KAPITEL

15

Die nächtliche Brise weht zum Fenster herein und verschafft mir kühle Linderung nach dem heißen Tag.

Ich habe Kopfschmerzen vorgeschützt und das Abendessen mit den anderen Mädchen ausgelassen. Nach meiner kleinen Trainingsrunde mit Finn bin ich geistig erschöpft, obwohl ich vielleicht noch ein paar Stunden durchgehalten hätte. Offen gestanden habe ich keine Lust, mitanzusehen, wie die anderen Mädchen Sebastian umschwärmen. Und ich will auch nicht sehen, wie er mit ihnen flirtet. Will nicht sehen, wie er sie anlächelt, so wie er mich früher angelächelt hat, und ich will auch nicht an seine gemeinsame Zukunft mit einer von ihnen denken.

Ich blicke zum Sternenhimmel hinauf, als es an der Tür klopft. Drei Schläge. Pause. Zwei Schläge.

Ich muss über Sebastians Klopfzeichen lächeln. »Komm rein.«

Die Tür geht einen Spalt auf und er streckt den Kopf herein. »Bist du allein?«

»Ja, die Dienstmädchen sind schon fort.«

Er schiebt sich ganz ins Zimmer. Er trägt eine rostbraune Lederhose und ein weißes, am Hals offenes Hemd, das die goldene Haut seiner Brust zur Geltung bringt. Das weiße Haar hängt ihm lose über die Schultern. Als Reaktion auf sein Lächeln zieht sich meine Brust zusammen, vor Sehnsucht nach Dingen, die ich nicht haben kann, mir nicht wünschen sollte. Mit ausladender Geste zaubert er etwas hinter seinem Rücken hervor, und meine Augen weiten sich, als ich den silbernen Spiegel erkenne. Er sieht haargenau aus wie der, den ich unter der Matratze versteckt habe. »Ist das … ist er das wirklich?«

»Der Spiegel der Entdeckung.« Er streckt ihn mir mit beiden Händen hin.

Als sich meine Finger um das kühle Metall schließen, pocht mein Herz heftig. Jetzt bin ich einen Schritt näher, Jas.

»Du siehst … überwältigt aus«, sagt er.

Ich reiße mich von meinem Spiegelbild los und sehe ihn an. »Wer wäre das nicht?«

Schüchtern lächelt er. »Jetzt überraschst du mich aber. Bis jetzt hast du dich immer so abfällig über meine Welt geäußert. Ich hatte nicht erwartet, dass du dich so für unsere heiligen Gegenstände interessierst.«

Genau . Ich muss schlucken. »Ich glaube, je länger ich hier bin, desto mehr liegt mir daran, euer Reich zu verstehen?« Es gelingt mir nicht, das nicht wie eine Frage klingen zu lassen.

Er schweigt eine ganze Weile. Befangen lächle ich ihn an und will mich gerade von ihm wegdrehen, als er meint: »Ist es denn so schlimm?«

»Was?«

Mit ausgebreiteten Armen deutet er das Zimmer, den Palast, ja wahrscheinlich seinen ganzen Hof an. »Hier zu sein. Ich weiß, du wolltest niemals hierherkommen, aber bist du … unglücklich?«

»Ich werde erst glücklich sein, wenn Jasalyn in Sicherheit ist.«

Er zieht den Kopf ein und reckt dann den Hals. »Natürlich. Das verstehe ich.«

Ich bin wirklich unmöglich. »Tut mir leid, Sebastian. Ich wollte nicht …«

Geradezu gequält fragt er: »Wirklich?« Ich will schon widersprechen, als er die Hand hebt. »Möchtest du ihn ausprobieren?« Er nickt in Richtung Spiegel. Ohne es zu wissen, drücke ich ihn immer noch fest an meine Brust.

Ich muss schlucken, halte ihn von mir weg und betrachte mein Spiegelbild. Ich hatte die Mägde am Abend gebeten, mein Haar herunterzulassen; meine Locken bilden ein wildes Durcheinander um mein Gesicht – gar nicht die gezähmten, vollkommenen Locken, die sie mir legen, wenn mich die beiden morgens für den Tag bereit machen. Aber mein Gesicht … mein Gesicht hat sich in den neun Tagen seit meiner Ankunft hier verändert. Nahrung im Überfluss und regelmäßiger Schlaf haben ihm gutgetan. Die dunklen Ringe unter den Augen sind verblasst, und meine Wangen längst nicht mehr so eingefallen. Mir geht es hier wirklich gut, aber was ist mit Jas? Bis zu diesem Moment war gar nicht klar, wie sehr ich mich vor der Antwort auf diese Frage fürchte. »Wie funktioniert er denn?«

»Er zeigt dir, was du sehen willst. Oder das sollte er. Ich weiß nicht, ob ihn je eine sterbliche Person benutzt hat.« Sein Blick ist überaus freundlich und er nickt mir aufmunternd zu. »Sag ihm, was er dir zeigen soll.«

»Zeige mir Jasalyn«, sage ich leise.

Die Luft um den Spiegel beginnt vor Magie zu flimmern, und er scheint in meiner Hand zu vibrieren, während mein Spiegelbild verblasst. Das Glas zeigt jetzt eine prächtige Schlafkammer. Es ist, als würde man durch ein Fenster blicken. Jasalyn sitzt vor einer Frisierkommode und lächelt ihr Spiegelbild an, während Dienstmädchen ihr das Haar bürsten. Das Geräusch, das mir über die Lippen kommt, ist zur Hälfte Schrei und zur Hälfte Ächzen. Sie sieht gut aus. Ihre Wangen sind vor Lachen gerötet und ihr Gesicht wirkt voller, als hätte sie, genau wie ich, in Faerie besser gegessen als je zuvor.

»Ich vermisse meine Schwester«, sagt Jas lächelnd zu ihren Dienstmädchen. »Sie würde euch beide mögen.«

Die Magd, die ihr das Haar bürstet, sieht ihr im Spiegel in die Augen und lächelt. »Ich habe keinen Zweifel, dass ihr bald wieder vereint sein werdet.«

Jas beißt sich auf die Unterlippe. »Ich hoffe es. Ich muss ihr so viel erzählen.«

Das Bild verschwindet, und ich sehe wieder mich selbst im Spiegel.

»Und?«

Ich sehe auf zu Sebastian, der mich erwartungsvoll mustert. »Hast du das nicht gehört?«, frage ich.

Kopfschütteln. »Ich kann nicht sehen, was du siehst. Und wenn ich ihn halte, könntest du nicht sehen, was ich sehe. Hat es funktioniert?«

Ich nicke und gebe mir keine Mühe, mein Lächeln zu verbergen. »Es geht ihr gut. Ich fehle ihr, aber es geht ihr gut und sie scheint es bequem zu haben. Sie ist nicht« – mir schnürt es die Kehle zusammen, und es fühlt sich an, als müsste ich das Wort durch eine sehr enge Stelle hindurchpressen – »alleine.«

Sebastian atmet erleichtert durch. »Gut«, murmelt er, fast für sich. »Dann haben wir wohl noch etwas Zeit.«

Ich presse den Spiegel wieder an meine Brust. »Danke, Sebastian. Vielen Dank dafür.«

»Gern geschehen«, antwortet er leise. »Ich möchte doch nur, dass du hier glücklich bist, dich sicher fühlst und darauf vertraust, dass ich alles dafür tue, um Jas zurückzuholen.« Er kommt näher, blickt mich eindringlich an, und mein Herz pocht aufs Neue. »Machst du einen Spaziergang mit mir?«

Ich hole tief Luft. »Natürlich.« Ich rede mir ein, dass ich ihm nur die nötige Aufmerksamkeit gebe, damit ich bleiben darf, rede mir ein, dass ich das Nötige tue, um auch den nächsten Gegenstand für den König zurückzuholen, aber während der vergangenen Tage hat mir Sebastian wirklich gefehlt. Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit ich ihn beim Trainingsplatz besucht und um den Spiegel gebeten habe.

Ich war bei Pretha, während er Gott weiß wo war, und mir hat sein aufmunterndes Lächeln gefehlt. Seine Wärme.

Ich hebe den Spiegel hoch. »Den lasse ich besser hier, damit ihn niemand sieht.«

»Natürlich.« Er nickt.

Ich ziehe an meinem Sekretär eine Schublade auf und lege den Spiegel behutsam hinein. Dann fällt mir meine Nachtkleidung ein und ich recke verlegen den Rücken gerade. »Ich sollte mir etwas anziehen.«

»Du siehst bestens aus.«

Passend zum lauen Sommerabend trage ich weite, fließende rosafarbene Hosen, die tief auf meinen Hüften sitzen, und das dazu passende ärmellose Schlafoberteil mit U-Ausschnitt und nichts als weicher Spitze um die Taille. Ich runzele die Stirn. »Würden es die Bediensteten nicht seltsam finden, wenn ich im Schlafanzug mit ihrem Prinzen spazieren gehe? Außerdem sehe ich furchtbar aus.«

Sein Blick wandert zärtlich wie eine Liebkosung über mich hinweg. »Du bist wunderschön, ganz egal was du trägst.« Mir steigt die Hitze in die Wangen und tief in meinem Bauch sammelt sich Wärme. Als er noch näher kommt, ist jede Zelle meines Körpers in Habachtstellung. »Wenn du willst, könnte ich einen Verhüllungszauber verwenden, damit uns niemand sieht.«

»Du … du kannst so etwas tun?« Außer seinem Kampf gegen den Barghest und dem Betäuben meiner Wunde danach habe ich Sebastian noch nicht viel von seiner Fae-Magie einsetzen sehen.

Grinsend schnippt er mit den Fingern. »Schon geschehen.«

»Aber ich kann dich immer noch sehen«, sage ich verwundert.

»Und ich dich auch.« Sein Blick wandert langsam über mich, als wolle er damit sagen, dass er es gar nicht anders haben möchte. »Aber niemand sonst kann uns sehen oder hören, wenn wir miteinander reden. Vertraust du mir?«

Das ist eine Fangfrage, die ich so noch nicht beantworten kann. Bevor ich hierherkam und herausfand, wer er ist, habe ich ihm bedingungslos vertraut, aber dieses Vertrauen hat er verletzt. Und jetzt? Er hat mir den Spiegel gegeben, damit ich nach Jas sehen kann, und er sucht nach ihr. Es wäre leicht, ihm wieder zu vertrauen. Vielleicht zu leicht.

Als könne er die Richtung meiner Gedanken spüren, schiebt er das Kinn vor. »Wir schaffen das. Ich werde es mir wieder verdienen. Versprochen.« Er reicht mir die Hand und ich ergreife sie, nehme die Wärme seiner Haut wahr, seine rauen Finger, die sich mit meinen verflechten.

Händchen haltend gehen wir hinaus auf den Flur, vorbei an Wachleuten und Dienern, die den Palast für die Nacht fertig machen. Keiner sieht durch Sebastians Trugzauber hindurch und ich frage mich, was er wohl davon halten würde, wenn er wüsste, dass ich so etwas ebenfalls kann – wenn auch weniger wirkungsvoll und dauerhaft. Früher wäre er der Erste gewesen, dem ich von meinen Fähigkeiten hätte erzählen wollen. Inzwischen bin ich froh, dass ich meine Gabe damals in Fairscape noch nicht als solche erkannt habe. Ich hätte ihm sofort alles erzählt, und meine Aufgabe hier wäre unmöglich zu erfüllen gewesen.

»Wollen wir hinaus in die Gärten?«, fragt er.

Mit einem Blick auf meine nackten Füße beiße ich mir auf die Lippe. »Sollte ich mir nicht lieber ein Paar Schuhe holen?«

»Die Gärten sind makellos. Man kann dort ohne Gefahr barfuß laufen.«

Eigentlich kann ich mir nichts Schöneres vorstellen, als an einem warmen Abend im Mondschein spazieren zu gehen und das kühle Gras unter den Zehen zu spüren. Ich drücke seine Hand und lasse mich von ihm durch eine Glastür hinaus in einen weitläufigen Gartenhof führen. Davon gibt es im Palast unzählige, auch an diesem bin ich schon vorbeigekommen, habe ihn aber noch nicht besucht.

Wir schlendern bis zur Mitte und ich bleibe unter der silbernen Sichel des abnehmenden Mondes stehen. Mit geschlossenen Augen atme ich durch die Nase den Duft von Rosen und Lilien ein. Beinahe könnte ich schwören, das Mondlicht zu riechen.

Als ich die Augen wieder aufschlage, beobachtet mich Sebastian. »Was denn?«, frage ich verblüfft.

Er schluckt. »Ich sehe es wirklich sehr gern, wenn du so loslassen kannst. Du lässt dich nicht oft gehen, aber wenn du es tust …« Er hebt die Hand und berührt meinen Hals. »Du bist atemberaubend.« Seine Finger verweilen bei meinem Ohr, und für einen Augenblick glaube ich, er würde sie in mein Haar schieben … und vielleicht endlich seinen Mund zu meinem herabsenken. Doch er reißt sich wieder los und betrachtet einen Brunnen, der mitten in einem Rosenbeet plätschert.

Enttäuschung nagt an mir. Ich senke den Kopf und versuche mich zusammenzureißen und mich daran zu erinnern, was ich will – was ich von Sebastian brauche – und das ist kein Kuss.

»Ich weiß, dass du dir nie ein Leben in Faerie gewünscht hast«, sagt Sebastian, den Blick immer noch auf den Brunnen gerichtet. »Aber … ich möchte wissen, ob du dir vorstellen kannst, hier glücklich zu sein. Ich muss wissen, ob … ob ich vielleicht das Glück haben kann, dich zu einem Leben mit mir zu überreden.«

Ein Leben mit ihm. In Faerie. Für immer. Er fragt mich, ob ich als verhätschelte Prinzessin leben möchte, eingesperrt in einem Schloss. Blind für die vielen menschlichen Bediensteten, die ein solches Leben ermöglichen? Selbst wenn die Diener im Goldenen Palast ein besseres Leben führen, als ich es mir je hätte vorstellen können, wie soll ich selbst Teil einer Welt werden, in der so viele Menschen als Ware behandelt werden?

Hat Finn recht, wenn er glaubt, ich wäre so leicht dazu zu bringen, ein solches Leben zu akzeptieren?

Nein. Auch wenn ein Teil von mir Sebastian wiederhaben will – immer noch? –, ist es nicht das Leben, das ich mir wünsche.

Wenn ich aber weiter im Schloss bleiben will, muss ich Sebastian wohl glauben machen, dass ich es mir vorstellen könnte. Auch wenn etwas Zerbrechliches in meiner Brust zerdrückt wird, wenn ich ihn anlüge. »Das ist schwierig für mich«, flüstere ich, und die Wahrheit der Worte schwingt in meiner Stimme mit. »Ich müsste lügen, wenn ich behauptete, ich wäre für ein Leben in Faerie bereit.«

Er lässt den Kopf hängen. Wenn er mich doch ansehen würde.

»Aber verlassen möchte ich dich auch nicht«, sage ich. Und selbst das stimmt, wie mir klar wird. »Kannst du mir noch etwas Zeit geben?«

Mein Herz pocht heftig und befeuert mein schlechtes Gewissen. Ich will so aufrichtig wie möglich sein. »Es fällt mir leicht, mir ein Leben mit dir vorzustellen, Bash. Es ist all das andere, das mir Probleme macht.«

Er schüttelt den Kopf und in seinen Augen steht so etwas wie Verwunderung. »Danke.«

»Wofür?«

»Dass du mir verzeihst. Dass du jetzt mit mir hier bist. Ich nehme das nicht für selbstverständlich hin.«

Ich schlucke. Ich verdiene dich nicht. Du solltest mir nicht vertrauen.

Als er wieder meine Hand ergreift, führt er mich zu einer steinernen Bank, auf die wir uns setzen, das Mondlicht in uns aufsaugen, über nichts sprechen und einfach nur den Duft der Blumen einatmen. Die Nacht war mir von allen Tageszeiten schon immer die liebste, aber hier in Faerie bringt sie die Kraft unter meiner Haut zum Summen und gibt mir das Gefühl, fliegen zu können. Und hier neben Sebastian fühlt es sich an, als könnte ich glücklich sein.

»Meine Mutter liebt diese Gärten«, sagt er. »Als sie jünger war, hat sie jede freie Minute bei den Blumen verbracht. Vater fand sie manchmal mitten in der Nacht hier und musste sie zurück ins Bett zerren.«

»Deine Mutter hat deinen Vater erwähnt, als ich ihr vorgestellt wurde. Sie sagte, du hättest das weiche Herz von König Castan geerbt. Ich wette, er wäre stolz auf dich.«

Sebastian legt den Kopf schief. »Das wäre schön.«

»Was ist mit ihm geschehen?«

»Er wurde vor einigen Jahren bei einem Attentat auf meine Mutter getötet.«

Mir stockt der Atem. »Von wem?«

»Von einer Gruppe abtrünniger Fae aus unserem Reich, die nun für die Unseelie kämpfen.«

Mich schaudert in der nächtlichen Brise, aber es ist mein schlechtes Gewissen, nicht die milde Luft, das mir die Haut kribbeln lässt. Ich sollte nicht meine Zeit mit Gedanken an eine gemeinsame Zukunft mit Sebastian verschwenden. Wenn er wüsste, dass ich mit dem Unseelie-Prinzen und seiner Bande von Außenseitern zusammenarbeite, wäre von dieser Zukunft keine Rede mehr. »Das tut mir leid«, flüstere ich, aber ich weiß, eine Entschuldigung ist nicht genug für einen solchen Verrat.

Er seufzt. »Der Krieg mag vorüber sein, aber die Spannungen zwischen unseren Höfen sind ernster denn je. Manche glauben, sie sind nur aufzulösen, wenn die Monarchie an beiden Höfen abgeschafft wird und ein Neubeginn stattfindet.«

»Und was glaubst du?«

Er betrachtet mich lange. »Ich glaube, dass Veränderungen bevorstehen. Und dass der richtige Anführer beide Höfe vereinigen könnte.« Er schüttelt den Kopf und blickt auf. »Aber das ist genug Politik für einen Abend. Bringen wir dich wieder nach drinnen.«

Schweigend gehen wir zurück in den Palast. Ich spüre sofort, wie mir die Nachtluft und die Einsamkeit des Gartens fehlen.

Drinnen passiert uns eine Gruppe Mädchen in aufreizenden Kleidern auf dem Weg zum Ballsaal. Da die Königin unterwegs ist und meine Anwesenheit nicht erforderlich ist, hatte ich ganz vergessen, dass heute Abend ein Tanz stattfindet. Meine Mägde sind wahrscheinlich schon in meinem Zimmer und hoffen, dass sich meine Kopfschmerzen gebessert haben, damit sie mich wie eine Puppe verkleiden können.

»Solltest du nicht dort mit dabei sein?«, frage ich Sebastian und hoffe, dass er meinen eifersüchtigen Unterton nicht bemerkt.

»Ich glaube, wir wissen beide, dass ich den Abend lieber mit dir verbringe.«

Wieder fühle ich dieses Flattern im Bauch, aber ich beachte es nicht und stoße ihn stattdessen mit der Schulter an. »Du bist wirklich schamlos beim Flirten.« Ich beiße mir auf die Lippe und versuche, mir die Frage zu verkneifen, die mich schon den ganzen Tag beschäftigt.

»Was denn?«, fragt er. »Ich kenne diesen Blick. Woran denkst du?« Lächelnd hakt er sich bei mir unter und führt mich zur Küche. Wenn er mich so ansieht, ist es nur zu leicht, in ihm wieder den Jungen von früher zu sehen und alles andere zu vergessen.

»Du sagtest, du würdest zu mir nach Fairscape zurückkommen.«

»Das habe ich ernst gemeint.« Wir gehen in die Küche. Wie beim letzten Mal ist niemand hier, aber es riecht nach Brathähnchen, Kürbisgemüse und Eintopf – eine bittersüße Erinnerung daran, wie leicht das Leben hier ist.

»Aber wie hätte das gehen sollen, Bash? Hattest du vor, nach Hause zu gehen, dir eine Frau zu suchen und dann als verheirateter Mann zu mir nach Fairscape zurückzukehren?«

Er streckt den Rücken durch. »Ich habe Hunger. Du auch?«

»Geh der Frage nicht aus dem Weg.«

»Tue ich nicht. Aber ich muss etwas essen.« Er lächelt und zeigt mit dem Finger auf den großen Kühler an der Wand. »Es gibt Eis. Frisch zubereitet.«

Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Ich kenne Eiscreme noch aus meiner Kindheit. In Fairscape ist das etwas ganz Besonderes. Frische Milch ist teuer, und wenn das Eis zubereitet ist, muss man es sofort essen, denn nur in den reichsten Haushalten von Elora gibt es Eisschränke, in denen Gefrorenes ständig zur Hand ist. Ist so das Leben in Faerie? Eiscreme in jeder Küche? Jeden Tag mit cremiger Süße auf der Zunge ausklingen lassen? Ich runzele die Stirn und gebe vor, darüber nachzudenken und mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr ich mich danach sehne. »Welche Sorte?«

»Wir haben alle möglichen Sorten, aber wenn ich mich recht erinnere, muss bei dir auf jeden Fall Schokolade dabei sein.«

Bei diesen Worten fühle ich mich plötzlich verletzlich, und aus irgendeinem Grund sind mir mein Schlafanzug und die nackten Füße plötzlich wieder sehr bewusst. Letztes Jahr hat Sebastian mir zum Geburtstag Schokolade mitgebracht. Nur eine kleine Portion von einem Händler auf dem Markt. Es war ein solcher Genuss … ich war einfach überwältigt, aber diese kleine Geste nahm ihn damals noch mehr für mich ein. »Schokolade hört sich gut an.«

Als er aus dem Schrank zwei Schälchen nimmt, muss ich lachen.

Er grinst. »Was ist denn?«

»Was mühselige Tätigkeiten wie das Portionieren von Eiscreme betrifft, habe ich immer gedacht, die Fae würden dazu ihre Magie benutzen.« Oder ihre Diener .

»Das wäre pure Angeberei«, antwortet er augenzwinkernd.

Und wenn Magie Leben ist, wie Finn es beschrieben hat, vielleicht benutzen sie sie dann gar nicht so gedankenlos.

Sebastian löffelt eine ordentliche Portion Schokoladeneis in die beiden Schälchen und reicht mir eines.

Wir essen schweigend, an gegenüberliegende Arbeitsflächen gelehnt wie zuletzt beim Tee, und meine Schüssel ist schon halb leer, als er wieder etwas sagt. »Ich wollte zurückkommen, sobald ich in der Lage war, dich aus deinem Vertrag zu befreien. Um ehrlich zu sein, habe ich mir nie erlaubt, zu weit in die Zukunft zu planen. Ich wusste, dass du mich hassen würdest, sobald du erfährst, wer ich bin, aber ich habe mir geschworen, dir zu helfen, sobald es in meiner Macht steht, ob du mich nun haben willst oder nicht.«

Eigentlich möchte ich darauf hinweisen, dass er ein Prinz ist, und ihn fragen, warum er uns nicht früher geholfen hat, aber nach allem, was er für mich getan hat, würde ich dabei wie eine undankbare Göre klingen. So rühre ich nur in der schmelzenden Eiscreme in meinem Schälchen. »Wenn wir Jas zurückholen, könntest du dafür sorgen, dass sie für eine Weile hierbleiben kann? Vielleicht nicht sofort, wenn du dann immer noch auf Brautschau bist, aber … irgendwann vielleicht? Ich hätte gerne, dass sie weiß, wie es hier ist, denn wenn wir erst wieder im Reich der Menschen sind, kann ich ihr so etwas wie hier nicht einmal annähernd bieten.«

Dass Sebastian näher kommt, spüre ich eher, als dass ich es sehe. Mit einem Finger hebt er mein Kinn an, sodass ich ihn ansehe. »Wenn ich König bin, könnt du und deine Schwester jederzeit hier im Palast wohnen.« Der Rest steht ungesagt im Raum: Wenn ich seine Braut werde, brauche ich nicht zu warten, bis er König ist. Und vielleicht …, wenn ich ehrlich mit mir bin, klingt das wirklich verlockend. Wenn da nicht meine Abmachung wäre.

Gefangen in meinen Gedanken, genieße ich schweigend den Rest Schokoladeneis. Als ich fertig bin, stellt Sebastian das Geschirr in die Spüle und bringt mich zurück zu meinem Zimmer.

»Danke für diesen Abend«, sagt er, als wir vor meiner Tür stehen bleiben. »Es war schön, dich für mich zu haben, auch wenn die Minuten allzu schnell vergangen sind.«

»Das war wirklich schön«, räume ich ein. »Danke.«

Sein Blick sinkt auf meinen Mund und seine Lippen öffnen sich.

Finns Worte klingen mir im Ohr. Du bist nur wenige süße Versprechungen und zärtliche Augenblicke davon entfernt, die Braut dieses Jungen zu werden, und alle wissen das.

Ich weiche zurück. »Gute Nacht, Sebastian.«

***

Mit dem Spiegel unter meinem Kopfkissen lege ich mich schlafen und rechne damit, dass Mordeus’ Kobold irgendwann während der Nacht in meinem Zimmer auftaucht. Aber das tut er nicht.

Morgens nach dem Frühstück schiebe ich wieder Kopfschmerzen vor als Ausrede, die Ausbildung mit meiner »Lehrerin« ausfallen zu lassen, und warte stattdessen mit dem Spiegel in meinem Zimmer. Ich möchte ihn so schnell wie möglich dem König übergeben, damit ich mit der Suche nach dem nächsten Gegenstand beginnen kann.

Offenbar folgt Mordeus’ Kobold aber seinem eigenen Zeitplan.

Ich verbringe viel Zeit damit, Jas im Spiegel zu beobachten, und während ich im Bett weiter auf den Kobold warte, genehmige ich mir einen weiteren Blick. Heute ist sie am Nähen, sie trinkt Tee und lacht mit ihren Dienstmädchen.

Ich schließe die Augen und presse den Spiegel an meine Brust. Ist es wirklich möglich, dass so gut für sie gesorgt wird? Ich möchte es glauben, aber etwas in meinem Hinterkopf warnt mich, dieser Magie nicht zu leicht zu vertrauen. Selbst Sebastian war sich nicht sicher, ob der Spiegel bei mir funktionieren würde. Woher weiß er, dass ich dem trauen kann, was ich sehe? Ich muss wirklich wissen, ob es Jas gut geht.

Ich setze mich im Bett auf. Es muss ja gar nicht so kompliziert sein. Ich habe immer noch den Spiegel, also kann ich ihn testen.

»Zeige mir Sebastian.«

Mein Spiegelbild verblasst und ich sehe den Goldenen Prinzen. Er sitzt in seinen Gemächern am Schreibtisch und konzentriert sich mit ernster Miene auf das Buch, das er liest.

Ich springe vom Bett auf, tausche den Spiegel gegen die Nachbildung und laufe dann durch den Palast.

Auf halbem Weg kommen mir Bedenken. Wenn er nun woanders hingeht, bevor ich bei ihm ankomme? Und was, wenn er den Spiegel als Fälschung erkennt, wenn ich ihn zurückgebe? Jeder Zweifel lässt mich noch schneller laufen und als sich seine Tür erreiche, bin ich außer Atem.

Als der Wachmann, der vor Sebastians Gemächern postiert ist, mich entdeckt, verbeugt er sich lächelnd. »Lady Abriella.«

»Ist er hier?«

Der Mann nickt. »Ja, Mylady. Ich kann Euch sofort hineinführen. Er sagte, Ihr seid immer willkommen.« Er hält mir die Tür auf und ich trete ein. Seit der Nacht, als ich von dem Barghest angegriffen wurde, bin ich nicht mehr hier gewesen. Inzwischen habe ich mich ein bisschen an die Pracht des Schlosses gewöhnt, damals hatte ich aber keine Gelegenheit, den Raum in seiner ganzen Schönheit wahrzunehmen – die dunklen Holzmöbel, die Sitzgruppe, die allein so weitläufig wie das ganze Erdgeschoss von Madame Vivias’ Haus ist, die raumhohen Fenster an der Hinterwand.

Ich finde Sebastian am Schreibtisch sitzen, genau wie ich es im Spiegel gesehen habe, und vergehe fast vor Erleichterung. Es funktioniert also. Jas geht es gut.

Sebastian blickt von seinem Buch auf und lächelt mich an. »Hallo, du.«

Ich gebe mir keine Mühe, mein Grinsen zu verbergen. Dass ich Jas gut versorgt weiß, nimmt mir eine ungeheure Last von den Schultern. Ich könnte tanzen vor Freude. »Hey!«

Er schließt sein Buch und drückt sich aus seinem Stuhl hoch. »Die Diener sagten, du wärst krank und hättest bei deiner Lehrerin für den Tag abgesagt. Alles in Ordnung?«

Ich nicke, fast ein bisschen aufgedreht. »Ich war einfach müde.«

Er streicht mir eine kürzere Haarlocke aus dem Gesicht hinters Ohr. Sie bleibt nicht dort, aber ich glaube, ihm ist die Gelegenheit, mich zu berühren, nicht unangenehm. »Du bist meinetwegen zu lange aufgeblieben. Das tut mir leid.«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.« Ich strecke ihm den falschen Spiegel hin. »Ich habe gestern vergessen, dir das zurückzugeben.«

»Stimmt. Ich war … abgelenkt.« Er lächelt und nimmt ihn mir aus der Hand, wobei seine Finger meine Haut streifen. »Ich will das hier wirklich nicht abkürzen, wenn ich dich gerade für mich habe, aber ich muss jetzt dringend zu einer Besprechung.«

Ich trete zurück. »Natürlich. Entschuldigung. Ich wollte dich nicht aufhalten.«

»Ich habe einen Hinweis, was Jas betrifft.« Er verstaut den Spiegel in einer Schublade. »Ich muss mich jetzt mit einem meiner Informanten treffen.«

»Was wirst du tun, wenn du weißt, wo sie ist?«

Seine meergrünen Augen erstarren zu Eis. »Was immer nötig ist.«

Mir presst es das Herz zusammen. Ich werde weiterhin alles tun, um Jas zu befreien, aber wenn es Sebastian gelingen sollte, bevor ich alle drei Gegenstände besorgt habe, umso besser. »Sei vorsichtig«, flüstere ich. »Ich habe gehört, der König sei sehr gerissen und könnte deine eigenen Leute gegen dich aufhetzen. Pass auf dich auf.«

»Vorsichtig?« Er legt seine große Hand an mein Gesicht und lächelt zu mir herunter. »Sollte sich Abriella Kincaid möglicherweise um das Schicksal eines boshaften Fae Sorgen machen?«

»Du bist nicht boshaft«, widerspreche ich. Und dann verschwinde ich rasch aus seinem Zimmer, weil ich mich tatsächlich sorge. Ich sorge mich zu sehr.

***

Wüsste ich nur, wie ich zum König Kontakt aufnehmen kann. Fast den ganzen Tag habe ich allein in meinem Zimmer zugebracht, und noch immer ist der Kobold nicht aufgetaucht, um den Spiegel zu holen. Dann kommt mir der Gedanke, dass der Kobold vielleicht nicht ins Schloss kommen kann, und ich sage den Mägden, dass ich spazieren gehen möchte.

Ich verlasse das Schloss und spaziere durch die Gärten zu dem Ort, wo mich Mordeus’ Kobold beim letzten Mal zurückgelassen hat.

Ich halte die Augen offen. Ich gehe auf und ab. Ich liege im Gras, starre hinauf in die Wolken und lasse mir von der Sonne das Gesicht wärmen.

Er taucht nicht auf.