Die Krone auf meinem Kopf funkelt in Schattierungen von Lila und Blau und allem, was dazwischen liegt.
Mit zitternder Hand greife ich nach oben und berühre meinen Kopf – versuche, die Krone zu ertasten, die ich im Spiegel sehe. Aber ich kann sie nicht spüren. Ich beobachte mein Spiegelbild, während ich versuche, die Krone zu verrücken. Doch sie bleibt an Ort und Stelle.
»Es ist eine magische Krone«, sagt König Mordeus. »Dieses Reich stirbt, solange sie von einem sterblichen Wesen getragen wird. Nur ein Fae mit Unseelie-Blut kann hier regieren.«
»Ich …« Ich kann den Blick nicht von meinem Spiegelbild abwenden. Diese Krone ist nicht nur schön, sondern unglaublich faszinierend. »Aber … aber wieso? «
»Mein Bruder Oberon hat deine Mutter geliebt.«
Vor Schreck lasse ich fast den Spiegel fallen. »Was?« Es ist so dunkel, dass ich Mühe habe, Mordeus’ Gesichtsausdruck zu erkennen. Das muss ein schlechter Scherz sein.
Mordeus schnippt mit den Fingern, und die Kerzen in den Wandleuchtern flackern auf, werfen lange Schatten durch den Raum und verändern mein Spiegelbild. Ich sehe die Krone jetzt nicht mehr. »Oberon war einst im Reich der Sterblichen gefangen und verliebte sich dort in deine Mutter«, sagt der König. »Aber als er endlich nach Faerie zurückkehren konnte, weigerte sie sich, mit ihm zu gehen. Während er sich bemühte, mir seinen Thron wieder abzujagen, blieb sie im Reich der Sterblichen, lernte deinen Vater kennen und verliebte sich in ihn. Als Oberon die Portale stabilisiert hatte und gefahrlos zu ihr zurückkehren konnte, war deine Mutter bereits verheiratet und hatte zwei kleine Mädchen geboren – dich und deine Schwester.«
Es war einmal ein Schattenkönig, der war in der Welt der Sterblichen gefangen. Dort traf er eine sterbliche Frau, die sich unsterblich in ihn verliebte …
Es waren nicht einfach Gutenachtgeschichten, die Mutter uns erzählt hat. Sie hat uns ihre eigene Geschichte erzählt.
»Oberon gab ihr damals ein Windspiel«, fährt Mordeus fort. »Er sagte ihr, falls sie ihn jemals brauchen sollte, müsse sie es nur in die Mitternachtsbrise hängen und die Musik werde ihn zu ihr rufen. Sie hatte Oberon nie vergessen, aber sie war glücklich mit ihrem Leben im Reich der Sterblichen, mit ihrem Mann und ihren Töchtern. Doch eines Nachts, während ihr alle schlieft, ist euer Haus in Flammen aufgegangen.«
Ich schließe die Augen und erinnere mich. Die Hitze. Das Knistern des brennenden Holzes in den Wänden. Wie meine Lunge brannte, als ich verzweifelt nach Atem rang. Das Gefühl von Jasalyn in meinen Armen. Mein Vater starb in diesem Feuer, und auch wir hätten es beinahe nicht überlebt.
»Ihr Mädchen seid beide schwer verbrannt worden, aber du hast beim Versuch, deine Schwester zu schützen, die schlimmsten Verbrennungen erlitten. Dein Leben hing am seidenen Faden. In ihrer Verzweiflung hängte deine Mutter das Windspiel auf und flehte ihren einstigen Liebhaber um Hilfe an. Es war Oberon, der deine Schwester geheilt und sie ohne eine einzige Narbe zurückgelassen hat. Aber deine Wunden waren so schrecklich, dass selbst der beste Heiler nichts mehr hätte ausrichten können. Doch mein Bruder war blind vor Liebe zu deiner Mutter.« Mordeus’ Stimme trieft vor Verachtung.
»Oberon wollte ihr das Leid ersparen, ihr Kind zu verlieren, also hat er dich auf die einzige Art gerettet, die ihm blieb.«
Ich starre auf die Stelle, wo Sebastians Zauber immer noch die Narbe an meinem Handgelenk verbirgt. Sie ist das einzige Überbleibsel dieses Feuers, in dem ich eigentlich hätte sterben müssen. Irgendwie habe ich das immer gewusst. »Wie hat er das gemacht?«, frage ich.
»In deinem letzten Augenblick hat er sein eigenes Leben aufgegeben, um deines zu retten.«
Ich kann noch genau hören, wie meine Mutter den Heiler mit der tiefen Stimme angefleht hat. Bitte rette sie.
Wie verzweifelt sie war, wie untröstlich, als sie den Preis für mein Leben zu begreifen schien. Ich tue das für dich.
All diese Jahre habe ich die Fae gehasst, ohne zu wissen, dass ihre Magie der einzige Grund ist, aus dem ich am Leben bin.
»Und was hat das mit seiner Krone zu tun?«
»Wenn ein Fae-König stirbt, entscheidet er, welcher seiner Nachkommen ihm auf den Thron folgen wird. Sobald er gewählt hat, geht seine Macht auf den Erben über, und nur mit dieser Macht erkennt das Land den neuen König oder die neue Königin wirklich an. Aber Oberon hat seine Kräfte nicht an einen Sohn oder eine Tochter vererbt. Er hat sie dir gegeben – es war der einzige Weg, dich zu retten, dich zu heilen und das sterbliche Herz deiner Mutter zu beschützen.«
Mit den Fingerspitzen streiche ich über meine Kopfhaut, und diesmal kann ich die Krone spüren – nicht den physischen Gegenstand, sondern das Summen ihrer Macht, ihre Vibrationen. Ich kann es immer noch nicht fassen. Kann nicht begreifen, dass ein Fae – Geschöpfe, die ich für egoistisch und grausam hielt – meine Mutter so sehr geliebt hat, dass er starb, um mich zu retten.
Aber mit der staunenden Ehrfurcht im Angesicht der Wahrheit überfällt mich auch der Schmerz über das, was ungesagt geblieben ist. Mordeus braucht die Krone. Er hat mich darum gebeten, sie ihm zu geben. Und das bedeutet, dass Finn die ganze Zeit, während er vorgab, mir zu helfen – vorgab, mein Freund zu sein –, nur ein Ziel hatte: der Krone näher zu kommen.
»Wenn ihr alle diese Krone unbedingt haben wollt, warum habt ihr sie mir nicht einfach abgenommen?« Ich habe bei Finn übernachtet – war verletzt und bewusstlos, stand sogar unter Drogeneinfluss. Er hatte Gelegenheit genug. »Warum tötet Ihr mich nicht einfach und nehmt sie an Euch?«
»Die Alten Könige, die die Krone des Sternenlichts geschmiedet haben, belegten sie mit einem Zauber, damit ihre Nachkommen sie nicht töten konnten, um die Macht zu ergreifen. Sie kann niemals genommen, sondern nur gegeben werden, so wie mein Bruder sie dir gegeben hat. Würde ich dich umbringen, um mir die Krone zu nehmen, wird sie mich ablehnen. Aber du kannst sie mir geben – deine Krone, und deine Macht. Solange du diese Krone trägst, wirst du niemals Frieden finden. Gibst du sie mir aber in einer Verbindungszeremonie freiwillig, gehört die Krone danach rechtmäßig mir. Und dabei rettest du gleichzeitig deine Schwester.«
»Ich muss nur … den Bund mit Euch eingehen, und dann ist alles vorbei?« Eine lebenslange Verbindung mit der dunkelsten, hässlichsten Seele, der ich je begegnet bin. Niemals.
»Ja, mein Mädchen.«
Die Bindungszeremonie – Sebastian hat mich erst letzte Nacht davor gewarnt, als er mich davon überzeugen wollte, dass Finn versuchen würde, sich an mich zu binden.
Mit einer simplen Bindungszeremonie könnte er dich mir für immer wegnehmen. Er hat es gewusst. Er hat gewusst, dass Finn nur hinter der Krone her war. Kein Wunder, dass er so überzeugt davon war, dass Finn nicht mein Freund ist.
Doch nicht nur Sebastian hat mich davor gewarnt, mich an einen Unseelie zu binden. Auch Finn hat mich vor einem Bund mit Mordeus gewarnt.
Vergiss nicht, dass du aus freien Stücken in den Bund einwilligen musst. Aber wenn dir etwas an deinem sterblichen Leben liegt, dann solltest du das niemals tun.
Das war keine Drohung, sondern eine Warnung. Eine Warnung, die beide Prinzen wegen des Fluches nicht direkt aussprechen konnten. Aber Finn hat mich auch davor gewarnt, mich an Sebastian zu binden. Weil das seine Chance darauf ruinieren würde, sich selbst an mich zu binden … oder weil Sebastian so die Krone an sich bringen könnte? Aber nein, Mordeus hat gesagt, dass nur ein Fae mit Unseelie-Blut auf diesem Thron regieren kann.
»Ruft Euren Kobold«, sage ich dem König. Er kneift misstrauisch die Augen zusammen. »Warum?«
»Ihr wollt diese Krone? Ihr wollt, dass ich in einen Bund mit Euch einwillige? Dann. Ruft. Euren. Kobold.«
Mordeus schnipst mit den Fingern und sein Kobold erscheint vor mir und schnüffelt interessiert.
»Du stinkst nach meinen Verwandten«, murmelt er.
»Sterben Menschen, wenn sie sich an Fae binden?«, frage ich.
Der Kobold schaut seinen Herrn an. »Antworte dem Mädchen«, sagt Mordeus widerwillig.
»Nicht immer«, sagt der Kobold und streicht sich durch sein schütteres weißes Haar. »Aber manchmal.«
Nicht immer, weil nicht alle Fae verflucht sind. »Wenn sich ein Mensch an einen Seelie bindet, stirbt er dann?«
Wütend starrt mich der Kobold an. »Nein.«
»Und wenn sich ein Mensch an einen Unseelie bindet?«
Der Kobold schaut wieder auf Mordeus, aber er muss gar nicht mehr antworten. Jetzt kenne ich die Wahrheit. Dieser Fluch ist wirklich zu grausam. Um Oberon daran zu hindern, sich an seine menschliche Geliebte zu binden, hat die Königin die Unseelie so verflucht, dass sie den Menschen töten, an den sie sich binden wollen.
Ich wirbele zu Mordeus herum. »Ihr sagt, ich müsse mich an Euch binden? Dabei meint Ihr doch eigentlich, dass ich sterben muss.«
Der Kobold kichert leise, und Mordeus schaut ihn so lange grimmig an, bis er in einem Lichtblitz verschwindet.
»Oberons Krone hat dir das Leben gerettet«, sagt Mordeus. »Sie hat dir Lebenskraft gegeben, als deine bereits erloschen war. Du kannst dein sterbliches Leben ohne die Krone also nicht fortsetzen, das stimmt. Durch den Bund würdest du mir die Krone auf dieselbe Art geben, auf die Menschen seit zwanzig Jahren ihre Lebenskraft auf die Unseelie übertragen.«
Das also wollte Finn von mir – und davor hat Sebastian mich gewarnt, als er mir sagte, Finn könne mich ihm für immer nehmen, wenn ich den Bund mit ihm eingehen würde.
Ein Bund mit Finn würde meinen Tod bedeuten. Ich schüttele den Kopf, und der Thronsaal beginnt sich zu drehen. »Gesetzt den Fall, ich wäre bereit zu sterben, um meinen Teil der Abmachung zu erfüllen – wie könnte ich sichergehen, dass Ihr meine Schwester wirklich freilasst?«
König Mordeus lächelt. »Ich habe es bei meiner Magie geschworen, also werde ich dieses Versprechen halten.«
Ich starre auf meine Füße. Ich muss nachdenken, aber die Schmerzen in meiner Schulter und der Schock nach all den Enthüllungen vernebeln mir den Verstand.
»Doch weil du so schlau bist«, sagt Mordeus langsam, »könnte ich dir eine Alternative anbieten. Ein Geschenk.«
Ich hebe den Kopf. Meine verzweifelte Hoffnung auf eine andere Lösung steht mir ins Gesicht geschrieben, fürchte ich.
»Wenn du partout nicht sterben willst, aber dennoch dein Versprechen halten möchtest, die Krone zurückzugeben, dann … Wie wäre es, wenn du nicht deine Existenz aufgeben müsstest, sondern nur deine Sterblichkeit?«
»Wie bitte?«
»Schenk mir dein Leben und damit die Krone, dann werde ich dir den Trank des Lebens geben, um dich zu retten.« Er steigt vom Podium herunter und nimmt meine Hand, und ich stehe noch so sehr unter Schock, dass ich es zulasse. »Dieser Bund muss nicht das Ende sein. Wenn du es zulässt, wird er ein Neuanfang.« Ein Häufchen mit Runen bedeckter Steine erscheint in seiner offenen Handfläche. »Du musst dich nur an mich binden.«
Der Thronsaal verschwimmt vor meinen Augen. Mordeus lächelt, und ich beuge mich näher zu ihm.
»Wähle den Stein, der unseren Bund repräsentiert, und füge dich in dein Schicksal, mein Mädchen.«
Es ist so einfach. Einen Stein wählen. Mein Schicksal akzeptieren.
Ich strecke die Hand nach den Steinen aus, die er mir entgegenhält, und ich habe das Gefühl zu schweben. Ein seltsam vertrautes Gefühl. Ich kenne es …
Aus dem Goldenen Palast. Als man mir Drogen verabreicht hat.
»Ich muss aufs Klo«, stammele ich.
Ärger huscht über das Gesicht des Königs, aber er glättet seine Züge sofort wieder. »Natürlich. Meine Dienerin wird dir helfen.«
Ich nicke dankbar. Er darf auf keinen Fall merken, dass ich von den Drogen weiß.
Eine junge Dienerin, eine Menschenfrau mit vernarbtem Gesicht, kommt herein und führt mich unter den wachsamen Blicken von mehreren Dutzend königlichen Wachposten aus dem Thronsaal. Mit gesenktem Kopf öffnet sie die Tür zum Waschraum und folgt mir hinein.
»Ich möchte allein sein, bitte.«
Das Mädchen wirft einen furchtsamen Blick über die Schulter und zögert. »Ich sollte … Ich meine, dem König würde es nicht gefallen, wenn ich …«
»Es dauert nicht lang, versprochen«, sage ich, um mein Gleichgewicht kämpfend.
»Okay.« Mit gesenktem Kopf verlässt das Mädchen den Waschraum.
Als die Tür zufällt, ziehe ich Finns Elixier aus meiner Dunkelheit. Nach einem kurzen Blick zur Tür trinke ich es komplett aus. Ich sinke zu Boden und versuche, einen Weg aus dem Schlamassel zu finden, in den ich hier geraten bin.
Ich kann Mordeus die Krone nicht geben, das kann ich weder Finn noch Sebastian antun. Die beiden sind sich in einer Sache einig: der Überzeugung, dass Mordeus Faerie nichts als Unheil bringen wird. Aber ich kann auch Jas nicht im Stich lassen. Auch wenn … auch wenn sie bisher in Sicherheit war. Vielleicht kann sie noch ein bisschen länger warten. Wenn ich nur etwas mehr Zeit hätte, könnte ich eine Lösung finden, die nicht damit endet, dass diese Krone auf Mordeus’ Kopf landet. So wie es im Spiegel aussah, geht es Jas …
Der Spiegel.
Die ganze Zeit habe ich geglaubt, dass meine Schwester in Mordeus’ Obhut sicher und glücklich ist, aber nur wegen der Szenen, die mir der Spiegel gezeigt hat. Nur einmal habe ich Jas für einen kurzen Augenblick lang in einem Kerker gesehen. Aber dann hat sich das Bild verändert und mir das gezeigt, was ich unbedingt glauben wollte. Und als ich mir so sehnlich gewünscht habe, das nicht alleine durchstehen zu müssen, zeigte mir der Spiegel meine Mutter – nicht weil sie wirklich da war, sondern weil ich wollte, dass sie da ist.
Hat Finn mir nicht gesagt, ich solle dem Spiegel nicht trauen? Er sagte, es sei gefährlich für jemanden, der so viel Hoffnung in seinem Herzen habe. Ich habe seine Warnung missachtet. Hat der Spiegel mir nicht tatsächlich meist genau das gezeigt, was ich mir erhofft habe?
Ich habe ihm geglaubt, als er mir zeigte, dass Jas glücklich in Sicherheit ist, weil ich es glauben wollte. Doch heute Abend war das Bild, das sie zeigte, einen Moment lang düster und trostlos.
Ich dachte, dass Finn mich völlig falsch eingeschätzt hatte, weil er mich für hoffnungsvoll hielt, aber er hatte recht. Für meine Schwester, ja sogar für meine Mutter hatte ich Hoffnung. Aber jetzt nicht mehr. Bislang habe ich das Gefühl gebraucht, meine Schwester in Sicherheit zu wissen, und der Spiegel hat mir genau das gegeben. Jetzt hebe ich ihn mit zitternden Händen hoch, starre mein Spiegelbild an, befreie meinen Geist von Erwartungen und konzentriere mich auf meinen Wunsch nach der Wahrheit. »Zeig mir Jasalyn.«
Da ist kein verschwenderisch ausgestattetes Zimmer mit feiner Bettwäsche. Keine lachenden Dienstmädchen. Keine Tabletts mit Essen oder Panoramafenster, die eine wunderschöne Aussicht überblicken. Da ist nur Jas, angekettet in einem Kerker. Auf dem Boden ein Haufen Stroh, in der Ecke ein Eimer. Sie ist dünn und blass und nippt mit aufgesprungenen Lippen an einem Becher Wasser.
Ich presse mir die Hand auf den Mund, um mein entsetztes Keuchen zu dämpfen. Dann lege ich mich flach auf den Boden und streiche mit den Fingern über das Bild, bis es verschwindet. Während ich wie eine Königin gegessen und Freunde gefunden habe, während ich getanzt und gelacht und mich verliebt habe, war meine Schwester die ganze Zeit über …
Mordeus wusste, dass ich unbedingt glauben wollte, es gehe ihr gut. Und er wusste auch, dass der Spiegel mir zeigen würde, was ich zu sehen hoffte.
Ein weiterer Schluchzer bricht aus meiner Brust.
»Es tut mir so leid, Jasalyn. Es tut mir so leid.«
Der Spiegel hat mir einmal geholfen, Sebastian zu finden, als ich damit nichts Besonderes verband. Er hat mir Sebastian an seinem Schreibtisch in einem Buch lesend gezeigt. Und später habe ich mit seiner Hilfe das Buch gefunden. Aber ich wusste nicht genug über das Buch, und auch nicht über Sebastians Leben, um Hoffnung in diese Dinge zu setzen – im Gegensatz zu meinen Hoffnungen für meine Familie. Sogar in meine Mutter, von der ich glaubte, sie hätte mich verlassen, hatte ich noch Hoffnung.
»Zeig mir meine Mutter«, flüstere ich. Als ich das Grab mit der Leiche darin vor mir sehe, zerbricht in meiner Brust etwas. Ich weiß nicht genau, was es ist, aber ich fürchte … ich fürchte, es ist der letzte Rest Hoffnung, der mir noch geblieben ist.
Ich atme langsam und regelmäßig und warte darauf, dass das Elixier zu wirken beginnt, aber meine Gedanken hören nicht auf zu kreisen. Ich trage die Krone.
Mühsam stemme ich mich vom Boden hoch und straffe die Schultern. Ich habe die Banshee, die mich letzte Nacht besucht hat, nicht gebraucht. Ich habe auch Lark, die mich in meinem Traum besucht hat, um mir zu sagen, dass ihr Ruf unausweichlich war, nicht gebraucht. Auch ohne sie wusste ich, wie die Geschichte enden würde, als ich durch das Portal ging. Ein Teil von mir … ein Teil von mir wusste, dass ich nicht wieder nach Hause zurückkehren würde.
Die Frau, die mich zur Toilette begleitet hat, atmet erleichtert auf, als ich auf den Flur zurückkehre. Gerne würde ich sie fragen, warum sie für den König arbeitet. Wartet sie darauf, als sein nächster Tribut ausgewählt zu werden? Wofür hat sie sich an ihn verkauft? War es das wenigstens wert?
Wie lächerlich, dass ich tatsächlich geglaubt habe, ich würde lange genug leben, um Frauen wie sie zu retten. Wie lächerlich, dass ich, als Lark mich eine Königin nannte, geglaubt habe, dann hätte ich die Chance, vielleicht etwas zu bewirken.
Ich bin wie betäubt, als ich dem Mädchen zurück in den Thronsaal folge, aber das liegt nicht an dem vergifteten Wein. Nein. Ich muss das Elixier rechtzeitig genommen haben, weil ich die Wirkung der Droge nicht mehr spüre. Diese Taubheit ist etwas anderes.
Resignation. Enttäuschung.
Ein hoffnungsloses Herz.
Der König wirkt wachsam, als er mir zusieht, wie ich mich seinem Thron nähere. Sieht er an meinen Bewegungen, dass ich nüchtern bin? An meinem Gesicht?
Ich schwanke ein wenig von Seite zu Seite. Er soll nicht merken, dass er seinen Vorteil verloren hat. »Wenn ich tue, was nötig ist, um meinen Teil unserer Abmachung zu erfüllen, werdet Ihr dann Euren auch einhalten?«, frage ich.
Mordeus’ Augen leuchten so hell, dass das Silber beinahe weiß wirkt. Gierig.
»Ja, das werde ich.«
Mein Blick schweift zum Thron, auf dem er nie sitzt. Den Thron, der ihm seine Macht verweigert, solange er die Krone nicht trägt.
»Bis Sonnenaufgang kann alles vorbei sein«, verspricht er mir. »Die Zeremonie ist simpel. Wir wählen eine Rune aus, wir sagen ein paar Worte, und ich habe den Trank des Lebens für dich vorbereitet.«
In meinem Traum sagte mir Lark, ich solle mich an unseren Handel erinnern. Dass Mordeus unserer Abmachung treu bleiben würde. Was war der genaue Wortlaut noch mal? Ich muss ihm die Artefakte zurückbringen und … Nein. Nicht ihm. Ich habe sein ursprüngliches Angebot bewusst umformuliert, weil ich schon damals vermutete, dass sein Königreich der Objekte würdiger ist als er selbst.
»Wenn die drei Gegenstände wieder hier am Hof zurück sind, wo sie hingehören, werde ich deine Schwester sicher an einen Ort deiner Wahl im Reich der Menschen bringen lassen.«
Dort, wo sie hingehören.
Ich mache einen Schritt auf das Podium zu, dann einen zweiten. »Das Grimoricon wurde an seinen rechtmäßigen Platz im Unseelie-Reich zurückgebracht«, sage ich.
Mordeus’ gierige Augen weiten sich aufgeregt. »Ja.«
Ich halte ihm den Spiegel entgegen.
»Und der? Wo gehört der hin?«
Er schnippt mit den Fingern, und der Spiegel schwebt von meiner Hand zu einer Vitrine hinter dem Thron.
»Jetzt muss nur noch Oberons Krone an ihren angestammten Platz zurückgebracht werden«, sage ich mit wild klopfendem Herzen. »Aber ich werde heute nicht sterben.«
Mordeus öffnet seine Handfläche und bietet mir noch einmal die Runensteine an. »Du wirst eine wunderschöne Fae abgeben, aber zuerst müssen wir die Bindungszeremonie vollziehen. Andernfalls ist der Trank wirkungslos.«
Ich hebe meine Röcke und steige die drei Stufen zum Podium hinauf. Mordeus strahlt mich an. »Braves Mädchen.«
Ich schicke ein Stoßgebet an alle Götter. Mögen sie mir gnädig sein, falls ich mich getäuscht habe. Dann drehe ich mich leicht zur Seite, weiche dem falschen König aus und nehme auf dem Thron Platz.