VII. Frauenbewegung als Sittlichkeitsbewegung

Überblick

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Sexualreformbewegung, die von einem polarisierten Geschlechtermodell ausging. Das Thema galt im Kaiserreich für Frauen als nicht schicklich, sodass Frauen erst den Mut fassen mussten, über das Unsagbare öffentlich zu sprechen und zu schreiben. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts engagierte sich auch die Frauenbewegung im Kampf gegen Prostitution und Mädchenhandel und setzte sich für Jugend- und Arbeiterinnenschutz und für die Rechte von unverheirateten Müttern ein. Die propagierten Maßnahmen reichten vom gänzlichen Verbot oder dem Verbot der staatlich reglementierten Prostitution über Zwangserziehungsanstalten bis zu Hilfsangeboten für mittellose Frauen und ledige Mütter. Die Sexualität von Frauen war zunächst tabuisiert. Erst im 20. Jahrhundert wurde das Selbstbestimmungsrecht der Frau über ihren Körper diskutiert. In diesem Zusammenhang forderte die Frauenbewegung eine Reform des Ehe- und Familienrechts sowie die Gleichstellung von unehelichen mit ehelichen Kindern.

Zeittafel

1880

Gründung des Deutschen Kulturbundes

1889

Gründung des Vereins Jugendschutz

1896

Gründung der Kommission zur Hebung der Sittlichkeit im BDF

1899

Gründung der ersten deutschen Zweigvereine der Internationalen Abolitionistischen Föderation (IAF) in Berlin und Hamburg

1902

Der BDF fordert die Straffreiheit der Prostitution und die Schließung der Bordelle

1905

Gründung des Bundes für Mutterschutz und Sexualreform (BfMS)

1927

Die Prostitution wird an sich straffrei, die Sittenpolizei abgeschafft

1. Frauenbewegung und Sexualität

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann eine Auseinandersetzung über die gesellschaftliche Bedeutung von Sexualität, aus der die Sexualreformbewegung entstand. In dieser Diskussion wurden verschiedene gesellschaftliche und ethische Fragen miteinander verknüpft: die demografische Entwicklung, Funktion und Bedeutung von Familie und Ehe, die Prostitution, Abtreibung und Gesundheitsgefährdung, Fragen der Degeneration und der Eugenik. Ausgangspunkt für diese Debatte war das polarisierte Geschlechtermodell, das von diametralen psychischen, körperlichen und intellektuellen Unterschieden von Frauen und Männern ausging.

Quelle

Unterschiede von Frauen und Männern

Auszug aus dem Artikel „Geschlechtseigentümlichkeiten“, in: Meyers Großes Konversationslexikon, 6. Aufl. Leipzig, Wien 1905, S. 684.

Beim Menschen ist der Mann durchschnittlich größer, sein Körper erscheint wegen stärkerer Ausbildung des Skeletts und der Muskulatur gröber, eckiger, während beim Weib … die Formen runder sind. … Das weibliche Becken ist weiter, aber niedriger, woraus eine größere Entfernung der Hüftpfannen und die eigentümliche Stellung der Oberschenkel nach innen, der Unterschenkel nach außen hin folgt. … Daher ist der Gang des Weibes schwankender und der Stand, besonders wegen der Kleinheit der Füße, unsicherer. … Das Nervensystem ist im allgemeinen beim weiblichen Geschlecht reizbarer … Auch psychische Geschlechtseigentümlichkeiten finden sich vor; beim Weibe behaupten Gefühl und Gemüt, beim Manne Intelligenz und Denken die Oberhand; die Phantasie des Weibes ist lebhafter als die des Mannes, erreicht aber selten die Höhe und Kühnheit wie bei letzterem.

Prostitution

Frauen schalteten sich in größerer Zahl unter dem Stichwort Sittlichkeit in die Debatte um Sexualität ein, als mit der Hochindustrialisierung die Prostitution und der damit einhergehende Mädchenhandel unübersehbar zunahmen. Besonders das Aufleben der russischen Pogrome nach 1881 führte zu einem rasanten Anstieg der Prostitution in den westlichen Metropolen. In Berlin wurden in den 1890er-Jahren 30 000 professionell arbeitende Dirnen gezählt. Insgesamt sollen es in Deutschland 100 000 bis 200 000 gewesen sein, deren Zahl sich vor dem Ersten Weltkrieg auf 330 000 erhöht haben soll. Bordelle waren nach § 180 RStGB (Bestrafung der Kuppelei, wenn sie „gewohnheitsmäßig“ oder „aus Eigennutz“ betrieben wurde) de jure verboten, de facto allerdings toleriert. „Grundsätzlich“ war die Strafbarkeit der Prostitution 1876 auch in § 361,6 RStGB festgelegt worden, allerdings nur, um gleichzeitig die Bedingungen aufzuzeigen, unter welchen „gewerbliche Unzucht“ staatlicherseits reglementiert dann doch tolerierbar war. Der Staat reagierte mit einer Reihe von Reglementierungen, die Prostitution unter eine umfassende Kontrolle stellen sollten, um so die Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten verhindern zu können. Dabei ging es nicht um die Beendigung unwürdiger Arbeitsverhältnisse von Frauen, sondern um die Erhaltung der Gesundheit der Freier und deren Ehefrauen. Prostitution galt als unerwünschte, aber nicht abzuschaffende Institution, die von Männern selbstverständlich in Anspruch genommen wurde. Gerade unter jüngeren unverheirateten Männern des Bürgertums gehörte der Bordellbesuch zum üblichen Ritual, mit dem die Männlichkeit unter Beweis gestellt wurde. Der Staat versuchte, die Prostitution auf bestimmte Bezirke zu beschränken, die Prostituierten unter polizeiliche Aufsicht zu stellen und regelmäßigen ärztlichen Kontrollen zu unterziehen. Die Überwachung der Vorschriften wurde von der Sittenpolizei übernommen, die ihre Informationen nicht selten durch Denunziationen erhielt. Die Polizei war dazu befugt, Frauen, die sie der Prostitution verdächtigte, festzunehmen und einer Zwangsuntersuchung zuzuführen. Jede Frau, die ohne Begleitung auf öffentlichen Plätzen und Straßen unterwegs war, lief daher Gefahr, von der Polizei zur Prostituierten erklärt zu werden. Einmal festgenommen und untersucht, wurden sie auch bei offensichtlich falschem Prostitutionsverdacht ohne Entschädigung entlassen. Ihr Ruf war nach einem solchen Vorfall nicht selten ruiniert.

Die Gefahr, als Frau jederzeit unter Prostitutionsverdacht geraten zu können, sowie die Beobachtung, dass Arbeitsmangel, zu geringe Löhne und Hunger immer mehr Einwanderinnen, Dienstmädchen und Arbeiterinnen in die Prostitution trieben, führten schließlich dazu, dass das Thema Prostitution unter dem Stichwort „Sittlichkeitsbewegung“ zu einem wichtigen Anliegen der Frauenbewegung um die Jahrhundertwende werden sollte. Neben der ökonomischen Not machte man die engen Wohnverhältnisse, die mangelnde Bildung von Frauen, falsche oder fehlende Erziehung und den Zerfall des Familienlebens für das Abgleiten der Frauen in die Prostitution verantwortlich.

2. Der Deutsche Kulturbund, der Verein Jugendschutz und die deutschen Zweigvereine der Internationalen Abolitionistischen Föderation

Eine der ersten Frauen, die in Deutschland das Thema Prostitution aufgriff, war Gertrud Guillaume-Schack (1845–1903). Die Tochter des Grafen Alexander Schack von Wittenau lernte in Paris die abolitionistische Bewegung von Josephine Butler (1828–1906) kennen. Nach einer gescheiterten Ehe kehrte sie 1879 nach Deutschland zurück und gründete 1880 in Beuthen (Schlesien) den Deutschen Kulturbund, der sich als deutsche Zweigstelle der Internationalen Abolitionistischen Föderation (International Abolitionistic Federation) verstand und sich für die Abschaffung der staatlich reglementierten Prostitution einsetzte. Guillaume-Schack reiste durch das Deutsche Reich, um in öffentlichen Versammlungen für ihr Anliegen zu werben. Als sie 1882 in Darmstadt referierte und dabei die Sittlichkeitspolizei kritisierte, wurde sie zusammen mit der Veranstalterin wegen „groben Unfugs“ angeklagt. Obwohl beide Frauen freigesprochen wurden, entmutigte dieser Vorfall zunächst viele Frauen, sich mit dem Thema Prostitution zu beschäftigen.

Deutscher Kulturbund

Trotzdem wurde 1883 auch ein Berliner Zweigverein des Deutschen Kulturbundes gegründet. Dieser Berliner Zweigverein reichte bereits im Jahr seiner Gründung eine Petition beim Reichstag ein, in der die Doppelmoral der staatlich reglementierten Prostitution, die Frauen kriminalisierte und Freier unbehelligt ließ, angeprangert und die Auflösung der Sittenpolizei gefordert wurde. Die Frauen hielten es für ihre Pflicht, die Abschaffung der reglementierten Prostitution zu fordern, „die jedem göttlichen Gebote und menschlichen Gesetz widerstreitet, Tausende von Frauenleben opfert, … eine Einrichtung, die das Volk irre leitet, die Sittenbegriffe verwirrt, die Frau zur Sklavin des Lasters macht, und die Grundlage aller Ordnung und Sittlichkeit, die Achtung vor dem Gesetz und vor der Frau untergräbt“. Trotz persönlicher Vorsprachen von Gertrud Guillaume-Schack und anderer Frauen aus dem Verein beim Kultus- und Justizminister wurde die Petition abgelehnt. Wegen ihrer zahlreichen politischen Aktivitäten zugunsten von Arbeiterinnen wurde Guillaume-Schack 1886 aus Deutschland ausgewiesen und zog nach England. Der Deutsche Kulturbund löste sich daraufhin auf.

Verein Jugendschutz

1889 gründete Hanna Bieber-Böhm in Berlin den Verein Jugendschutz, um die Sittlichkeitsbewegung wieder voranzubringen. Als Zweck des Vereins nannte § 1 der Satzung: „der Jugend den Schutz zu gewähren, dessen sie dem Leichtsinn, dem Laster und der Grausamkeit gegenüber dringend bedarf, die Unsittlichkeit, welche die Grundlage des Staates, die Familie, an der Wurzel untergräbt, auf das energischste durch Wort und Schrift und durch praktische Maßnahmen zu bekämpfen und das sittliche Pflichtbewusstsein zu wecken und zu fördern“. Um dieses Ziel zu erreichen, errichtete der Verein Heime für alleinstehende Mädchen, bot eine Stellenvermittlung und Rechtsschutz für unbemittelte Mädchen und Frauen an und engagierte sich für den Kinderschutz. 1892 beantragte der Verein beim Berliner Polizeipräsidenten die Anstellung von „Polizeimatronen und Schutzdamen“, die den unschuldig oder schuldig eingelieferten Frauen und Mädchen beim Verhör und der Untersuchung beistehen sollten. Auch wenn dieser Antrag nicht genehmigt wurde, verfasste Bieber-Böhm weitere Petitionen an den Kaiser und den Reichstag, denen sich immer mehr Frauenvereine anschließen sollten. In diesen Petitionen forderte sie einerseits weiterhin die Abschaffung der reglementierten Prostitution, machte aber auch Verbesserungsvorschläge, die innerhalb des bestehenden gesetzlichen Rahmens umgesetzt werden konnten. So wurde um die strikte Trennung der erstmals festgenommenen Frauen von denen, die schon registriert waren, gebeten und die Anstellung von weiblichen Ärzten gefordert. Weiter verlangte Bieber-Böhm in einer Petition 1893 an den Kaiser die Einrichtung von Zwangserziehungsanstalten für alle „sittlich gefährdeten erwachsenen Personen“ und „für gefährdete Kinder unsittlicher Eltern“.

Bieber-Böhm protestierte energisch gegen die Meinung, dass Prostitution als ein notwendiges Übel zu akzeptieren sei, weil der „Fortpflanzungstrieb unbedingt befriedigt werden müsse“. Sie forderte Keuschheit für Jungen und Mädchen bis zur Ehe. Dieses Ziel glaubte sie durch eine „gesunde Erziehung zur Selbstbeherrschung“, Einführung eines hygienischen Unterrichts an allen Schulen und beim Militär, verstärkte Zensur, einer strengeren Überwachung von Lokalen und Freizeitveranstaltungen sowie durch ein Verbot des Verkaufs von Alkohol an Jugendliche erreichen zu können. Der Verein Jugendschutz forderte nicht nur das Verbot der reglementierten Prostitution, sondern auch die strenge Bestrafung der „gewerbsmäßigen Unzucht“ sowie die Anzeigepflicht der Ärzte bei der Feststellung von Geschlechtskrankheiten. Insgesamt erwecken die Forderungen des Vereins den Eindruck, dass dort an die Möglichkeit geglaubt wurde, die Prostitution durch die „Hebung der Sittlichkeit“ vollständig eliminieren zu können. Die Vorschläge des Vereins Jugendschutz wurden 1895 auch vom BDF auf seiner Generalversammlung in München angenommen. Ein Jahr später wurde die „Kommission zur Hebung der Sittlichkeit“ innerhalb des BDF eingerichtet, die sieben Jahre lang von Bieber-Böhm – die auch Mitglied im BDF-Vorstand war – geleitet wurde.

Abolitionistische Vereine

Durch die Einbettung in die Sittlichkeitsbewegung wurde das Prostitutionsthema allmählich salonfähig und 1899, nach der Emigration von Guillaume-Schack, wurden in Hamburg (Vorsitzende Lida Gustava Heymann) und Berlin (Vorsitzende Anna Pappritz) deutsche Zweigvereine der Internationalen Abolitionistischen Föderation gegründet. 1900 kamen weitere Zweigstellen in Colmar, Dresden und München hinzu. Alle Zweigvereine schlossen sich unter der Leitung von Katharina Scheven (1861–1922), der Leiterin der Dresdner Zweigstelle, zusammen und gaben seit 1902 die Zeitschrift „Der Abolitionist“ heraus. Diese Vereine traten dem BDF bei und vertraten gegenüber der Position von Bieber-Böhm ein etwas moderateres Programm. Man ging davon aus, dass der Tatbestand „gewerbsmäßige Unzucht“ kaum festzustellen sei. Deshalb lehnten die abolitionistischen Vereine die Bestrafung der „gewerbsmäßigen Unzucht“ ebenso ab wie die Anzeigepflicht der Ärzte. Der Schwerpunkt galt der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, die man durch die Bereitstellung einer möglichst einfach zugänglichen und kostenlosen ärztlichen Behandlung erreichen wollte. Insgesamt zielten die Aufklärungsarbeit und die Einrichtungen aller dieser Vereine auf die Hebung der Sitten und die Stärkung der Ehe und wollten keineswegs der Prostitution zu humaneren Rahmenbedingungen verhelfen.

Stichwort

Abolitionismus

Abolitionismus bezeichnet den Kampf der Frauenbewegung für die Abschaffung der staatlich reglementierten Prostitution. Mit diesem Begriff (engl. to abolish = abschaffen) lehnte sich Josephine Butler 1875 bei der Gründung der „International Abolitionistic Federation“ bewusst an den Namen der US-amerikanischen Antisklaverei-Bewegung an, um die Parallelen zwischen der Versklavung von Schwarzen und Frauen deutlich zu machen. So wird der Mädchenhandel im Englischen auch „white slavery“ genannt. Wie andere soziale Bewegungen strebte auch der Abolitionismus einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel an, forderte gleiche Moral und gleiches Recht für Frauen und Männer ein und suchte diese Verän derungen durch eine sittliche Erziehung der Gesellschaft herbeizuführen. Dabei waren Personen, die abolitionistische Ziele vertraten, nicht nur in der „Internationalen Abolitionistischen Föderation“ (IAF) organisiert, sondern auch in anderen Vereinen und Parteien, insbesondere in den Vereinen der Frauenbewegung und in der SPD. Die Prostitution, für die ähnliche Definitions- und Abgrenzungsprobleme gelten, stellte für alle diese Gruppen in diesem Zusammenhang das offenkundigste gesellschaftliche Phänomen dar, das verändert oder verboten werden sollte und das im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in Europa ausführlich und kontrovers diskutiert und behandelt wurde.

3. Der Bund für Mutterschutz und Sexualreform (BfMS)

Erst nach der Jahrhundertwende nahm die Frauenbewegung weibliche Sexualität jenseits des Prostitutionsproblems in den Blick. Wurde außereheliche Sexualität im 19. Jahrhundert im Wesentlichen als Sittlichkeitsproblem der Unterschichten betrachtet, machte man sich nun auch in kleinen Kreisen über die Sexualität von Frauen im Allgemeinen Gedanken. Ausgangspunkt der sogenannten Neuen Ethik bildete die Frage, ob Frauen nicht ein Recht zustünde, sexuelle Beziehungen unabhängig von materiellen Überlegungen eingehen zu können. Helene Stöcker, Vertreterin des Abolitionismus, war an der Prägung und inhaltlichen Ausgestaltung der Neuen Ethik maßgeblich beteiligt. Sie übernahm 1907 den Vorsitz des 1905 gegründeten Bundes für Mutterschutz, der 1908 in Bund für Mutterschutz und Sexualreform (BfMS) umbenannt wurde und der sich zum Kristallisationspunkt der Neuen Ethik entwickeln sollte. Stöcker forderte nicht nur die politische Partizipation und die ökonomische Unabhängigkeit, sondern auch das Selbstbestimmungsrecht der Frau über ihren Körper und ihre Sexualität. Angeregt von den Arbeiten Friedrich Nietzsches (1844–1900) war sie der Ansicht, dass nicht die Ehe, sondern nur die Liebe die einzig legitime Basis jeder sexuellen Beziehung sein könne. Grundlage jeder Beziehung zwischen Mann und Frau sollten ein gleichberechtigter Umgang, die gegenseitige Achtung sowie die gemeinsame Verantwortung für die Partnerschaft und die Familie bilden.

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Abb. 7 Titelblatt des 1905 bis 1933 von Helene Stöcker herausgegebenen Organs des Bundes für Mutterschutz

Der BfMS, der bis 1933 existierte, zählte zuletzt 26 Ortsgruppen. Die Mitgliederzahl soll bei etwa 4000 gelegen haben, etwa ein Drittel der Mitglieder stellten Männer. Dem BfMS gehörten unter anderem August Bebel (1840–1913), Sigmund Freud (1856–1939), Max Weber (1864–1920), Ernst Haeckel (1834–1919), Werner Sombart (1863–1941) und Frank Wedekind (1864–1918) an. Die Leitung und Prägung des Vereins erfolgte jedoch durch Helene Stöcker. Der BfMS setzte sich zum Ziel, die Vorurteile gegenüber ledigen Müttern und deren Kindern abzubauen und eine Verbesserung ihrer rechtlichen und sozialen Lage zu erreichen. Deshalb forderte er eine Reform des Familien- und Eherechts, die Gleichstellung von unehelichen mit ehelichen Kindern und setzte sich für Sexualaufklärung und Sexualreform ein. Weiter forderte er die Erleichterung der Ehescheidung und Gleichstellung von Mann und Frau im Scheidungsrecht. Der BfMS vermittelte Arbeitsstellen und bot eine kostenlose Rechtsberatung an. 1908 wurden die ersten beiden Mütterheime in Berlin und Frankfurt am Main eröffnet, in denen in Not geratene Schwangere, Mütter und ihre Kinder untergebracht und betreut wurden. Man plädierte für das Recht auf Empfängnisverhütung, für die Freigabe der Abtreibung und die Abschaffung des § 218 RStGB, der Schwangere im Falle einer Abtreibung mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bedrohte. Wie die Abolitionisten forderte auch der BfMS die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten und der Prostitution. In den 1920er-Jahren eröffnete der Bund für Mutterschutz Ehe- und Sexualberatungsstellen, in denen auch Jugendliche beraten wurden.

4. Die Reaktionen des BDF auf die Sexualreformdebatten

Neue Ethik

Die Ideen des BfMS stießen in den ersten Jahren in fast allen dem BDF angeschlossenen Frauenvereinen auf Ablehnung, ja Empörung. Besonders die konfessionellen Frauenvereine verurteilten die Neue Ethik, da sie durch die Rechtfertigung von außerehelichen sexuellen Beziehungen die Unsittlichkeit fördern würde. Der BDF verweigerte dem BfMS 1910 die beantragte Aufnahme in den Dachverband. Führende Vertreterinnen des BDF wie Helene Lange, Paula Mueller-Otfried und Marianne Weber setzten sich intensiv mit den Ideen der Neuen Ethik auseinander und machten ihre ablehnende Haltung gegenüber deren Prämissen in Publikationen deutlich. Die monogame Ehe wurde als Norm und einzig akzeptable Form für sexuelle Beziehungen propagiert, ledige Mütter und uneheliche Kinder galten als tragische Fälle, die man allerdings aus Nächstenliebe und bevölkerungspolitischen Überlegungen zu unterstützen habe.

Positionen des BDF

In den ersten Jahren des BDF waren die Vorstellungen Bieber-Böhms zur Regelung der Sittlichkeitsfrage noch mehrheitsfähig. Erst um die Jahrhundertwende begannen sich die Anhängerinnen der abolitionistischen Vereine innerhalb des BDF zu positionieren. Anita Augspurg, Minna Cauer, Lida Gustava Heymann und Marie Stritt versuchten, die abolitionistische Position gegen die Bieber- Böhm’sche Sichtweise durchzusetzen. Als Marie Stritt 1898 das Amt der Vorsitzenden des BDF übernahm, ebnete sie den Weg für die Wende des BDF in dieser Frage. Auf der Generalversammlung des Jahres 1902 sprach sich die Mehrheit der Versammlung für eine ersatzlose Streichung des § 361,6 RStGB aus und ließ die Forderung nach gesetzlicher Bestrafung der „gewerbsmäßigen Unzucht“ bei beiden Geschlechtern fallen. Die Prostitution sollte nicht bestraft, sondern durch wirtschaftliche und Erziehungsmaßnahmen beseitigt werden. Die Mehrheit der BDF-Generalversammlung war zu der Überzeugung gekommen, dass die Strafverfolgung der Prostituierten nicht ihre „Besserung“ herbeiführen konnte, sondern dass die Sittenpolizei durch die Registratur einmal auffällig gewordener Frauen diesen die Rückkehr in eine „ehrbare“ Erwerbstätigkeit unmöglich machte. Bieber-Böhm wurde als Leiterin der Sittlichkeitskommission abgewählt und Anna Pappritz trat als Vorsitzende des Berliner Zweigvereins der Internationalen Abolitionistischen Föderation (IAF) an ihre Stelle.

1908 stellte die Rechtskommission des BDF auf der Generalversammlung in Breslau den Antrag, der BDF möge die Forderung nach Abschaffung des § 218 RStGB und damit die Straffreiheit für Abtreibung unter bestimmten Bedingungen in sein Programm aufnehmen. Mit der Übernahme dieser Forderung rückte die Rechtskommission in die Nähe der Neuen Ethik. Der Antrag wurde nicht zuletzt mithilfe des neu eingetretenen mitgliederstarken DEF abgelehnt. Die Mehrheit des BDF plädierte 1908 für die Beibehaltung des § 218 bei Herabsetzung des Strafmaßes. Diese Haltung sollte der BDF bis zu seiner Auflösung 1933 vertreten. Als das Thema auf der Generalversammlung 1925 in Dresden breiteren Raum einnahm, wurde nochmals deutlich, dass am Abschreckungscharakter des § 218 festgehalten werden sollte, um einem Verfall der Sitten nicht Vorschub zu leisten. Nur im Falle einer streng überprüften medizinischen Indikation schien der BDF-Führung ein Schwangerschaftsabbruch akzeptabel zu sein. Insgesamt wollte man das Problem jedoch durch einen verbesserten Schutz von Mutter und Kind, und nicht durch die Erleichterung der Abtreibung gelöst wissen. Damit trat die Wohlfahrtspolitik in den Vordergrund, die den BDF in den weiteren Jahren in viel höherem Maße beschäftigen sollte als die Frage nach der Reform des § 218.

Als Marie Stritt 1910 als Vorsitzende des BDF zurücktrat und Gertrud Bäumer zur ersten Vorsitzenden gewählt wurde, trat die Abschaffung der Prostitution wieder in den Vordergrund der Sittlichkeitsdebatten und der Abolitionismus wurde zur Richtschnur der BDF-Politik erhoben. Obwohl sich die Frauenbewegung seit der Jahrhundertwende vehement für die Abschaffung der reglementierten Prostitution einsetzte und ihre diesbezüglichen Aktionen viel Aufsehen erregten, blieb ihr Engagement in dieser Sache bis weit in die Weimarer Republik hinein erfolglos. Erst nachdem Frauen in die Parlamente eingezogen waren, versuchten sie zusammen mit Ärztinnen und Ärzten ein neues Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten verabschieden zu lassen. 1923 versagte der Reichstag einem solchen Gesetz die Zustimmung. Im zweiten Anlauf wurde das Gesetz schließlich im Oktober 1927 verabschiedet. Seitdem war die Prostitution an sich straffrei, wenn sie auch weiterhin nach § 361, 6a RStGB aus Wohngebieten ferngehalten werden musste. Das Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten war jetzt geschlechtsneutral formuliert, die Sittenpolizei wurde abgeschafft. Da im Gegenzug den Gesundheitsbehörden jedoch große Befugnisse eingeräumt wurden und diese durch die Polizei bei der Erfüllung ihrer Aufgaben unterstützt werden sollten, wurde in der Praxis die polizeiliche Reglementierung nun durch die ärztliche Aufsicht abgelöst. In der Zeitschrift „Die Frau“, dem Organ des BDF, wurde dieses Gesetz dennoch bereits als „Sieg des Abolitionismus in Deutschland“ gefeiert.

Die ältere Forschung hat die Positionen der verschiedenen Frauenorganisationen in der Sexualreformdebatte gerne in die Rubriken „konservativ, rückständig“, beziehungsweise „fortschrittlich, progressiv“ eingeordnet. Eine solche Zuordnung, die aus der Perspektive der Diskussionen in den 1960er-, 1970er- und 1980er-Jahren vorgenommen wurde, wird weder dem Thema gerecht, noch den einzelnen Organisationen und schon gar nicht der Dynamik, die dieser Debatte eigen war. Auch die autobiografischen Aufzeichnungen von Helene Stöcker, die 2015 veröffentlicht wurden, zeigen die unterschiedlichen Positionierungen dieser Protagonistin gegenüber den politischen Entwicklungen auf sowie ihre vielfältigen Kontakte und Verbindungen zwischen der Frauenbewegung, abolitionistischen und pazifistischen Gruppierungen, in denen sie mit Männern und Frauen zusammenarbeitete. Wie Irene Stoehr deutlich gemacht hat, ist die Sexualreformdebatte weitgehend ahistorisch und auf unzureichender Quellengrundlage behandelt worden. So trat etwa der BfMS zwar für eine neue Sexualmoral ein, hielt jedoch an der Institution Ehe fest, die er lediglich auf eine neue Basis gestellt sehen wollte. Der BDF blieb von diesen Diskussionen nicht unbeeindruckt und veränderte im Laufe der Zeit einige seiner Positionen. So setzte sich der BDF für eine Reform des Ehe- und Familienrechts und die Gleichstellung unehelicher Kinder ein. Gertrud Bäumer, die in der Weimarer Republik den BDF-Ausschuss zur Bearbeitung des Gesetzentwurfs über die unehelichen Kinder leitete, brachte im Parlament zusammen mit Antonie Pfülf (1877–1933) (SPD) und Ernestine Lutze (1873–1948) (SPD) eine Entschließung ein, die Nationalversammlung möge die rechtliche und soziale Benachteiligung des unehelichen Kindes beseitigen, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass auch der BDF die Position vertrete, uneheliche Kinder müssten dieselben Entwicklungschancen haben wie eheliche. Wie in nahezu allen Organisationen, die sich mit Fragen der Prostitution, der Gesundheitspolitik und der Bevölkerungsentwicklung auseinandersetzten, überlagerten sich auch beim BfMS und beim BDF in den Diskussionen Reform- und Emanzipationsziele mit (rassen-)hygienischen und sozialdarwinistischen Überlegungen. Gegen Ende der Weimarer Republik wurde individuellen Rechten von Müttern gegenüber nationalen Belangen in nahezu allen gesellschaftlichen Kreisen immer weniger Bedeutung zugemessen.

Auf einen Blick

1896 wurde im BDF die „Kommission zur Hebung der Sittlichkeit“ gegründet, die sich unter dieser Zielsetzung der Bekämpfung von Prostitution und Geschlechtskrankheiten widmete und damit zur Stärkung der Ehe beitragen sollte. Angeregt von der abolitionistischen Bewegung, in der sich Frauen und Männer engagierten, die die staatlich reglementierte Prostitution abschaffen wollten, versuchte der BDF, Prostituierten durch Erziehungsmaßnahmen und die Eröffnung von Rückkehrmöglichkeiten in „ehrbare“ Berufe den Ausstieg aus diesem Gewerbe zu ermöglichen. Besonders aktiv beteiligte sich der 1905 gegründete BfMS an der Sexualreformdebatte, der auch das Recht auf Empfängnisverhütung und Straffreiheit für Abtreibungen forderte. Auch wenn der BDF dem BfMS 1910 die Aufnahme in den Dachverband verweigerte, öffnete sich der BDF nach dem Ersten Weltkrieg gegenüber den Forderungen der Abolitionisten und des BfMS.

Literaturhinweise

Gudrun Hamelmann: Helene Stöcker, der „Bund für Mutterschutz“ und „Die Neue Generation“, Frankfurt a. M. 1992. Pionierstudie zu dem von Helene Stöcker 1905 mitgegründeten Bund für Mutterschutz, deren Vorsitzende sie seit 1907 war und bis 1932 in dieser Funktion auch dessen Zeitschrift herausgab.

Bettina Kretzschmar: „Gleiche Moral und gleiches Recht für Mann und Frau“. Der deutsche Zweig der Internationalen abolitionistischen Bewegung (1899–1933), Sulzbach i. Ts. 2014. Grundlegende Arbeit über die abolitionistischen Vereine in Deutschland, die sich in vielfältigen Koalitionen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik für die Abschaffung der Reglementierung der Prostitution einsetzten.

Bärbel Kuhn: Familienstand: ledig. Ehelose Frauen und Männer im Bürgertum 1850–1914, Köln, Weimar, Wien 2000. Diese Untersuchung zeigt, wie wenig akzeptiert alternative Lebensweisen von unverheirateten Männern und Frauen waren, die nicht heiraten wollten oder konnten.

Julia Polzin: Matriarchale Utopien, freie Liebe und Eugenik. Die Mutterbewegung im Deutschen Kaiserreich und der Bund für Mutterschutz bis 1940, Hamburg 2017. Die Arbeit stellt durch die Konzentration auf die bislang wenig bekannte Mitbegründerin des BfMS, Ruth Bré (1862–1911), die Anfänge des BfMS in einer neuen Perspektive dar. Im Mittelpunkt des Interesses steht der gesellschaftliche und staatliche Umgang mit unverheirateten Müttern.

Helene Stöcker: Lebenserinnerungen. Die unvollendete Autobiographie einer frauenbewegten Pazifistin, hg. v. Reinhold Lütgemeier-Davin u. Kerstin Wolff, Köln 2015. Wichtige Quelle zu einer der ersten promovierten Frauen, die in der Frauenbewegung aktiv war und eine bedeutende Rolle in der Sexualreformdebatte spielte. Ihr Verhältnis zur Frauenbewegung und zum Pazifismus wird in einem einleitenden Text von der Herausgeberin und dem Herausgeber untersucht.