6.

Eine grässliche Nacht lag hinter mir. Ich hatte das Gefühl, kaum geschlafen zu haben, und stand schon eine Viertelstunde vor dem Weckerklingeln unter der Dusche.

Bei einem schnellen schwarzen Kaffee stieg meine Nervosität. Bis zur Frühstückspause lagen zweieinhalb Stunden Stallarbeit vor mir. Würde ich das überhaupt schaffen? So rein von meiner körperlichen Verfassung her? Hoffentlich machte ich nicht schlapp.

Der Hof lag im ersten Sonnenschein des Tages. Aus den Stallfenstern schauten mich Pferdegesichter erwartungsvoll an und ließen mich unwillkürlich lächeln. Es tat gut, sich einzubilden, dass die auf mich gerichteten Augen und die gespitzten Ohren Erwartung ausdrückten. Die schwarze Katze, die ich schon an meinem Vorstellungstag gesehen hatte, zeigte sich in der Tür des linksseitigen Stallgebäudes, setzte sich und putzte ihre Schnurrhaare. Diesmal wollte ich ihre Bekanntschaft machen und nahm langsam Kurs auf sie. Mit etwas Abstand hockte ich mich vor sie hin.

»Na, du Schöne!« Ich hielt ihr meine Hand zum Beschnuppern entgegen, und sie nahm das Angebot an. Mit steil aufgerichtetem Schwanz drückte sie ihren grazilen Körper kurz an meine Knie.

Ein mehrstimmiges Wiehern erklang, aber ich war mit meiner neusten Bekanntschaft beschäftigt. »Wie heißt du denn?«, fragte ich unsinniger Weise.

»Mausi.«

Ich wandte den Kopf. Kristian – natürlich. Ihm hatte das Wiehern gegolten.

»Moin.«

»Moin«, antwortete ich brav.

Er musterte mich prüfend. Ich trug Jeans und ein lässig geschnittenes T-Shirt. An den Füßen weiße Sneakers. Genau dort blieb Kristians Blick eine Sekunde länger hängen.

Ich strich Mausi noch einmal über das seidenweiche Rückenfell, bevor ich aufstand. »Was nicht in Ordnung?«

»Schätze mal, Größe siebenunddreißig kommt hin.«

»Eigentlich sechsunddreißig«, sagte ich.

Ich folgte ihm in die Sattelkammer und tauschte meine Sneakers gegen ein Paar derbe knöchelhohe Arbeitsschuhe, die ein bisschen zu groß waren. Morgen würde ich zwei Paar Socken anziehen.

Danach drückte mir Kristian einen Hufkratzer in die Hand. »Erste Regel: Kein Pferd verlässt die Box, ohne dass der hier vorher zum Einsatz kam.«

So ein langer Satz von ihm, der wurde ja noch richtig gesprächig. »Und die zweite?«, fragte ich, ihm auf die Stallgasse folgend und auf weitere Kommunikation hoffend. Ein wenig zu keck vielleicht? Ach, was wusste ich, wie die Sylter so tickten.

Er ging einfach weiter an den Boxen entlang, aus denen leises Grummeln, Prusten oder forderndes Wiehern ertönte. Nun schauten die Pferde nicht mehr aus den Fenstern nach draußen, aller Augen waren auf uns gerichtet; ich fühlte förmlich den Drang der Vierbeiner rauszukommen, ins Freie, ins Gras, in die Freiheit, auch wenn diese durch Weidezäune begrenzt war.

Bei der letzten Box blieb Kristian stehen. »Regel Nummer zwei: Sultan immer zuerst. Der schlägt sonst die Tür zu Kleinholz.« Er griff zu Halfter und Führstrick – beides hing außen an der Box. »Du nimmst seinen Nachbarn.«

Nun klopfte mein Herz doch einen Takt schneller. Pferde auf die Weide bringen war weiß Gott kein Neuland für mich, dabei hatte ich früher auf dem Reiterhof in Westerholt oft mitgeholfen, aber es war alles so lange her … Und dort waren mir die Pferde und ihre Eigenarten nicht fremd gewesen wie hier. Manche konnten recht stürmisch sein, wenn es rausging, drängten oder tänzelten neben einem her oder …

»Lisa?«

Kristian hatte dem großen Schimmel Sultan bereits das Halfter angelegt, und was machte ich? Ich stand immer noch auf der Gasse wie festgeklebt. Der dachte bestimmt, ich hätte die große Panik gekriegt oder so. Entschlossen wandte ich mich der Nachbarbox zu. Monty stand in Kreide auf der Schiefertafel. Eine kleine Freude hopste durch mein Inneres. Monty war also mein Erstes! Der ausgeglichene Schecke und, wie ich annahm, Kristians eigenes Pferd. Frisch motiviert, öffnete ich die Boxentür, klopfte kurz Montys kräftigen Hals, bevor ich ihm behutsam das Halfter über den Kopf zog.

 

Kurz nach neun standen fünfzehn Pferde zufrieden auf der Weide, die Mäuler im Gras versenkt, und zweiundzwanzig Boxen waren ausgemistet und mit frischer Einstreu versehen. Sechs Schulpferde, die für den Gruppenausritt um zehn benötigt wurden, hatten nicht rausgedurft, dafür aber eine Portion Heu erhalten. Die Box mit dem Namen Pauline auf der Tafel war leer gewesen. Auf meinen fragenden Blick hatte ich von Kristian keine Antwort erhalten. Er stellte nur stillschweigend die Schubkarre davor ab und schwang die Mistgabel wie bei den anderen zuvor. Mir war trotzdem klar, dass es sich um die Box der kleinen Fuchsstute handeln musste, die sich mir gegenüber so aufgeschlossen gezeigt hatte, denn natürlich hatte ich nach ihr ausgeschaut, sogar ein wenig gehofft, gerade sie vielleicht zur Weide bringen zu dürfen. Ob Wiebke so früh mit ihr ausritt? Oder arbeitete sie mit ihr in der Halle, die etwa fünfzig Meter von den Stallgebäuden entfernt lag?

»Geh man ruhig schon in die Küche«, sagte Kristian, als er sah, dass ich unschlüssig dastand. »Ich feg noch eben die Gasse.«

Ich machte mich langsam auf den Weg, fühlte das T-Shirt feucht am Rücken kleben und die feinen Staubkörnchen in meinem Gesicht. Sicher roch ich auch nach Stall und Arbeit.

»Neben der Sattelkammer!«, rief er hinter mir.

Ich drehte mich um. »Was?«

Er schaute aus Paulines Box. »Toilette und Waschraum, Handtücher im Schrank rechts.«

»Ach so. Ja … äh, danke!«

Nachdem ich Arbeitsschuhe gegen Sneakers gewechselt und mich ein bisschen frisch gemacht hatte, ging ich zum Wohnhaus hinüber. Die Haustür stand offen, und mit Betreten der Diele schlug mir Kaffeeduft entgegen. Im selben Moment knurrte mein Magen.

»Moin.« Antje Bruns wandte sich vom Herd zu mir um, als ich in die Küche kam. Ein zweiter Duft stieg mir in die Nase. Der nach gebratenem Rührei.

»Moin«, gab ich zurück. Klappte immer besser mit dieser knappen, zu jeder Tageszeit passenden Begrüßungsform.

»Naa?« Sie lächelte mich breit an.

»Mhhh«, machte ich und sog den Geruch ein. »Riecht wunderbar bei Ihnen.«

Sie leerte den Inhalt der Pfanne in eine Schüssel und stellte sie auf den Tisch, streifte mich mit einem Seitenblick. Dann drehte sie sich ganz zu mir um, schmunzelte und fasste in ihr kurzes Blondhaar. »Ordentlich was getan, nüch?«

Ich nickte. Mir lief das Wasser im Mund zusammen beim Anblick des reich mit Wurst- und Käsesorten, verschiedenen Marmeladen, Müslis und Brötchen in rund, lang, spitz, körnig, hell und dunkel gedeckten Tisches.

Wieder zupfte sie in ihren Haaren herum. »Und man sieht es auch.«

Ich schaute sie verständnislos an. Da kam sie auf mich zu und griff nach den Strähnen, die sich aus dem Gummiband befreit hatten und sich seitlich zu meiner Schulter herunter lockten. Ein mindestens zehn Zentimeter langes Stück Strohhalm hielt sie mir vor Augen und lächelte schon wieder – oder noch immer.

»Oh … Das hab ich nicht gesehen. Ich mein, ich war ja gerade noch im Waschraum mit dem Spiegel …«

»Alles gut. Setz dich schon mal, die anderen kommen auch gleich.«

Wie aufs Stichwort tauchte in dem Moment Hauke Bruns im Eingang zur Küche auf, in Reithose, blank geputzten Stiefeln und einem dunkelblauen Polohemd. Er schickte ein »Moin« zu mir herüber, bevor er Platz nahm und sich Tee einschenkte.

Ich zog mir gerade einen Stuhl zurück, als Wiebke hereinrauschte, ebenfalls in Reitkleidung. Allerdings sah das alles an ihr nicht so taufrisch aus wie bei ihrem Vater. Schwitzflecken, Schmutzspuren auf dem weißen T-Shirt, verkrusteter Sand an den Stiefeln.

»Es war toll heute!«, rief sie. »Der Strand gehörte Pauline und mir allein.« Dann krauste sich ihre kleine Nase, sie schnupperte. »Sogar Zwiebeln im Rührei heute, Mannomann! Ich spring noch fix unter die Dusche.«

Schon war sie wieder an der Tür, hielt jedoch noch einmal inne. »Ach, Lisa, bring doch eben schnell Pauline auf die Weide, ja?« Und war im Laufschritt davon.

»Ja … dann geh ich mal …« Ich schob den Stuhl wieder an den Tisch. Sagte mir, dass es nicht so schlimm war, einen Befehl der Juniorchefin anzunehmen, doch das Unbehagen in mir blieb.

»Setzen!«, sagte Herr Bruns, und in der gleichen Sekunde kam Kristian herein.

Irritiert schaute ich von einem zum anderen. Wem hatte die Aufforderung nun gegolten?

Kristian griff ohne Umstände zu einem Brötchen, nahm den Platz mir gegenüber ein und blickte zu mir herüber. Es sah einen Augenblick so aus, als wollte er etwas sagen, aber da meldete sich der Hausherr erneut zu Wort.

»Die Pauline kann bis nach dem Frühstück warten.« Er zeigte mit einer Handbewegung, was ich tun sollte, und endlich setzte ich mich.

Kristian reichte mir die Schüssel mit dem Rührei. Antje Bruns goss mir Kaffee ein. Ich atmete innerlich auf, um im nächsten Moment mit erneutem Unbehagen daran zu denken, dass Wiebke in wenigen Minuten unsere Tischrunde bereichern würde. Aber als sie kam, schien sie ihren Befehl schon vergessen zu haben, und scherte sich nicht weiter um mich.

 

Gegen Mittag wurde es richtig warm, und nachdem ich der Truppe, die mit Hauke Bruns vom Ausritt zurückgekommen war, beim Absatteln und Versorgen der Pferde geholfen hatte, ging es bergab mit meiner Energie. Schlapp und ausgelaugt ließ ich mich auf die Hausbank neben dem Eingang zum Wohnhaus fallen. Gut, dass es eine längere Mittagspause gab. Ob ich mich ein bisschen hinlegte, oben in meinem Wolkenkuckucksheim?

Antje Bruns erschien auf der Türschwelle. »Für heute reicht es«, sagte sie, »ruhen Sie sich schön aus, Sie haben frei.«

»Aber …« Ich richtete mich auf.

»Nix aber«, fiel sie mir ins Wort. »Am Nachmittag muss ich weg, da hab ich keine Zeit, Ihnen was im Büro zu zeigen. Neue Gäste erwarten wir nicht, und es stehen auch keine Anmeldungen für einen weiteren Ausritt im Plan.« Sie nickte mir noch einmal zu und verschwand im Haus.

Dankbar nahm ich das unerwartete Geschenk an, stieg langsam zu meiner Dachwohnung hinauf, wo sich die Wärme bereits staute, duschte und zog mir Shorts und eine luftige Bluse an. Am liebsten hätte ich mich jetzt wirklich auf das Bett geschmissen und alle viere von mir gestreckt. Aber, was ich ein wenig verdrängt hatte, ich musste mir unbedingt einen kleinen Essensvorrat anlegen. Getränke gebe es im Nebenraum eines der beiden Stallgebäude, hatte ich erfahren; dort könne man sich bedienen, das Entnommene auf einer Strichliste eintragen und später in Summe bezahlen. Und ein Fahrrad dürfe ich mir ausleihen, hatte mir Antje Bruns beim Frühstück ebenfalls erklärt, im Schuppen bei der Halle stünden mehrere. »Suchen Sie sich das schickste aus.«

Übergroße Lust zu radeln hatte ich nicht, aber sicher war es immer noch besser, als zu Fuß in den nächsten Ort zu laufen und mit Lebensmitteln beladen wieder zurück. In Keitum sollte es einen SB-Markt geben. Stellte sich nur die Frage, ob ich ihn finden würde. Schon seit jeher hatte ich Schwierigkeiten, mich in unbekannter Umgebung zu orientieren.

Mit einem Mal überlief mich ein Schauer. Allein in der Fremde, verlassen, betrogen, ausgenutzt. Nein, ich durfte diese trostlose Stimmung nicht zulassen. Ich hatte einen Job, und ich würde bald wieder schreiben. Was war schon Geld? Bunt bedrucktes Papier!

Richtig überzeugen konnte ich den ängstlichen Teil meines Ichs nicht gerade damit. Doch Mozarts Kleine Nachtmusik lenkte mich von den trüben Gedanken ab.

Henning las ich vom Display des Handys und freute mich.

»Na, gerade Mittagspause?«, fragte er. »Und noch nicht umgefallen?«

»Fast. Aber stell dir vor, Frau Bruns hat mir für den Rest des Tages freigegeben.«

»Super! Dann könntest du ja die Anzeige machen. Carsten hat heute Nachmittag bis fünfzehn Uhr Innendienst.«

Ich schwieg einen Moment. Am liebsten hätte ich das, was passiert war, so schnell wie möglich vergessen. Abgehakt. So getan, als hätte es nie einen Markus Held gegeben. Aber es hieß auch, dass einen die Vergangenheit irgendwie immer wieder einholt.

So antwortete ich schließlich zögernd: »Wäre wahrscheinlich das Beste, wenn ich es schnell hinter mich bringe.«

»Kopf hoch, Sweeti. Du hast schließlich niemanden betrogen.«

»Nee, aber ich war so naiv, so blöd …«

»Und? Wie gefällt es dir auf Pferdeglück?«

Aha, neues Thema. Ich schmunzelte und erzählte Henning ein wenig von meinem ersten Arbeitsmorgen. Dann erklärte er mir noch, wie ich zur Dienststelle der Polizei in Westerland kam und trug mir liebe Grüße an seinen Carsten auf.

 

Lustlos schwang ich mich aufs Rad. Meine Leidenschaft fürs Radeln hielt sich in Grenzen, besonders seit der Tour mit Marlene vor zwei Jahren, an der Ruhr entlang. Drei Tage lang hatte ich danach kaum mehr sitzen können. Meine Freundin musste immer übertreiben. Eine kleine Fahrradtour war bei ihr nicht eine von zwei Stunden, sondern dauerte von frühmorgens bis zum Abend. Aber auch vorher hatte ich eher ungern in die Pedale getreten. Es lag nicht daran, dass mein Vater bei einem Unfall mit dem Rad verunglückt war, als ich noch nicht einmal das sechste Lebensjahr erreicht hatte. Daran konnte ich mich nur vage erinnern. Ich mochte es einfach nicht, dass die Landschaft so schnell an mir vorbeizog, ich keine ausreichende Zeit zum Schauen hatte, weil ich mich aufs Fahren und den Verkehr konzentrieren musste. Aber vielleicht würde sich hier meine Abneigung legen. Immerhin gab es viele Radwege auf der Insel und kaum Steigungen. Also strampelte ich los.

Da ich meine Probleme mit dem Finden von beschriebenen Orten oder Wegen bestens kannte, hatte ich zuvor den Laptop herausgeholt, mir die Strecke auf Google Maps zeigen lassen und mir die Straßen, an denen ich jeweils abbiegen musste, von Anfang bis Ende notiert.

Erst war es beschaulich. Auf schmalen Straßen ging es durch Felder und Wiesen; einmal links, einmal rechts abbiegen, wie mir mein Spickzettel bestätigte, und ich erreichte die L24. Auf dem parallel zur Landstraße verlaufenden Radweg fühlte ich mich einigermaßen sicher. Unangenehm fand ich nur den Wind, der ausgerechnet von vorn wehen musste. Als ich mich einer großen Kreuzung näherte, wies ein Hinweisschild linker Hand den Sylter Flughafen aus. Hier musste ich doch wieder abbiegen, oder? Also anhalten und nachschauen. Richtig, in die Bahnstraße. Nun war ich schon mitten in Westerland. Noch ein weiteres Mal war ein Blick auf den Spickzettel nötig, dann sah ich das große dunkelrote Backsteingebäude des Polizeireviers vor mir. Ich bremste ab und fuhr auf den Parkplatz.

Gut, dass mich die Wegsuche während der Fahrt genügend beschäftigt hatte und mich erst beim Absteigen ein flaues Gefühl überfiel.

Meine Ankunft musste wohl beobachtet worden sein, denn kaum hatte ich das Rad gesichert, stand da auch schon ein gut gebauter friesischer Polizist an der Eingangstür und winkte mir freundlich zu. Carsten kam mir in dem Moment beinahe wie ein alter Freund vor, und der Gang aufs Revier verlor ein wenig von seiner Schwere.

In der folgenden Stunde redete ich viel. Carsten hatte mir klargemacht, dass falsche Scham fehl am Platze sei und ich alles, was mir zu Markus einfiel, erzählen solle. Wie es angefangen hätte bis zum bitteren Ende, auch wenn ich mich dabei schlecht fühlen sollte oder mir dumm vorkäme. Er tippte, während ich sprach, eifrig in die Tastatur des PCs, stellte zwischendurch Fragen, hörte dann wieder aufmerksam zu. Dass der zweite Schreibtisch im Raum nicht besetzt war, half mir. Dennoch kam ich einige Male ins Stocken. Besonders als ich berichtete, wie Markus meiner Vermutung nach in der Boutique meine Geheimnummer erspäht hatte. Schmerzlich wurde mir bewusst, wie leichtsinnig ich gewesen war.

Bevor Carsten den Anhörungsbogen ausdruckte, musste ich mir noch eine Reihe von Fotos auf dem Bildschirm ansehen. Polizeibekannte Betrüger, die ähnlich vorgingen wie Markus, und Heiratsschwindler. Ich klickte mich von einem zum anderen. Sie sahen sämtlich nicht kriminell aus. Jedenfalls nicht so, wie ich mir einen Kriminellen vorstellte; im Gegenteil, eigentlich wirkten sie sympathisch und schauten gepflegt aus.

Mit einem tiefen Atemzug wandte ich mich nach dem letzten Foto Carsten zu, der sich an den zweiten Schreibtisch gesetzt hatte, und wusste selbst nicht so genau, ob ich erleichtert oder enttäuscht sein sollte.

»Er war nicht dabei«, sagte ich.

»Sicher?« Carsten rieb sich seinen Dreitage-Bart und blickte mich aus seinen Blauaugen prüfend an.

»Vollkommen.«

»Gut, dann wären wir fertig.« Er ließ den Drucker seine Arbeit tun und legte mir den Bogen vor. »Lies dir alles gut durch, und wenn es so okay ist, unterschreibe bitte.«

Das war also geschafft.

Carsten brachte mich über den Flur zum Ausgang. »Henning und ich wollen nachher in der Kupferkanne so’n richtig fettes Stück Kuchen essen. Kommst du mit? Ich mein, wo du doch schon mal freihast.«

Ach, mein friesisches Männerpärchen, ihr beiden seid einfach lieb! Ich strahlte ihn an. Gleichzeitig machte etwas Klick in meinem Kopf. Kupferkanne …?

»Sollte deine erfreute Miene ein Ja bedeuten, holen wir dich so um viertel nach drei ab, in Ordnung?«

Geistesabwesend nickte ich, blieb an der Tür stehen, und da funkte es. Genau, das Touristenpaar, dem ich nach meinem Vorstellungsgespräch gefolgt war! Die Frau sprach von Sylter Rosen und – eben von einer Kupferkanne.

»Oh ja«, sagte ich schnell. »Ich bin total gespannt auf diese Kanne und freu mich riesig.«

 

Das Radeln zurück machte mir viel weniger aus als hin, fast hatte ich Spaß daran. In Westerland hielt ich noch bei einem SB-Markt, den ich schon auf der Hinfahrt entdeckt hatte, und kaufte das Notwendigste ein.

Erleichtert fuhr ich zwanzig Minuten später durch das geöffnete schmiedeeiserne Hoftor. Gleichzeitig kam Wiebke um die Ecke des zu meiner Rechten gelegenen Stallgebäudes, rechts und links jeweils ein Pony am Führstrick. Der blaue Himmel wurde schlagartig ein wenig dunkler, und das Sonnenlicht irgendwie falsch. Kindisch, schalt ich mich. Dieses Mädchen ist nicht die Gräfin von Braderup oder so. Und du hast keinen Grund, ein schlechtes Gewissen zu haben. Warum auch?

Schnell lehnte ich das Rad an die Stallwand und ging Wiebke entgegen.

»Komm, ich nehme dir eines ab.«

»Nicht nötig.« Sie sah mich nicht an, ging einfach weiter und verschwand mit den Ponys im Stall.

So ging das nicht weiter. Ich folgte ihr.

»Ist gleich Unterricht?«, fragte ich, um eine Unterhaltung in Gang zu bringen, als ich die Stallgasse betrat.

Wiebke schloss die Tür einer Box mit der Aufschrift Nuja. Wieder gönnte sie mir keinen Blick. »Interessiert dich das wirklich?«

Oha, sie war sauer. Einen Augenblick lang war ich versucht, auf dem Absatz kehrtzumachen. Sollte sie doch mucksen! Andererseits wollte ich nicht, dass es ewig so weiterging und mir diese Pferdeglück-Prinzessin das Leben schwer machte. Also Schultern zurück, Brust raus und ein offenes Wort.

»Ja«, sagte ich und stellte mich so hin, dass Wiebke an mir vorbeimusste, wenn sie zum Ausgang wollte. »Aber du wirst es mir bestimmt nicht glauben. Und nur, damit das klar ist: Deine Mutter hat mir heute Nachmittag freigegeben.«

»Tja … Dann ist es ja gut.« Nun doch ein Blick im Vorübergehen. Er hatte etwas Hochnäsiges an sich.

 

Mein Ärger verlor sich erst, als mich die Jungs abholten; nicht mit Hennings Winziggefährt, Carstens Auto war größer, keine Ahnung, was für eine Marke, jedenfalls knallrot. Und das Unbehagen verschwand gänzlich im Gastgarten der Kupferkanne, einem Café bei Kampen, eingebettet zwischen Kiefern.

Ich blieb erst einmal stehen, um alles zu bestaunen: das bezaubernde Haus, das mich mit seinem grasbewachsenen Dach an das von Bilbo Beutlin im Auenland erinnerte, den Außenbereich mit seinen zurückgeschnittenen Büschen; fast wie ein Irrgarten wirkte es, wie sie die vielen gemütlichen mit Tischen und Stühlen bestückten Areale umgaben. Und als Krönung der weite Blick auf die Heidelandschaft und das dahinterliegende Wattenmeer.

Henning winkte uns zu einem soeben frei werdenden Tisch unter einer großen Kiefer. Hier ließen wir uns nieder und genossen bald, im Halbschatten sitzend, sowohl die wunderbare Sicht als auch Kaffee und Kuchen.

»Täglich frisch aus der hauseigenen Backstube«, erklärte Carsten, als ich den noch leicht warmen Rhabarberkuchen probierte, und empfahl mir außerdem, das Café von innen anzuschauen, es würde sich lohnen.

»Später«, mischte sich Henning ein. »Nun lass uns erst mal klönen. Also, Lisa, mach mal Plus und Minus!«

Ich schaute ihn über den Rand meiner Kaffeetasse verständnislos an, nahm einen Schluck und setzte sie ab.

»Er meint, was gut war an deinem ersten Tag und was dir nicht so gefallen hat«, übersetzte Carsten und verdrehte die Augen in Richtung seines Freundes.

Einmal angefangen, erzählte ich fast ohne Punkt und Komma. Von Pauline, dem nettesten Pferd auf dem Hof, von der kleinen Hannah und dem Pony Nuja, von meinem Wolkenkuckucksheim mit dem Bett unter dem Fenster, vom üppigen Frühstück und … und … und …

»Und wo bleibt das Minus?«, fragte Henning, als ich endlich eine Pause einlegte und mir die Gabel voll Rhabarberkuchen mit Sahne schaufelte.

Ich runzelte kauend die Stirn. Machte ich Wiebke schlecht, wenn ich von ihrem Verhalten mir gegenüber berichtete? Kannten die beiden sie vielleicht näher?

»Na, schieß schon los, da ist doch was«, ermunterte mich Henning. »Wir behalten es für uns, sind keine Tratschweiber. Was, Carsten?« Er nahm kurz die Hand seines Freundes, drückte sie und sah ihn liebevoll an.

»Überredet.« Ich legte die Gabel auf dem Kuchenteller ab und sagte: »Wiebke.«

Dann erzählte ich von der ersten Begegnung an der Koppel mit ihr und von den weiteren, die zwar nicht mehr ganz so heftig verliefen, doch mir dafür subtil ein ungutes Gefühl vermittelten. Die beiden hörten mir zu, gaben aber außer ein paar »Mh« keine Kommentare ab.

Erst als ich still blieb, mich zurücklehnte und sie ein wenig irritiert anschaute, bemerkte Carsten trocken: »Wiebke wie sie leibt und lebt.«

Woraufhin Henning grinste. »Immer wieder schön, was Neues von unserer Junior-Hofherrin zu erfahren.«

»Ach, dann ist sie nicht nur zu mir so?«

»Sagen wir mal, sie hat ein kapriziöses Wesen, das sie ausgiebig pflegt«, antwortete Carsten. »Mach dir nichts draus. Es kann sein, dass das plötzlich bei ihr umschlägt und du ihre beste Freundin wirst.«

Das bezweifelte ich, dennoch beruhigte es mich zu wissen, dass Wiebke wohl für ihre exzentrische Art bekannt war. Mit ihrem Chef habe es auch bereits mehrere Dispute gegeben, und nur dem Einschreiten Antje Bruns sei es zu verdanken, dass sie ihre Ausbildung bei der Commerzbank in Westerland nicht hatte abbrechen müssen.

»Vielleicht ist sie als Kind auch ein bisschen verwöhnt worden«, sagte Henning. »Ihre Eltern hatten nie richtig Zeit für sie, waren mit dem Hofaufbau beschäftigt und ließen ihr sicher so manches durchgehen. Da meint sie eben, alle müssten nach ihrer Pfeife tanzen. Und ist dazu dermaßen wechselhaft … Nicht nur, was ihre Haarfarbe betrifft.« Er lachte kurz. »Vor zwei Wochen war die noch feuerrot.«

»Ach. Und ich habe mich schon gewundert, weil doch die Eltern blond sind.«

»Was ja auch ziemlich selten vorkommt auf Sylt«, meinte Henning todernst.

»Und was ist mit Kristian?«, fragte er, als wir unser Grinsen eingestellt hatten.

»Mit ihm?« Ich überlegte einen Moment. »Ich glaube, wir werden klarkommen miteinander«, sagte ich dann. »Viel reden ist wohl nicht sein Ding. Wir müssen uns wahrscheinlich noch ein bisschen beschnuppern.«

Carsten lachte. »Lasst das aber nicht die Wiebke sehen!«

In dem Moment kam die Kellnerin an unseren Tisch. Sie kannte Carsten anscheinend gut und begann eine Unterhaltung mit ihm.

Ich beschloss, nicht nachzuhaken, wie er das mit Wiebke gemeint hatte. Ich konnte es mir sowieso denken. Entweder hatten sie und Kristian was miteinander oder sie hätte gerne, dass sie was hatten. Es ging mich nichts an.

Als die Kellnerin ging, schloss ich mich ihr an, um mir zeigen zu lassen, wo die Toilette war. Ich folgte ihr in das hutzelige Kupferkannen-Haus und wusste nicht, wo ich zuerst hinschauen sollte. Der Innenbereich stand dem Kaffeegarten in keiner Weise nach. Ich durchlief eine Art kreativ gestaltete Höhlenwelt, fast märchenhaft anmutend. Ein urig eingerichtetes Labyrinth mit vielen verwinkelten Ecken und Stufen. Es erinnerte mich an die Heimat der Hobbits. Später sollte ich von Henning erfahren, dass die Kupferkanne ein ehemaliger Flakbunker aus dem zweiten Weltkrieg war, der von einem Exsoldaten zu einem Idyll umgebaut wurde und erst viele Jahre als Künstlerdomizil diente, schließlich nach dem Tod des Erbauers zum Café wurde.

Beeindruckt von den gerade gemachten Entdeckungen, sah ich beim Zurückgehen an unseren Tisch das Touristenpaar wieder vor meinem inneren Auge, wie es vor mir herging und von der Braderuper Heide, dem Watt und der Kupferkanne schwärmte.

»Jetzt noch die Sylter Rosen«, sagte ich, als ich bei Henning und Carsten angekommen war.

Zwei Augenpaare blickten mich fragend an.