu schimmern und ihre Haut leuchtet. Und plötzlich ist sie gar nicht mehr Eurelody, sondern Pretha. Offenbar hat diese Fae viele verschiedene Gesichter.
»Pretha … du –«, fauche ich sie an.
Sie lächelt und macht einen kleinen Knicks. »Nett von dir, dass du dich an meinen Namen erinnerst, Abriella.«
»Wo ist die echte Eurelody?«
»Sie hat die Stelle bei der Königin schon vor Jahren verlassen, aber jetzt zeige ich mich ab und zu in ihrer Gestalt und habe so problemlos Zugang zum Schloss. Die Königin hat so viele Bedienstete, dass es ihr gar nicht auffällt, dass ihre alte Gelehrte kaum noch forscht.«
Mein Blick geht zur Tür. Gehört die Kutsche, mit der wir gekommen sind, Pretha oder der Königin? Wenn ich hinausrenne, kann ich mich wohl nicht darauf verlassen, dass mich der Kutscher dorthin bringt, wo ich hinmöchte. »Sagt mir einen guten Grund, weshalb ich nicht zum Schloss zurückkehren und allen erzählen soll, wer du in Wirklichkeit bist.«
Sie verdreht die Augen und wendet sich an Kane. »Prinz Ronan findet sie so schlau und so besonders, aber wenn sie das wirklich wäre, dann würde sie doch alle Gründe wissen wollen, warum sie das der Königin nicht erzählen sollte, und nicht nur einen.«
»Der Prinz ist jung und geblendet von ihrer Schönheit«, sagt Kane. »Schon als sie nachts von der Schenke weggelaufen ist, hat sie bewiesen, dass es mit ihrem Verstand nicht so weit her ist.«
Ich verschränke die Arme. »Wenn ihr mich beleidigt, wird euch das nur einen Platz im Kerker der Königin einbringen.«
Meine Drohung scheint sie nicht weiter zu beunruhigen. Stattdessen streift Pretha lässig ihr Kleid ab und hängt es an den Haken neben der Tür. Sie zieht zuerst ihre Lederweste zurecht und dann den Degen an ihrer Seite. »Ich bin nicht deine Feindin, Abriella.«
»Aber als ich dir das letzte Mal entkam, wurde ich kurz darauf fast zum Abendessen eines Todeshundes. Soll ich das vielleicht für einen Zufall halten?«
»Glaubst du etwa, ich hätte den Barghest auf dich gehetzt?« Das silberne Tattoo auf ihrer Stirn scheint vor Entrüstung zu pulsieren.
»Du, Finn, Kane? Wo ist da der Unterschied?«
Kane schnaubt: »Warum sollten wir so etwas tun?«
»Weil ich nicht mit euch zusammenarbeiten will. Ganz ahnungslos bin ich auch nicht. Ich weiß, dass die Unseelie sich manchmal einen Barghest zum Gefährten nehmen.«
Kane lacht laut los, schüttelt dann den Kopf und geht. »Ich sage Finn, dass sie hier ist – und dass sie uns für Mörder hält, die über bösartige und mächtige Ungeheuer befehlen. Ein großartiger Beginn für eine neue Zusammenarbeit, da wird er mir zustimmen.«
»Wie kommst du nur auf diese Idee?«, fragt Pretha, ohne auf Kane zu achten. »War das etwa dein Prinz, der behauptet hat, das mit dem Barghest wäre unsere Schuld?«
»Das brauchte er gar nicht.«
»Du wolltest gehen, und wir haben dich gehen lassen«, meint Pretha verwundert. »Als du von der Schenke weggelaufen bist, bin ich dir in den Wald gefolgt. Finn hatte mir verboten, dir zu dicht auf den Fersen zu bleiben. Ich wollte nur sicherstellen, dass du sicher an deinem Ziel ankommst.«
»Ach? Hast du ihm denn erzählt, dass ich beinahe in Stücke gerissen worden wäre?«
»Ja.« Sie legt den Kopf auf die Seite. »Zum Glück sind diese Wölfe vorbeigekommen und haben das Untier abgelenkt.«
»Zum Glück ist Sebastian vorbeigekommen, um mich zu retten .«
»Dann hast du deinem Goldenen Prinzen seine Täuschung also schon vergeben?«, sagt Finn, der aus dem dunklen Flur in die Diele tritt. Ich war so mit Pretha beschäftigt, dass ich ihn im Gang gar nicht gehört habe. Aber vielleicht hätte ich das auch nicht, selbst wenn ich mir Mühe gegeben hätte. Er blickt Kane und Pretha an. »Ich sagte doch, es würde keine Woche dauern. Sieht aus, als schuldet mir jeder von euch fünf Golddukaten.«
»Wir schulden dir verdammt noch mal überhaupt nichts, Finn«, sagt Kane, der hinter ihm in die Diele tritt. »Das Mädchen hat die Frage nicht beantwortet.«
»Wenn das Mädchen diesem Jungen nicht vertrauen würde, wäre sie heute Morgen nicht mit Pretha in die Kutsche gestiegen«, bemerkt Finn.
Pretha schüttelt den Kopf. »Sie kann ihm vertrauen, ohne ihm zu vergeben. Das sind völlig verschiedene Gefühle.«
Sie haben darauf gewettet, ob ich Sebastian vergebe. Frechheit . »Wie schön, dass das alles so unterhaltsam für euch ist.«
Finns Silberaugen werden ganz hart und glitzern wie die Oberfläche eines gefrorenen Teichs im Mondschein. »Ich kann dir versichern, dass mich das nicht im Geringsten amüsiert«, sagt er. »Ich bin ungeduldig. Wenn man bedenkt, dass mein Onkel deine Schwester in seiner Gewalt hat, wundert es mich allerdings, dass es dir nicht genauso geht. Aber vielleicht bist du ja zufrieden damit, die Annehmlichkeiten des Lebens im Palast zu genießen, und bereitest dich eifrig auf dein Leben als die Prinzessin des Jungen vor.«
»Wie kannst du es wagen –« Ich weiche einen Schritt zurück, aber da bemerke ich zwei Paar leuchtender silberner Augen im dunklen Korridor. Zwei große Wölfe schleichen sich heran und bleiben zu beiden Seiten von Finn stehen.
Finn schnippt mit den Fingern, worauf sich die Wölfe hinsetzen, in meine Richtung schnuppern und leise winseln. Seit unserer Begegnung im Wald sind ihre Wunden verheilt, aber es besteht kein Zweifel, dass genau diese beiden Tiere dort den Barghest angegriffen haben.
Als ich weglief, war ihr silbergraues Fell blutbefleckt; jetzt ist es sauber und glänzt, und sie sind … viel größer als in meiner Erinnerung. Verglichen mit dem Barghest wirkten sie so klein, aber jetzt ist mir klar, wie gewaltig sie sind. Selbst im Sitzen sind sie nur einen Kopf kleiner als ich.
Ich reiße den Kopf zu Finn herum. »Das sind deine?«
»Sozusagen«, antwortet er und krault einen der beiden abwesend hinterm Ohr.
Pretha erklärt: »Ich habe dir doch gesagt, dass wir nicht deine Feinde sind, Abriella.«
Nachts im Wald hatte ich mich gefragt, ob die Wölfe den Barghest einfach nur aus dem Weg haben wollten, um an mich heranzukommen. Aber jetzt, wo ich sehe, wie sie freudig hechelnd die Aufmerksamkeit ihres Herrn genießen, wird mir klar, dass sie mir das Leben gerettet haben. Wenn Sebastian nicht aufgetaucht wäre, dann hätten sie weitergekämpft – bis entweder der Barghest tot gewesen wäre oder sie.
»Geht es ihnen wieder gut?«
»Jetzt schon«, antwortet Finn. »Dank meines Heilers.«
»Und wie heißen sie?«
»Dara und Luna«, sagt Finn. Die Wölfe stellen die Ohren auf, als sie ihren Namen hören.
»Darf ich?« Alle Augen im Raum sind auf mich gerichtet, als ich mich vorschiebe und ihnen meine Hand hinstrecke.
Auf einen von Finn leise gemurmelten Befehl erheben sich die Wölfe und kommen langsam auf mich zu. »Danke«, sage ich, gehe vor ihnen auf die Knie und strecke ihnen zum Beschnüffeln meine Handrücken hin. »Ihr habt mich beschützt.«
Die Wölfe lecken mir die Hände und reiben dann ihre Schnauzen daran wie große Katzen.
Als ich aufblicke, sehe ich etwas wie Verwunderung in Finns Augen, aber dann blinzelt er, und sie ist wieder dem gewohnten stahlharten Ausdruck gewichen. »Warum haben sie mich beschützt?«, frage ich.
»Weil ich es ihnen befohlen habe.«
»Das war furchtbar riskant. Sie hätten getötet werden können.«
Finn bestreitet das nicht. Stattdessen verschränkt er die Arme und lehnt sich mit der Schulter an die Wand. »Sie sind sehr treu, und da sie dich nun schon einmal beschützt haben, werden sie es auch weiterhin tun.«
Pretha seufzt theatralisch. »Obwohl es für alle Beteiligten sehr viel besser wäre, wenn du nicht wieder wegläufst und gerettet werden musst.«
Kane kichert. »Vielleicht gefällt es ihr ja, von ihrem Prinzen gerettet zu werden. Offenbar hatte er bei der Rückkehr in den Palast einen ziemlichen Auftritt, als er mit ihr in den Armen angerannt kam – als rettender Held einer Jungfer in Nöten.«
Das Bild, das er da zeichnet, lässt mir die Hitze in die Wangen schießen. Ich hasse es, wenn man mich so sieht, aber ich frage nicht, woher sie wissen, was sich im Schloss abgespielt hat. Offensichtlich spionieren sich hier alle gegenseitig nach. Ich wende mich an Finn: »Was wollt ihr von mir?«
»Das habe ich dir schon einmal gesagt.« Seine Stimme ist rau, als wäre er sehr, sehr müde. »Wir wollen dir helfen.«
»Warum wollt ihr mir helfen, wenn ich für den König arbeite, der sich deinen Tod wünscht?«
»Du meinst den falschen König«, bemerkt Kane scharf.
Finn schnippt mit den Fingern, und die Wölfe kommen gehorsam zurück an seine Seite. »Die fehlenden Gegenstände schwächen meinen Hof. Mein Volk leidet und ich tue, was ich kann, um ihm zu helfen.«
»Auch wenn das bedeutet, die … deinen Onkel zu stärken?« Ich rieche etwas, und Aufrichtigkeit ist es nicht.
»Mordeus«, sagt Finn ohne Kanes verächtlichen Tonfall, »könnte nur mächtiger werden, wenn er die Krone trägt.«
»Wo ist die Krone?«, frage ich verwundert.
»Dem Hof des Mondes fehlt die Krone meines Vaters schon viel zu lange«, sagt Finn. Er überlegt. »Ich vermute, du hast den Spiegel noch nicht gefunden?«
»Ich weiß, wo er ist, aber ich habe ihn noch nicht holen können«, räume ich ein.
»Und hast du versucht, deine Magie zu benutzen?«, fragt er. »Du weißt schon, diese Sache, die dich durch Wände und magische Schranken gehen lässt, als wären sie gar nicht da?«
Idiot.
»Wie sollte sie das tun, wenn sie nicht die geringste Kontrolle darüber hat?«, fragt Pretha, aber Finn bringt sie mit einem kurzen Blick zum Schweigen.
»Nein«, antworte ich auf Finns Frage. »Aber Pretha hat recht. Ich habe nicht genügend Kontrolle darüber. Das ist allerdings nicht das Problem. Die Königin lässt den Spiegel bewachen, und er ist immer von Licht umgeben. Selbst wenn ich voll über meine Fähigkeit verfügen könnte, würde sie mir dort nichts nutzen.«
Kane schnaubt: »Sie hat keine Ahnung, was?«
»Hört auf über mich zu reden, als wäre ich nicht im Zimmer«, schnauze ich ihn an. »Und wovon soll ich keine Ahnung haben?«
»Wie mächtig du bist«, antwortet Pretha. Sie neigt den Kopf zur Seite. »Keine Ahnung, wozu du imstande bist.«
»Wenn ich dir nun sage«, meint Finn leise, »dass deine Kraft niemals nutzlos ist. Dass du mächtig genug bist, eine so vollständige Finsternis heraufzubeschwören, dass es all ihr Licht völlig verschlingen würde?«
»Und wie geht so etwas?«, frage ich.
»Wir haben es beobachtet«, meint Finn achselzuckend.
»Was meinst du, Brie?«, fragt Pretha. »Wirst du dir von uns helfen lassen?«
Ich weiß nicht, ob ich Finn und seinen Leuten vertrauen kann. Auf keinen Fall aber kann ich es mir leisten, beim Versuch, den Spiegel zu holen, erwischt zu werden. Ich kann es mir nicht erlauben zu scheitern. Mit einem Blick auf die Wölfe treffe ich meine Entscheidung.
»Heute werde ich mit euch zusammenarbeiten. Bringt mir bei, was ich wissen muss, damit ich die Spiegel vertauschen kann.«
Finn zieht eine dunkle Augenbraue hoch. »Zuerst musst du wissen, dass du den Spiegel nicht benutzen darfst. Er ist kein Spielzeug für Menschenmädchen, hast du das verstanden?«
Na klar. Ich bin ja nur ein einfaches Menschenwesen und dieses kostbaren Spiegels unwürdig. Na wennschon . »Ich dachte, ihr bringt mir bei, wie ich meine Fähigkeiten einsetzen kann, um in den Wintergarten der Königin zu gelangen.«
»Warte.« Finn hält die Hand in die Höhe. »Du hattest nicht gesagt, dass der Spiegel in ihrem Wintergarten ist.«
Ich zucke mit den Achseln. »Nun, dort ist er. Und der Gang zu ihren Gemächern ist hell erleuchtet. In ihrem Wintergarten wird das wohl kaum anders sein, oder?«
»Das ist deine geringste Sorge«, sagt Finn.
Pretha hat die Stirn gerunzelt. »Wenn die Königin den Spiegel in ihrem heiligen Wintergarten aufbewahrt, dann kann ihn nur der Prinz oder die Königin selbst von dort holen.«
»Was passiert, wenn man es versucht?«, frage ich.
»Nichts«, antwortet Finn. »Du kannst ihn nicht mitnehmen. Die Gegenstände im Wintergarten der Königin können nicht bewegt werden, weder durch die stärksten noch die geschicktesten Hände. Du wirst noch erkennen, Prinzessin, dass in unserer Welt die wahre Magie an den freien Willen gebunden ist. Nicht einmal der stärkste Fae noch der größte Dieb können sich nehmen, was nur freiwillig gegeben werden kann.«
»Gibt es einen Gegenzauber?«, frage ich.
»Für alles gibt es einen Gegenzauber«, antwortet Kane.
Finn sieht Pretha an, aber sie schüttelt den Kopf. »Ich kenne ihn auch nicht«, sagt sie, »aber ich sehe mal, was ich darüber herausfinden kann. Inzwischen sollten wir uns aber etwas anderes überlegen.«
Ich kann nicht warten, bis Pretha einen Gegenzauber gefunden hat.
Nur der Prinz oder die Königin selbst können Gegenstände aus dem Wintergarten holen.
»Ist schon in Ordnung. Ich weiß, was ich tun muss«, antworte ich leise, und ich weiß wirklich nicht, warum mir das nicht schon früher eingefallen ist.
»Die Königin umbringen?«, fragt Kane und greift nach dem Dolch, der ihm im Gürtel steckt. »Dann lasst mich das bitte machen.«
Finn schüttelt den Kopf über seinen … seinen Freund? Seinen Leibwächter? »Sie würde dich in Stücke hacken und zur Abschreckung im Schlossgarten aufstellen.«
Kane macht ein mürrisches Gesicht.
Ich seufze. »Wenn nur die Königin oder der Prinz den Spiegel holen können, werde ich Prinz Ronan bitten, ihn für mich zu besorgen.«
»Im Ernst?«, fragt Kane. »Glaubst du, der Prinz wird dir einen derart wertvollen Gegenstand einfach so aushändigen?«
»Ja«, antworte ich und fühle schon jetzt mein schlechtes Gewissen. »Ihm liegt etwas an mir, und er möchte wiedergutmachen, dass er mich getäuscht hat.«
Pretha lächelt bedächtig und nickt. »Der einfachste Weg ist meistens der beste. Inzwischen werden wir wie geplant mit dir üben, und ich werde mich für alle Fälle nach dem Gegenzauber umhören. Wenn der Prinz dir den Spiegel nicht gibt, finden wir einen anderen Weg, wie du ihn stehlen kannst.«
»Du solltest ihn nett darum bitten, Prinzessin«, sagt Finn. »Du kannst mir glauben, wenn ich dir sage, dass du das nicht auf die harte Tour machen willst.«