»Feuermädchen. Wach auf«, flüstert mir eine Reibeisenstimme ins Ohr.
Nachdem Pretha mich in den Palast zurückgebracht hatte, war ich sofort zu Bett gegangen – ich ärgerte mich über mich selbst, weil ich Leute belauscht hatte, die mir vertrauten. Noch mehr ärgerte ich mich nur über …, na ja, über die seltsamen Gefühle, die in mir aufgestiegen waren, als ich sah, wie Finn dieses Mädchen küsste.
»Feuermädchen.« Ein spitzer Fingernagel kratzt über meine Ohrmuschel und ich reiße die Augen auf.
König Mordeus’ Kobold kauert über meinem Kissen.
Na endlich.
»Warum hast du so lange gebraucht?«, zische ich und schwinge die Beine über die Bettkante.
»Der König war beschäftigt, Mädchen. Er arbeitet nach seinem eigenen Zeitplan.«
Ich schnaube verächtlich. Alle Fae scheinen nach ihrem eigenen Zeitplan zu arbeiten. Ich gebe der Unsterblichkeit die Schuld daran, dass ihnen jedes Gespür für Dringlichkeit zu fehlen scheint. »Ich muss mich noch anziehen.«
Er schüttelt den Kopf. »Keine Zeit.«
Ich schaue auf mein dünnes Nachthemd herab. »Soll das ein Witz sein? So gehe ich auf keinen Fall.«
»Entweder jetzt gleich, oder du wartest noch eine Woche. Wie du willst.«
Mit einem wütenden Blick in seine Richtung schnappe ich mir meine Tasche, die ich unter meine Matratze geschoben habe. Noch bevor ich mich wieder zu dem Kobold umdrehen kann, haben sich seine rissigen Finger schon um mein Handgelenk gekrallt. Das Zimmer verschwindet.
Keine Sekunde später sind wir im Palast des Mondes angelangt, aber nicht, wie ich erwartet hätte, im Thronsaal. Stattdessen stehe ich im Eingang eines kleinen Wohnzimmers. Der König fläzt sich lässig auf einem roten Armsessel. Der Kobold lässt meinen Arm los, das Zimmer beginnt sich zu drehen, und ich plumpse auf den Boden, weil ich mein Gleichgewicht noch nicht wiedergefunden habe.
Saure Galle steigt mir in die Kehle, und ich presse mir den Handrücken auf den Mund.
»Abriella, du siehst ganz bezaubernd aus«, sagt der König. Heute ist er komplett in Schwarz gekleidet – seine Hose, die gestärkte Tunika und der Samtumhang, der seine Schultern umhüllt. Sogar seine Fingernägel sind schwarz lackiert. Zu seiner Linken und Rechten stehen jeweils drei Wachen, die gelegentlich ihre gespaltenen Zungenspitzen hervorstrecken, als könnten sie Gefahr in der Luft schmecken.
Mir ist speiübel, aber ich strecke das Kinn nach vorn. Ich werde vor diesem Fae keine Schwäche zeigen – obwohl ich es, ehrlich gesagt, ganz amüsant fände, mich auf den König zu übergeben. »Ich habe Euren Spiegel seit einer Woche. Es gefällt mir nicht, wenn man mich warten lässt.«
»Mir auch nicht«, sagt er in gelangweiltem Tonfall. »Und du hast länger gebraucht, als ich erwartet habe. Meine Spione sagen, du hättest schließlich den Goldenen Prinzen direkt darum gebeten – das war wirklich clever. Ich hätte zu gern gesehen, welche Bezahlung er für diesen Gefallen gefordert hat. Hoffentlich hat er sie voll und ganz ausgekostet.«
Meine Übelkeit wird von Wut abgelöst, aus meinen Fingerspitzen sickern Stränge aus Dunkelheit in den Marmorboden. Die Wachen des Königs greifen nach ihren Schwertern, und ich betrachte die endlosen Abgründe, die sich in dem zerbröckelnden Marmor auftun.
Was genau meine Macht auch sein mag, im Unseelie-Palast blüht sie geradezu auf.
»Na so was.« Die Augen des Königs verdunkeln sich, und er betrachtet mit geblähten Nüstern, was ich angerichtet habe. »Wie ich sehe, hast du noch nicht gelernt, deine Magie zu kontrollieren.«
Ich habe offenbar noch nicht einmal gelernt, was meine Magie alles vermag . Dass ich so etwas kann, wusste ich bisher definitiv nicht. Aber ich balle die Faust und konzentriere mich darauf, die Kraft wieder in mich selbst zurückzuziehen. Ich stelle mir vor, wie sie sich in meinen Eingeweiden zusammenrollt, dort aber nicht einschläft, sondern wie eine Schlange wartet – wachsam, jederzeit bereit zum Angriff.
Der König mustert mich aufmerksam.
»Für eine solche Gabe würde ich einiges geben.«
Mir ist egal, was er über meine Kräfte denkt, und ich will hier nicht länger bleiben als unbedingt notwendig. Nicht der Hof selbst ist mir unangenehm, sondern Mordeus. Er sieht mich an, als wolle er in mein Gehirn kriechen und sich dort ausgiebig umschauen. Mich gruselt es vor ihm. Ich rappele mich vom Boden auf und ziehe so gut es geht mein Nachthemd zurecht. »Lasst mich meine Schwester sehen.«
»Du weißt, dass das nicht geht.«
»Lasst mich sie sehen, dann gebe ich Euch den Spiegel.«
»Wie du bereits gemerkt hast, kannst du deine Schwester in dem Spiegel sehen«, sagt er.
Ich will gar nicht wissen, woher er das weiß. Bei der Vorstellung, dass seine Spione mich in meinem Zimmer bespitzelt haben könnten, läuft es mir eiskalt den Rücken hinunter. Aber nein. Das war bestimmt nur ein Schuss ins Blaue. »Das genügt mir nicht.«
»Das muss es aber«, erwidert er achselzuckend. »Mehr kann ich dir nicht anbieten. Hat es dir gefallen? Letzte Woche alles sehen zu können, was du dir gewünscht hast?«
Ich schüttele den Kopf. »Ich will sie sehen. Von Angesicht zu Angesicht.« Es ist zu lange her, und ich spüre ihre Abwesenheit wie ein Loch in meiner Seele.
»Setz dich.« Mordeus greift in die Luft und holt aus dem Nichts eine Karaffe mit dunkelroter Flüssigkeit hervor. »Trinken wir auf deinen Erfolg.«
Fae-Wein trinken? Nie im Leben. »Nein, danke.«
»Ich bestehe darauf.« Er schenkt zwei Gläser ein und deutet auf den leeren Sessel neben sich. »Wir trinken, und dann erzähle ich dir von dem nächsten Artefakt, das du für mich aufspüren sollst, damit du deine Schwester ganz schnell wieder von Angesicht zu Angesicht sehen kannst.«
Katz und Maus. Er spielt Katz und Maus mit mir . Mit meinem letzten Rest Geduld – und nur, weil mir keine andere Wahl bleibt, betrete ich das Zimmer und setze mich. Das Glas, das er mir reicht, akzeptiere ich. Vielleicht kommt er so schneller zum Wesentlichen.
Mordeus erhebt sein Glas. »Auf die Macht«, sagt er. Ich ziehe die Augenbraue hoch, und er hält inne, das Glas auf halbem Weg zum Mund. »Nein?«
»In meiner Welt bedeutet Macht die Fähigkeit, jemanden um sein Leben zu betrügen, ihm alle Wahlmöglichkeiten zu nehmen und seinen freien Willen zu brechen.« Seine durchdringenden grauen Augen hängen wie gebannt an mir, und ich habe das Gefühl, dass er zu vieles sehen kann. Ich drehe das Glas zwischen den Händen und betrachte die Flüssigkeit darin. »Auf Macht will ich nicht trinken.«
»Worauf dann?«
Ich halte seinen Blick und lasse das Schweigen zwischen uns noch einen Moment andauern. Dann erhebe auch ich mein Glas. »Auf gehaltene Versprechen.«
»Ah, natürlich. Du sorgst dich immer noch um deine Schwester.« Er nickt. »Darauf trinke ich, denn ich freue mich schon darauf, dass du deines hältst.« Sein Lächeln jagt mir kalte Schauer über den Rücken, als wir anstoßen. Während er trinkt, beobachte ich ihn und rühre meinen Wein ein paar endlose Minuten lang nicht an, bis er einen genervten Seufzer von sich gibt. »Wir reden erst über die Informationen, auf die du wartest, wenn du getrunken hast, Mädchen.«
Ich will mich wehren, aber was würde das bringen? Diesem Fae geht es nur um Macht, und den größten Teil seiner eigenen hat er gestohlen. Er wird nicht den geringsten Widerstand dulden. Ich nehme ein winziges Schlückchen. Der Wein ist süß und samtig, und in meiner Brust breitet sich angenehme Wärme aus. »Was ist das zweite Artefakt?«, dränge ich dann.
Er grinst. »Du machst wirklich nie Pause, was? Willst du nicht erst mal deinen Wein genießen?«
Wütend starre ich ihn an.
Mordeus lehnt sich in seinem Sessel zurück. »Das zweite Artefakt nennt sich Grimoricon, und es wird wesentlich schwieriger zu beschaffen sein als der Spiegel.«
Natürlich. Ich kann schließlich nicht erwarten, dass Sebastian mir alles beschafft, was ich brauche, um meine Schwester zurückzubekommen. Obwohl ich allmählich glaube, dass er es tun würde – für mich, und für Jas. Aber leider kann ich ihm nichts davon erzählen, sonst ist mein Handel mit Mordeus hinfällig. »Was ist das Grimoricon?«
»Du kennst es vielleicht als das Große Buch. Es ist die Heilige Schrift von Faerie, darin finden sich die frühesten Zauberformeln und die Magie der Alten.«
»Ein Buch?«
Er trinkt einen weiteren Schluck Wein. »Mehr oder weniger. Etwas so Mächtiges kann nicht von Buchseiten allein gebändigt werden, also kann das Grimoricon seine Form und sein Aussehen verändern. So ist das bei allen bedeutenden magischen Texten.«
»In was kann es sich verwandeln?« Der Schluck Wein scheint mir bisher nicht geschadet zu haben, also wage ich einen zweiten. Er schmeckt wirklich köstlich. Außerdem wird er mich ja wohl kaum unter Drogen setzen, wenn er will, dass ich ihm dieses Buch besorge.
»In alles Mögliche , Mädchen. Es kann und wird sich in alles Mögliche verwandeln, wenn es Gefahr spürt.«
Ein Buch, das Gefahr spürt und seine Form verändert. Sieht so aus, als hätten wir mit dem einfachsten Artefakt angefangen. »Wo ist es?«
»Das kann ich dir nicht sagen. Die Seelie haben es während des Kriegs gestohlen und bewachen es seitdem, obwohl es meinem Hof gehört und die Goldenen Fae seine Magie nicht nutzen können.«
»Warum haben sie es dann gestohlen?«
Er nimmt einen weiteren Schluck und starrt ins Leere, als würde er innerlich die Erinnerungen von Jahrtausenden durchgehen, um eine Antwort zu finden. »Aus demselben Grund, aus dem sie auch alles andere gestohlen haben. Um uns zu schwächen.«
»Ihr wollt also, dass ich ein Buch für Euch finde, das sich an einem unbekannten Ort im Seelie-Reich befindet und aussehen kann wie alles Mögliche? « Eine Nadel im Heuhaufen suchen ist ein Kinderspiel dagegen. Wenn man die gefunden hat, weiß man wenigstens, dass sie das Gesuchte ist. Es wäre durchaus möglich, dass ich jede Nacht neben dem Grimoricon schlafe und keine Ahnung davon habe. »Du darfst den Spiegel behalten«, sagt er und senkt den Blick auf meinen Schoß, wo ich den Spiegel so stark umklammere, dass meine Knöchel weiß hervortreten.
Bisher habe ich jeden Gedanken daran, dass ich den Spiegel – meine einzige Verbindung zu Jas – abgeben muss, beiseitegeschoben, weil ich ihn nicht ertragen konnte. Jetzt, da ich weiß, dass ich immer nach ihr sehen kann, sacke ich vor Erleichterung in mich zusammen.
»Viel Glück.«
***
Mordeus’ Kobold bringt mich in einem Augenblick vom Unseelie-Palast zurück in den Schlossgarten der Königin.
»Warum konntest du mich aus meinem Zimmer holen, mich aber nicht dorthin zurückbringen?«, frage ich ihn und kämpfe gegen die Übelkeit, die Koboldreisen mit sich bringen.
»Weil in deinen Gemächern ein Besucher wartet«, sagt der Kobold. »Ich habe kein Interesse daran, heute einen Kopf kürzer gemacht zu werden.«
»Aber woher weißt du das?«, frage ich.
Der Kobold wirft mir ein Grinsen zu, das all seine gelben, spitzen Zähne entblößt. Dann verschwindet er.
Ich hatte nicht das Gefühl, länger als ein paar Stunden im Unseelie-Palast verbracht zu haben, aber die Sonne steht bereits hoch am Himmel. Die Gärten sind voller Dienstboten, die sich um die Blumen kümmern, und der Duft von Lavendel und Rosen lockt mich auf dem Weg zum Palasteingang. Es wäre so schön, sich hier ein Weilchen hinzusetzen, vielleicht kurz die Augen zu schließen, mein Gesicht von der Sonne wärmen und mich von dem Gezwitscher der Vögel in den Schlaf singen zu lassen. Aber ich widerstehe der Versuchung. Wenn in meinem Zimmer wirklich jemand auf mich wartet, dann will ich wissen, wer es ist.
»Er wartet schon den ganzen Morgen dort«, sagt eine sirupsüße Stimme hinter mir. »Der Prinz könnte aber Verdacht schöpfen, wenn du auf einmal im Nachthemd dort auftauchst.« Als ich mich umdrehe, entdecke ich »Eurelody«, die vor einer Kutsche steht und mich zu sich winkt. »Ich habe deine Dienstmädchen schon darüber informiert, dass du heute den ganzen Tag mit mir trainieren wirst.«
Ich verziehe das Gesicht. »Ich bin zu müde zum Trainieren.«
»Und meine Ohren sind zu hübsch, um sich Gejammer anzuhören, aber so ist es nun mal. Na, komm.«
Ich wehre mich nicht – mit dem Nachthemd hat sie nämlich recht. Aber als wir das Haus betreten, landen wir im Chaos.
»Lass mich durch, Tynan«, blafft Jalek.
»Nein.«
»Das ist doch lächerlich. Ich gehe auf Patrouille und nicht …«
»Erstens glaube ich das nicht«, sagt Tynan. »Und zweitens ist es völlig egal, wo du hingehen willst. Hier bist du am sichersten.« Pretha schiebt mich durch die Tür, an den Streithähnen vorbei.
Streitigkeiten sind hier nichts Ungewöhnliches, aber dies ist kein typisches Wortgefecht. Jalek trägt seine Lederkluft und hat sein Breitschwert auf den Rücken geschnallt. Er starrt Tynan, dessen Emotionen sein silbernes Netztattoo glühen lassen, wütend an. Finn steht breitbeinig zwischen ihnen und schaut zwischen seinen Freunden hin und her.
»Bitte, Jalek.« Tynan flüstert jetzt. »Sei doch vernünftig.«
»Es war nur ein Traum«, sagt Jalek. Er verschränkt die Arme und schaut Finn an.
»Bitte erklär ihm, dass ich nicht bis in alle Ewigkeit in meinem Zimmer bleiben werde, nur weil ich einen Albtraum hatte.«
»Das war nicht nur ein Albtraum. Ich habe sie gehört .« Tynan vibriert beinahe vor Frustration. »Schau mir in die Augen und sag mir, dass die Banshee nicht auf deiner Brust saß, als du aufgewacht bist. Schwör mir, dass du heute nicht mehr Angst davor hast, durch diese Tür zu gehen, als an jedem anderen Tag.«
»Du musst nicht gehen, Jalek«, sagt Finn. »Ich werde Kane schicken.«
»Kane braucht eine Pause«. Er war die halbe Nacht unterwegs, um das neue Portal zu schützen.
»Was ist eine Banshee?«, frage ich, und drei Köpfe drehen sich zu mir um. Jalek schaut Tynan genervt an. »Unsinn ist das.«
»Eine Frau, die dich im Schlaf heimsucht und sich auf deine Brust setzt«, sagt Tynan. »Sie erscheint sowohl in der realen Welt als auch in deinem Traum und …«
»Eine Frau?«, frage ich.
»Ein Geist«, seufzt Pretha. »Wenn sie dich heimsucht, sitzt sie auf deiner Brust und sagt wieder und wieder deinen Namen. Das gilt als Zeichen dafür, dass du dem Tod geweiht bist.«
»Geradezu ein Wunder, dass trotz ihrer Warnungen noch Leute sterben«, höhnt Jalek. Doch ich sehe die Furcht in seinen Augen. Er will zwar nicht an den Ruf der Banshee glauben, aber er ist ziemlich verstört.
Tynan schluckt mühsam. »Die Sonnenwende steht kurz bevor.«
»Genau deshalb will ich ja gehen«, sagt Jalek. »Heute Nacht ist sie am schwächsten.«
»Ha! Ich wusste doch, dass du etwas vorhast«, knurrt Tynan.
»Ich schicke Kane«, sagt Finn. »Das Risiko ist zu groß.«
Jaleks Gesicht wird hart. »Hör auf, mich in Watte einzupacken. Ich bin kein Kind mehr und kann meine eigenen Entscheidungen treffen.«
»Du gehörst zu dieser Gruppe und hast mir die Treue geschworen. Meine Entscheidung steht fest«, sagt Finn. Seine Stimme ist so leise, dass ich seine Worte kaum verstehe, aber sein Befehlston ist unüberhörbar.
Pretha nimmt meine Hand. »Komm mit. Ich gebe dir etwas zum Anziehen und bringe dich dann zurück zum Schloss. Der Prinz wird langsam ungeduldig.«
»Du wolltest nur, dass ich mir etwas anderes anziehe? Das hätten wir doch auch in der Kutsche erledigen können!«
»Vergib Pretha«, sagt Finn und schaut Jalek nach, der wütend die Treppe hinaufstürmt. »Sie wusste nicht, dass bei uns zu Hause heute ein Bürgerkrieg ausbrechen würde. Aber du solltest tatsächlich lieber gehen. Jaleks Laune wird sich erst bessern, wenn die Sonne am Tag der Sommersonnenwende untergegangen ist.«
***
Tatsächlich ist meine Tür nur angelehnt, als ich in meine Gemächer im Goldenen Palast zurückkehre. Ich lege eine Hand auf meine Tasche – in der immer noch der Spiegel liegt – und die andere auf meinen Oberschenkel, wo mein Messer festgeschnallt ist. »Hallo?«, rufe ich und gehe hinein.
Sebastian sieht mich, springt aus seinem Sessel auf und ist in drei langen Schritten bei mir. »Wo warst du denn?«
Ich schlucke und lege die Tasche aufs Bett. »Ich habe mit Eurelody trainiert.«
»Ich war schon vor dem Frühstück hier, und du warst schon weg.«
»Sie … wollte heute früh anfangen.«
Er verzieht das Gesicht und ich frage mich, ob er weiß, dass ich lüge. »Ich hatte schon Angst, du hättest dich dafür entschieden, in die Welt der Sterblichen zurückzukehren.«
Ich lege eine Hand auf Sebastians Brust und spüre sein Herz unter meiner Handfläche rasen. Er ist warmherzig und stark, und ich vermisse es, mich ihm anzuvertrauen und das Gefühl zu haben, dass ich seine Güte und Freundlichkeit verdiene. Wenn ich nur mit diesen Lügen aufhören könnte. In meinem Herzen lodert der Hass auf den Schattenkönig – dafür, was er meiner Schwester angetan und mit meinem Leben angerichtet hat. »Es tut mir leid, dass ich dir Sorgen gemacht habe.«
Sebastians große Hand legt sich unter mein Kinn und er mustert mein Gesicht. »Geht es dir gut?«
»Ja, alles in Ordnung.«
Er senkt den Kopf, sein Mund legt sich auf meinen – eine zärtliche Berührung seiner Lippen, die schnell suchend und intensiv wird. Mir stockt augenblicklich der Atem, und ich habe überhaupt keine Lust dazu, ihn wieder in Gang zu bringen. Es ist unser erster Kuss, seit ich weiß, wer er wirklich ist, und er ist voller Leidenschaft. In seinem Kuss spüre ich all seine Sorge und seine Angst um mich, spüre sie bis ins Mark. Vielleicht sollte ich mich von ihm lösen. Vielleicht sollte ich ihm sagen, dass er nicht das Recht hat, mich zu küssen. Vielleicht sollte ich immer noch wütend auf ihn sein, weil er mich zwei Jahre lang angelogen hat. Aber ich kann mich nicht selbst belügen: Sein Kuss ist Balsam für meine Seele und lässt meine Einsamkeit und Angst verschwinden.
Seine Hitze, seine Stärke lösen einen Knoten irgendwo in mir. In seinen Armen bin ich sicher. Solange er bei mir ist, kann mich niemand verletzen, und ich kann ihn nicht verletzen. Wenn wir diesen Kuss niemals enden lassen, dann muss er nie erfahren, dass ich ihn benutzt, ihn belogen und ihn verraten habe.
Sein Mund wird nachgiebig an meinem, und seine Hand gleitet über mein Haar zu meinem Hals. Sein großer Daumen streichelt meinen Kiefer entlang, während seine andere Hand zu meiner Taille wandert und mich dann fest an sich drückt. Ich presse mich noch enger an ihn. Er seufzt auf, und ich lächle an seinem Mund. Ich fühle mich machtvoll, und das gefällt mir. Ich will jeden Zentimeter seiner Stärke spüren und mir jeden rauen Atemzug ins Gedächtnis brennen.
Ich weiß nicht, wie lange wir uns küssen, aber es ist nicht lang genug. Schließlich ist es Sebastian, der sich löst. Er legt seine Stirn an meine, und wir ringen beide um Atem. Ich schaue auf seine Hand an meiner Taille, mit der er meinen Rock in seiner Faust zusammengeknüllt und damit meine Oberschenkel entblößt hat. Und das Messer. Falls es ihm auffällt, lässt er es sich nicht anmerken.
Heftig atmend lockert er seinen Griff und tritt einen Schritt zurück. »Entschuldige.« Er wischt sich mit der Hand über das Gesicht, schließt die Augen und flucht leise. »Ich bin nicht hierhergekommen, um dich zu verführen. Ich wollte dich eigentlich zum Litha-Ball heute Abend einladen.«
Ein Ball. Noch mehr Kleider, noch mehr Tänze und noch mehr gespielte Gleichgültigkeit demgegenüber, dass andere Mädchen Sebastian vor meinen Augen anflirten. Mädchen, die noch nicht wissen, aus welchem Grund sie ihn verlieren werden. »Ich glaube, du weißt, welche Option ich reizvoller finde.« Zaghaft strecke ich die Hand aus und streiche mit der Fingerspitze über seine Handknöchel. »Du musst dich nicht dafür entschuldigen, dass du mich geküsst hast.«
Sein Mund verzieht sich zu einem schiefen Lächeln. »Nein?«
»Ich habe den Kuss schließlich erwidert.«
»Ich weiß, aber …« Er atmet tief aus und tritt noch einen Schritt von mir zurück, als traue er sich selbst nicht. »Es ist alles so kompliziert geworden.«
Da hat er durchaus recht. Und doch … »Warum sagst du das?«
»Als ich dich am ersten Abend hier in den Gärten sah, war ich so glücklich. Ich wusste, dass du nur wegen Jas hier warst, aber …« Er schluckt. »Allein, dich in meiner Welt zu sehen, war unvorstellbar schön für mich. Als du dann vor mir geflohen bist, habe ich begriffen, dass ich alle Hoffnung, die ich in jenem Augenblick verspürt hatte, aufgeben musste. Du hasst die Fae viel zu sehr – und in jenem Augenblick hast du mich auch gehasst.«
»Ich habe dich nicht gehasst«, flüstere ich. »Ich war schockiert und verletzt. Ich wollte dich hassen, das gebe ich zu, aber ich konnte es nicht.«
Mühsam schluckt er und weicht zurück. Nur einen weiteren Schritt, aber es fühlt sich an wie eine Meile. »Als du gesagt hast, dass du hierbleiben willst, hoffte ich, du würdest deine Meinung vielleicht ändern. Und mit jedem Tag, den ich dich hier in meinem Palast mit meinen Leuten sehe, fällt es mir schwerer, diese Hoffnung zu ignorieren.«
Ich greife nach seiner Hand. Das, was er mir zu sagen versucht, will ich nicht akzeptieren. Aber ich muss.
Er spielt mit meinen Fingern. »Ich weiß, du bist nicht hier, um meine Braut zu werden. Und ich weiß, dass du auch nicht meinetwegen hierbleibst. Als ich dich heute Morgen nicht finden konnte, hat mich das schmerzlich daran erinnert, dass du nicht für immer in meinem Reich bleiben willst. Wenn du dein Ziel erreicht hast, wirst du mich verlassen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, mein Leben mit irgendjemand anderem zu verbringen. Du bist die Einzige, die mich zum Lachen bringt. Du gibst mir das Gefühl, dass ich immer noch ich selbst sein kann, dass meine Pflichten der Krone gegenüber mich nicht mit Haut und Haaren verschlingen werden. Und doch kann es sein, dass eben diese Pflicht von mir verlangt, dich aufzugeben.«
Vor lauter Schuldgefühlen dreht sich mir der Magen um. Weiß er etwas? Hat er Verdacht geschöpft, dass ich sein Königreich bestehle? »Wie … warum sagst du das?«
»Meine Mutter drängt darauf, dass ich mir bald eine Braut suche«, sagt er mit gesenktem Blick, als würde er ein beschämendes Geständnis ablegen. »Sie hat mich gestern Abend darüber informiert, dass ich nur noch bis zum nächsten Neumond Zeit habe, mich zu entscheiden.«
»Das ist ja schon in drei Wochen.« Mein Herz schmerzt so sehr in meiner Brust, dass mir das Atmen schwerfällt. Er wird seine Braut wählen, und obwohl ich mich darauf konzentrieren sollte, was das für meinen Zugang zum Schloss bedeutet, frisst mir die Eifersucht ein Loch in die Eingeweide und verlangt nach meiner Aufmerksamkeit. »Warum denn so bald?«
»Sie will eine Königin an meiner Seite wissen. Jemand, der mich unterstützen kann. Zu herrschen …« Er lässt den Blick zum Fenster schweifen und starrt in den Garten hinaus. »… ist ziemlich einsam. Und sie will, dass ich eine Partnerin gefunden habe, bevor sie ihre Macht an mich abgibt.«
»Hast du dich schon entschieden?« Eigentlich will ich es gar nicht wissen. Ich habe nicht das Recht, irgendwas in Bezug auf Sebastians Braut zu empfinden, aber die Eifersucht droht mich von innen heraus zu zerreißen.
Endlich dreht er den Kopf und begegnet meinem Blick wieder. »Ich rede mir ein, dass es nichts ausmacht. Unter Adligen werden Ehen geschlossen, um Macht zu vergrößern und Allianzen zu festigen. Um Liebe geht es meistens nicht. Aber dann denke ich daran, dass du fortgehen wirst und … Brie, wenn es eine Chance darauf gäbe, dass du hier glücklich sein könntest, dann wäre es das, was ich will. Ich will, dass du meine Königin wirst.«
Die Wände um mich herum schrumpfen zusammen. Ein solches Leben kann ich mir nicht vorstellen. Die Prinzessin eines Königreiches zu sein, das Menschen einsperrt, die aus einem feindlichen Land fliehen mussten. Aber wenn Sebastian und ich regieren würden, könnten wir all das ändern.
Könnte ich in dieser Welt tatsächlich Gutes bewirken? Nicht nur als eine weitere Königin, die im Überfluss lebt und über ihre Untertanen herrscht, sondern als Königin des Wandels? Als ob ich eine Wahl hätte. Sobald Sebastian die Wahrheit erfährt, wird er mich nicht mehr wollen. Das hat Larks Vision mir klargemacht.
Du könntest niemals Seelie-Königin werden .
Und das ist er, der Beweis für meine Niederträchtigkeit. Sebastian will mich für immer, und ein Teil von mir will einwilligen, obwohl ich ihn gerade verrate. Ich bin eine Diebin, die das Königreich bestiehlt, das ich an seiner Seite regieren soll.
Und dann sind da noch meine Gefühle für Finn – die Art, wie meine Macht erwacht, wenn er in meiner Nähe ist, die Anziehungskraft, die ich nicht will, aber gleichzeitig nicht verleugnen kann. Würde Sebastian mich immer noch wollen, wenn er all das wüsste? Und selbst wenn, beweist das nicht, dass ich ihn nicht verdiene? Mein Schweigen hat zu lange gedauert, und Sebastian schließt die Augen. Der Schmerz in seinem Gesicht trifft mich wie ein Schlag in die Magengrube.
»Okay …«, flüstert er. »Wenigstens weißt du jetzt, wo ich stehe.«
Er dreht sich auf dem Absatz um und geht in Richtung Tür.
»Bash«, rufe ich und folge ihm. Er bleibt stehen, den Rücken zu mir. Ich traue mich nicht, ihm in die Augen zu sehen, also spreche ich seine breiten Schultern an, statt ihn zu bitten, sich umzudrehen. »Ich wollte nie einen Prinzen heiraten.« Am liebsten würde ich meine Hand zwischen seine Schulterblätter legen, um seine beruhigende Stärke, seine Wärme zu spüren. Oder die Arme um ihn schließen, mich an seinen Rücken schmiegen und die Hand auf seine Brust legen, um seinen Herzschlag zu fühlen. Aber ich tue es nicht. »Aber Sebastian, den Zauberlehrling, hätte ich sofort geheiratet.«
»Du kannst den einen nicht ohne den anderen haben, Brie.«
»Hm«, mache ich leise. »Der Prinz wächst mir allmählich auch ans Herz.«
Als er sich umdreht, schneidet mir die Hoffnung in seinen Augen wie ein Messer ins Herz, und ich weiß nicht, was ich mehr verabscheue: dass ich ihn manipuliere oder dass jedes meiner Worte wahr gewesen ist.