KAPITEL

28

Ich zerbreche einen Strang meines Armbands, und noch bevor ich eine Haarlocke für Bakken abschneiden kann, sitzt er bereits mit übereinandergeschlagenen Beinen vor mir, die Augen geschlossen und die Handflächen auf den Knien. Ich glaube, ich habe ihn beim Meditieren erwischt.

Er seufzt abgrundtief und zeigt dann seine spitzen Zähne in einem scheußlichen Grinsen, als er mich sieht. »Feuermädchen. Ich habe dir doch gesagt, du sollst mich nicht in den Palast der Königin rufen.«

So ist es, aber das hatte ich vergessen. »So ein Jammer«, sage ich achselzuckend.

Überraschend anmutig steht er auf und streckt eine Hand aus. »Bezahlung, bitte.«

Ich ziehe eine Haarlocke vom Haaransatz an meinem Nacken, dicht neben der Stelle, wo ich das letzte Mal eine Strähne abgeschnitten habe. Ich säbele sie ab und gebe sie ihm. »Was machst du eigentlich mit den Haaren?«

»Ist das deine Frage für heute?«

»Nein!« Das wäre eine schreckliche Verschwendung. Und es ist mir eigentlich auch egal. Wahrscheinlich bin ich besser dran, wenn ich es nicht weiß. »Ich habe eine andere Frage. Was weißt du über die Krankheit, welche die Unseelie wie Sterbliche altern und heilen lässt?«

»Es ist keine Krankheit.«

»Dann sag mir den Grund! Warum heilen sie so langsam wie Sterbliche?«

Er zieht mein orangerotes Haar zwischen den Fingern durch und sagt halblaut: »Sie wird klüger.«

»Vor allem wird sie ungeduldig«, sage ich und behalte meine Schlafzimmertür im Auge. Heute Abend soll ich mit Sebastian zum Sommerpalast aufbrechen. Als ich in den Palast zurückgekehrt bin, habe ich meine Dienstmädchen hinuntergeschickt, um ihm zu sagen, dass ich noch eine Stunde brauchen würde, um mich auf die Abreise vorzubereiten. Ich kann nicht riskieren, dass Bakken noch hier ist, wenn Sebastian vor meiner Tür steht, aber ich kann auch nicht länger auf Antworten warten. »Sag schon.«

»Als König Oberon vor zwanzig Jahren aus der langen Nacht im Reich der Menschen zurückkehrte, eilte Königin Arya zu ihm. Sie sehnte sich danach, endlich wieder mit ihrer ersten und einzigen Liebe vereint zu sein. Aber Oberon wies sie zurück. Während seiner Gefangenschaft im Reich der Sterblichen hatte sich der König in eine menschliche Frau verliebt. Er sagte, er könne nicht mit der Königin zusammen sein, da seine Liebe einer anderen gehöre. Mit gebrochenem Herzen und voller Zorn darüber, dass er eine schwache Sterbliche ihr vorgezogen hatte, verfluchte die Königin den Unseelie-König und sein ganzes Volk. Von nun an würden sie nicht länger unsterblich, sondern altern und genauso schwach wie Menschen werden.«

»Warum hat Mordeus dann so viel Macht? Ist er kein Unseelie?«

»Weißt du, die Königin war sehr rachsüchtig. Sie wollte nicht nur Oberon und sein Volk bestrafen, sondern auch die Sterblichen. Also gab sie den Unseelie eine Möglichkeit, ihre Kräfte und ihr Leben zu erhalten. Wenn der König nicht sterben oder schwach werden wollte, musste er einem Menschen das Leben nehmen – vielen Menschen, wenn er ein langes Leben haben wollte, und noch vielen mehr, wenn er während dieses Lebens seine Magie benutzen wollte.«

Ein Schauer überläuft mich. Warum wünschen Menschen sich Magie, wenn so viel Böses damit angerichtet werden kann? Ich will mir nicht vorstellen, wie unsere Welt aussehen würde, wenn die Gierigsten meiner Art solche Macht ausüben könnten. Aber dann wird mir klar, was dieser Fluch wirklich bedeutet, und ich muss meine Arme um mich schlingen, um die Fassung nicht zu verlieren. Die Unseelie müssen Menschen das Leben nehmen, um sich zu heilen oder ihre Magie einsetzen zu können. Das ist der Grund, warum das Mädchen als menschlicher Tribut zu Finn kam, als er krank war. Aber nein, das kann nicht sein. Finn würde das niemals tun. Er ist kein Mörder. Er muss irgendeinen Weg gefunden haben, um den Fluch zu umgehen.

Ich dränge den Gedanken beiseite und reibe mir kräftig die Arme, um wieder warm zu werden. »Und warum … verfluchen sie die Königin im Gegenzug nicht auch?«

»Selbst wenn sie unzählige Menschen opfern würden, wäre ihre Macht dafür nicht groß genug.« Sein Blick ist abwesend, als wäre er ganz woanders. Als sähe er nur die weit zurückliegende Vergangenheit, und nicht mich.

»Wie ist so etwas überhaupt möglich? Und warum ist es nicht schon früher passiert, wenn es so einfach ist, ein ganzes Königreich außer Gefecht zu setzen?«

»Weil der Preis für solche Macht viel zu hoch ist. Die Königin war wahnsinnig vor Eifersucht, als sie diesen Fluch aussprach, und zusätzlich zu ihrem jährlichen Opfer zur Sommersonnenwende gab sie noch etwas auf, um die Magie ihrem Willen zu unterwerfen. Sie hat den Seelie die Fähigkeit genommen, die Unseelie zu verletzen – und deshalb endete der Große Fae-Krieg.«

»Das kann nicht wahr sein«, sage ich kopfschüttelnd. »Finn wurde von einer der Wachen der Königin verletzt. Ich habe ihm seine Wunde selbst genäht.«

»Die Wache mag zwar im Dienst der Königin stehen, aber die Seelie können die Unseelie nicht verwunden.«

Ich denke daran, was Finn mir gesagt hat: Die Wachen, die ich für Seelie gehalten hatte, seien in Wahrheit Wilde Fae, die für die Goldene Königin arbeiteten. Damals konnte ich nicht verstehen, warum die Wilden Fae für ihn gefährlicher waren als die Seelie. Jetzt weiß ich es.

»Warum hat mir das niemand gesagt?«

»Der Fluch hindert die Fae daran, über ihn zu sprechen – ein cleveres Schlupfloch, das die Königin eingebaut hat, damit die Menschen die Wahrheit nicht erfahren.«

»Warum kannst du dann darüber reden?«

»Wir Kobolde sind die Hüter der Reiche. Wir sammeln die Geheimnisse, die Geschichte und die Erzählungen. Kein Fluch oder Zauber kann uns davon abhalten, Informationen zu sammeln oder weiterzugeben, aber meine Sippe und ich hüten uns davor, die Königin zu verärgern, indem wir ihre Geheimnisse weithin preisgeben. Ihr Zorn ist schrecklich. Frag mal die Sluagh, die um den Sommerpalast herumlungern.« Bakken grinst.

»Aber warum hat die Königin den Unseelie erlaubt, durch die Lebenskraft von Menschen ihre Magie zurückzubekommen? Die Fae achten menschliches Leben so wenig, dass sie dadurch doch kaum beeinträchtigt werden.«

»Weil die Königin wollte, dass die Unseelie genau zu jenen Monstern werden, die sie der Sage nach sowieso schon sind. Sie will, dass die Unseelie Menschen töten. So bestraft sie die ganze Menschheit dafür, dass eine sterbliche Frau König Oberons Herz gestohlen hat.«

»Und trotzdem will sie, dass ihr eigener Sohn eine Menschenfrau heiratet.« Ich habe die Königin noch nie gemocht. In meiner ersten Nacht hier habe ich sie vielleicht bemitleidet, als ich die Leere in ihren Augen sah, aber seit ich von den Lagern erfahren habe, verabscheue ich sie. Es ist immer noch kaum vorstellbar, dass der nette Zauberlehrling, in den ich mich verliebt habe, von einer so bösartigen Frau abstammt.

»Sie will, dass ihr Sohn triumphiert, ihr auf den Thron nachfolgt und noch mächtiger wird, als sie es jemals sein könnte. Ihr Sohn selbst ist es, der eine Menschenfrau heiraten will – eine ganz bestimmte Menschenfrau mit wunderschönem, feuerrotem Haar.«

Er stopft meine Haare in den Beutel an seiner Taille. »Ich habe dir mehr gegeben, als für deine Gabe gerechtfertigt ist.« Er hebt die Hand, presst die Finger zusammen und will mit einem Schnipsen verschwinden.

»Warte!«

Bakken lässt seine Hand wieder sinken. »Ja?«

»Kann der Fluch gebrochen werden?«

»Du forderst dein Glück heraus. Gute Nacht, Feuermädchen.«

»Stopp!« Ich ziehe eine weitere Strähne aus meinem Haar nach vorne. »Wenn ich dir noch mehr Haare gebe, sagst du mir dann, wie ich den Fluch brechen kann?«

Wortlos streckt er die Hand aus und öffnet sie langsam.

Ich schließe meine Augen, während ich eine weitere Locke abschneide. Meine Kammermädchen werden einen Anfall bekommen, wenn sie sehen, wie ich mich zugerichtet habe. Aber wenn ich Finn und die Kinder in den Lagern retten kann, wenn ich Lark beschützen und Pretha davor bewahren kann, wegen einer simplen Schramme Todesängste ausstehen zu müssen …

Ich lege die Strähne in seine faltige Handfläche.

»Du bist die Einzige, die den Fluch brechen kann. Die Unseelie haben es zwanzig Jahre lang vergeblich versucht, aber du bist einzigartig, weil es für dich zwei Wege gibt, die Qualen der Unseelie zu beenden.«

Er fängt an, mein Haar einzupacken, aber ich halte das Ende fest, bevor er damit fertig ist. »Und wie?«

Seine Augen blitzen vor Wut und er reißt mir die Haare aus der Hand. »Der Fluch entspringt dem schwarzen, bitteren Herzen der Königin. Solange sie jedes Jahr eine der Ihren opfert, um den Fluch zu nähren, hat er Bestand.«

»Solange sie … eine der Ihren opfert?«

»Zu jeder Sommersonnenwende muss eine Goldene Fae geopfert werden, um den Fluch zu erhalten.«

Mein Magen verkrampft sich. Jaleks Schwester . Und wen hat sie dieses Jahr geopfert? Die Unseelie-Flüchtlinge können es sich nicht leisten, noch ein Jahr zu warten, aber … »Wenn dieses Opfer verhindert werden könnte, wäre dann der Fluch gebrochen?«

»Geschwächt, aber nicht gebrochen.«

Ich hasse es, wie Kobolde um die Dinge herumreden.

»Sag mir, wie ich den Fluch brechen und den Unseelie ihre Kräfte zurückgeben kann.«

»Feuermädchen, es liegen zwei Pfade vor dir. Welchen möchtest du beschreiten? Den, auf dem du stirbst, oder den, auf dem du am Leben bleibst?«

Ein kalter Schauer kriecht mir über den Rücken, und ich schlucke. »Den, auf dem ich am Leben bleibe.«

»Wenn dies der Pfad ist, für den du dich entscheidest …« Sein Lächeln ist boshaft. »Dann musst du, um den Fluch zu brechen, die Königin töten.«

Es klopft an meiner Tür. Nicht einmal eine Stunde gönnt man mir.

Ich öffne den Mund, um Bakken zu sagen, dass er verschwinden soll, aber er ist bereits nicht mehr da.

»Abriella?« Der Klang von Sebastians Stimme auf der anderen Seite der Tür wärmt und kühlt mich zugleich. Ich habe den Moment gefürchtet, in dem ich ihn nach letzter Nacht wiedersehen würde, aber trotz meiner immer noch verletzten Gefühle brauche ich ihn mehr denn je.

Weiß Sebastian von dem Fluch? Er muss davon wissen – offenbar wissen alle Fae von ihm –, aber weiß er auch, dass seine Mutter dafür verantwortlich ist? Begreift er, dass Unzählige sie tot sehen wollen – nicht nur wegen der Feindschaft zweier Königreiche, sondern weil sie buchstäblich ihre Kinder dem Tod preisgibt? Ich kann mir nicht vorstellen, dass er es gutheißen würde, Angehörige des eigenen Volkes zu opfern, nur um diesen Fluch zu nähren. Andererseits ist so vieles an Sebastian anders, als ich es mir vorgestellt habe, und deshalb kann ich ihm nicht vertrauen. Ich verstaue den Spiegel der Entdeckung unter meinen Röcken und hülle ihn in Schatten. Dann hole ich tief Luft, öffne die Tür und stehe vor Sebastians schönen Augen in seinem lächelnden Gesicht. Alle Gedanken an Flüche und Opfer werden von den Bildern von Sebastian in den Armen dieser anderen Frau vertrieben.

Reiß dich zusammen, Brie. Konzentrier dich.

Ich schlucke und bitte ihn mit einer Geste herein. »Hi.« Nur eine Silbe, und selbst dabei wackelt meine Stimme. Ich weiß nicht, ob ich es schaffen werde, so zu tun, als wäre die letzte Nacht nicht passiert.

»Wir müssen reden.«

»Okay …« Ich senke den Blick. Ich habe es so satt, Geheimnisse vor ihm zu haben, doch wenn ich das Grimoricon aus dem Sommerpalast stehlen kann, bin ich dem Ende dieser Lügen und all dieser Täuschungen schon so viel näher. Und auch so viel näher daran, Finn und seinen Leuten zu helfen – und langsam wird mir klar, dass ich das wirklich tun möchte.

Ich muss nicht aufschauen, um zu wissen, dass Sebastian näher kommt. Ich bin mir seiner immer bewusst , wenn er in der Nähe ist. Er hebt mein Kinn an und sucht meinen Blick. »Ich habe gehört, was gestern Abend passiert ist«

Mein Herz setzt einen Schlag aus, als die Bilder der letzten Nacht vor mir aufblitzen. Die Dusche, so kalt auf meiner heißen Haut, und der feste, unerbittliche Druck von Finns Körper an meinem, sein Mund in meiner Halsbeuge. Wie ich ihn angefleht habe …

»Riaan hat mir gerade Bescheid gegeben. Er hätte es mir schon viel früher sagen müssen, aber aus irgendeinem Grund war er der festen Überzeugung, dass du gestern Abend nach der Party in mein Zimmer gekommen bist.« Er schüttelt den Kopf. »Ich wünschte, du hättest es getan.«

Oh. Oh. Ich kann ihn nur stumm anstarren. Mein Kopf ist ein einziges Durcheinander von Fragen und Kränkungen und Rechtfertigungen, die ich ihm nicht abnehmen sollte. Aber während ich mich in diesen meergrünen Augen verliere, komme ich in Versuchung, ihm einfach zu vergeben. Alles wäre so viel einfacher, wenn wir an den Punkt zurückkehren könnten, an dem wir waren, bevor er gestern mein Zimmer verließ.

»Das mit dem anderen Mädchen tut mir leid«, flüstert er. »Ich wollte dich auf keinen Fall verletzen.«

»Bash, ein paar Minuten vorher warst du hier drin und hast mich geküsst.« Darauf hinzuweisen erfüllt mich mit tiefer Scham. Ich bin eine Heuchlerin. Nur Stunden später habe ich Finn angefleht, mich zu berühren und mich zu küssen. Es ist völlig egal, dass es nicht passiert ist. Ich hätte mich ihm hingegeben, wenn er mich gewollt hätte, und das ist Verrat genug. Ich könnte natürlich dem Cocktail aus Drogen und Liebeskummer die Schuld daran geben, aber …

Sebastians Augen blitzen, als er zurückweicht. Ich sehe so viel in diesem schönen Gesicht – Frustration, Wut, vielleicht sogar einen Anflug von Selbsthass. »Ich habe dir doch gesagt, dass von mir erwartet wird, dass ich eine Braut wähle. Und während du darüber nachdenkst, mein Angebot wenigstens in Betracht zu ziehen, gibt es hier Frauen, die mich heiraten wollen

»Ich habe dich in mein Bett eingeladen, und du bist abgehauen und hast dir sofort eine andere gesucht.«

Sebastian kneift die Augen zu. »Ich glaube, ich wollte mir einreden, dass das, was ich mit dir empfinde, nichts Besonderes ist. Dass ich dasselbe auch mit einer von ihnen spüren könnte.«

Seine Worte treffen mich wie ein Faustschlag.

»Und? War es so?«

Sein Blick findet meinen Mund, und er schüttelt langsam den Kopf. »Nein. Es ist nie so, egal, wie sehr ich es mir auch wünschen würde.«

Ich drehe mich um und gehe zum Fenster. Ich hasse es, dass er sich wünscht, er würde nicht so viel für mich empfinden, aber gleichzeitig verstehe ich ihn. Das ist das Schlimmste daran: Ich weiß, wie es ihm geht. Ich verstehe zwar nicht, warum er so dringend eine Frau finden muss, und ich verstehe auch diese Welt nicht, in der solche Entscheidungen normalerweise nicht von Gefühlen geleitet werden. Aber wie schwer es sein muss, zu jemandem eine Verbindung aufzubauen, während das Ultimatum seiner Mutter wie ein Damoklesschwert über ihm schwebt? Das verstehe ich. »Es sah aber so aus, als würdest du dich gut fühlen«, sage ich.

»Ich wollte es, aber es ging nicht.« Sebastian atmet tief aus. »Wenn ich für sie dasselbe empfunden hätte wie für dich, dann hätte ich sie nicht nach Hause geschickt.«

»Okay.« Nicht nur mein Schmerz, sondern auch meine Schuldgefühle zerreißen mir das Herz. Gestern Nacht habe ich Finn förmlich angebettelt. Heute Morgen habe ich das Lachen in seinen Augen geliebt, als er mich geneckt hat. Und heute Nachmittag habe ich versucht herauszufinden, wie ich ihn retten kann.

Und ich weiß nicht, was das für Sebastian und mich bedeutet.

»Können wir das alles nicht einfach für einen Abend vergessen?« Seine warme Hand gleitet meinen Arm hinunter, bis sich seine Finger um mein Handgelenk legen. »Ich möchte mich die nächsten zwei Tage nur auf uns beide konzentrieren. Ich will nicht daran denken, dass du mit Finnian trainierst, oder wie stark meine Mutter mich unter Druck setzt, eine Braut zu wählen, oder wie bald schon ich den Thron besteigen muss. Können wir ein Weilchen nur an uns denken?«

»Das fände ich schön.« Lügnerin. Er denkt, dass er mich zum Palast der Gelassenheit bringt, damit wir eine schöne Zeit miteinander verbringen können. Währenddessen werde ich mich darauf konzentrieren müssen, das Grimoricon zu finden und es zu Mordeus zurückzubringen.

Er lächelt. »Fühlst du dich gut?«

Misstrauisch kneife ich die Augen zusammen. Weiß Sebastian, dass mich letzte Nacht jemand unter Drogen gesetzt hat? War Riaan etwa doch daran beteiligt? »Ja, warum?«

»Ich bin nach dem Frühstück in dein Zimmer gekommen, aber deine Zofen sagten, du schläfst noch. Das sieht dir gar nicht ähnlich.«

Pretha muss mein Zimmer mit einem Trugzauber belegt haben, damit meine Dienstmädchen glauben, ich wäre hier und würde schlafen … vielleicht hat sie auch eine Fae verzaubert, wie ich auszusehen, die meine Rolle gespielt hat.

»Ich habe gestern Abend auf der Party ein paar Gläser Wein getrunken«, sage ich.

»Ich bin froh, dass du ein bisschen gefeiert hast.« Sein Blick wird weicher. »Ich finde es schön, wenn du an den Veranstaltungen teilnimmst, die im Palast stattfinden.«

Vielleicht sollte ich lieber ein bisschen ehrlicher sein. »Bash, ich glaube, jemand hat mir Drogen verabreicht.«

Er wird blass, und seine wunderschönen Augen werden so stürmisch wie ein tobendes Meer. »Was?«

»Ich habe mich total komisch gefühlt. Mir war heiß und ich war irgendwie enthemmt.« Meine Wangen brennen vor Scham. Gott sei Dank hat nur Finn das Schlimmste miterlebt. »Als meine – meine Zofe mich auf der Party gefunden hat, war ich gerade dabei, mich auszuziehen.«

Er knirscht mit den Zähnen und seine Augen lodern vor Wut. »Ich muss dich etwas fragen, und du musst jetzt ehrlich zu mir sein.«

Wie sollten er und ich jemals eine Chance haben, wenn schon simple Ehrlichkeit eine Bedingung ist, der ich niemals zustimmen kann?

Sebastian fasst mich an den Schultern, sein Gesicht ist ernst. »Hast du gestern Abend Finn oder einen seiner Kumpane auf dem Fest gesehen?«

»Glaubst du etwa, sie haben mich unter Drogen gesetzt?«

»Ich glaube, Finn würde nur zu gern dein Vertrauen gewinnen und dann deine Hemmschwelle senken, damit du etwas Leichtsinniges machst … wie zum Beispiel, dich an ihn zu binden.«

»Ich habe mich gestern an niemanden gebunden.«

»Ich weiß.« Sanft drückt er meine Schultern. »Ich möchte nur wissen, ob jemand es versucht hat.«

Gestern Nacht war ich nur einmal versucht, den Bund einzugehen, und zwar mit Sebastian. Nur mein Handel mit dem König hat mich davon abgehalten, diesem Wunsch nachzugeben. »Aber … warum? Warum ist euch allen dieser Bund so wichtig? Ihr alle tut so, als sei er wichtiger als …« Wichtiger als ich. Das war der eigentliche Grund dafür, dass ich Finn in der Dusche angebettelt habe, richtig? Ich hatte den Eindruck, dass Sebastian ohne das Versprechen auf einen Bund nicht mit mir schlafen wollte, und ich sehnte mich nach dem Gefühl, dass ich auch ohne den Bund genug sein konnte. Daran kann ich den Drogen nun wirklich nicht die Schuld geben.

»Weil er wichtig ist.« Sebastian schaut mich durchdringend an. Er will mir damit noch irgendetwas sagen. Aber vielleicht kann er nicht. Vielleicht hat es etwas mit dem Fluch zu tun?

»Ich würde es Finn und seiner Bagage durchaus zutrauen. Mit einer simplen Bindungszeremonie könnte er dich mir für immer wegnehmen.«

Hatte Finn mich nicht in ganz ähnlichen Worten vor Mordeus gewarnt, kurz nachdem ich hierhergekommen war? Warum glauben beide, mich auf diese Weise warnen zu müssen? Finn war heute Morgen richtig wütend, als ich ihm gestand, dass nur der Handel mit Mordeus mich wirklich daran hindert, mich an Sebastian zu binden. Was hätte er wohl noch gesagt, wenn Pretha nicht mit Lark hereingestürmt wäre?

Ich kann mir jetzt keinen Ärger mit Sebastian leisten, und Finn und seine Freunde zu verteidigen, würde diesen Streit nur verlängern. Also verkneife ich es mir und schüttele den Kopf. »Ich weiß nicht, wer mich unter Drogen gesetzt hat.«

Sebastian drückt meine Hand in seiner. »Wenn wir einander verbunden wären, würde ich sofort wissen, wenn du in Schwierigkeiten steckst. Ich hätte dich letzte Nacht gefunden und dafür gesorgt, dass niemand deine Hemmungslosigkeit zu seinem Vorteil nutzen kann. Ich hasse es zu wissen, wie verwundbar du bist.«

»Ich bin nicht verwundbar – zumindest nicht mehr so wie früher. Ich werde immer besser darin, meine Kräfte einzusetzen.«

Aber Sebastian wirkt nicht beruhigt. »Manchmal ist es gerade deine Magie, die dich so verwundbar macht.«

»Warum sagst du das?«

»Ach, das spielt keine Rolle.« Er drückt mich an seine Brust und ich kann sein Herz rasen hören. »Alles, was zählt, ist, dass du in Sicherheit bist.«

»Ist es wirklich so selten, dass ein Mensch über magische Kräfte verfügt?«

Er stößt ein Lachen aus. »In der Tat.« Er lehnt seine Stirn an meine. »Du bist absolut einmalig, und Finn weiß das. Auch wenn es nicht er gewesen sein sollte, der dich gestern Nacht unter Drogen gesetzt hat, wird er dich auf jeden Fall davon überzeugen wollen, den Bund mit ihm einzugehen. Aber du musst dich weigern, komme, was wolle. Niemand kann dich in einen Bund zwingen. Er muss von beiden Seiten aus freien Stücken eingegangen werden.«

»Aber warum sollte Finn das wollen? Was hätte er denn von einem Bund mit mir?«

Kopfschüttelnd lässt er seine Hände über meinen Rücken zu meiner Taille gleiten und zieht meine Hüften dicht an seine. »Er hätte dann … Zugang zu deiner Magie.«

Und da Finn seine eigene Magie nicht nutzen kann, ohne sein Leben zu verkürzen oder zum Serienmörder zu werden, braucht er meine Magie. Hat er deshalb heute früh mit mir geflirtet und war gestern Nacht so gut zu mir? Ist das der wahre Grund, aus dem er mich trainiert? Ist all dies von langer Hand geplant, um sich mein Vertrauen zu erschleichen und mich zu seiner Marionette zu machen?

Ich kann mich nicht dazu bringen, das zu glauben. Aber Finn hat mir einmal selbst gesagt, dass er alles tun würde, um sein Volk zu beschützen. Warum sollte sein Verhalten mir gegenüber andere Motive haben?

»Ich würde mich nicht an Finn binden«, sage ich halblaut zu mir selbst.

Sebastian schluckt und lächelt mich unsicher an. »Sobald du dazu bereit bist, wird es mir eine Ehre sein, mit dir den Bund zu knüpfen. Ich würde ihn dazu nutzen, um dich zu beschützen, und ich würde niemals zulassen, dass dir etwas passiert.« Er senkt den Kopf und berührt meine Lippen in einem sanften Kuss. »Bist du bereit?«

»Bash … ich kann nicht. Ich brauche mehr Zeit, wenn …«

»Für unseren Ausflug zum Sommerpalast, meinte ich.« Mit den Handknöcheln streichelt er über meine Wange. »Der Bund kann noch warten.« Er dreht sich zum Flur um und gibt ein leises Pfeifen von sich.

Ein Kobold humpelt mit gesenktem Kopf ins Zimmer. Abrupt schaut er zur Seite und bläht die Nüstern. Er schnüffelt, dann schaut er mich anklagend an. Kann er Bakken riechen? Weiß er, dass ein anderer seiner Art hier war?

»Bring uns zum Sommerpalast«, sagt Sebastian.

»Sehr wohl, Eure Hoheit«, sagt der Kobold, aber als er nach meiner Hand greift, grinst er mich an – diese gefährliche Kreatur, die mein Geheimnis kennt. Sebastian packt die knochige Hand des Kobolds, und ich tue es ihm nach.

Bevor ich tief einatmen und mich auf den schwindelerregenden Koboldtransport einstellen kann, höre ich schon das Geräusch von Wellen, die sich am Ufer brechen. Dann sehe ich das Mondlicht auf dem Wasser glänzen und spüre den Sand unter meinen Füßen.

Salzige Luft kitzelt meine Nase, und das Rauschen der Wellen erfüllt meine Sinne, als ich den Sommerpalast erblicke. Als klein kann man ihn beim besten Willen nicht bezeichnen. Seine vielen Türme scheinen über dem Meer zu schweben, aber direkt vor mir sehe ich die großen Panoramafenster, die, wie ich weiß, zur Bibliothek führen. Und zum Grimoricon.