Über Nacht war das Wetter umgeschlagen. Prasselnder Regen auf das Schrägfenster riss mich aus dem sowieso unruhigen Schlaf. Wind heulte. Ich stand auf und ging in die Wohnküche. Als ich einen Blick aus dem Gaubenfenster warf, sah ich, wie die Kronen der zwischen Hof und Weiden stehenden Bäume heftig gerüttelt wurden. Vielleicht tobt es sich bis zum Morgen aus, dachte ich und kuschelte mich wieder in mein Bett. Wider Erwarten schlief ich nach zwei Stunden, in denen meine Gedanken sich ohne Unterlass um das Exposé und die damit verbundene Frist drehten, doch noch ein.
Meine Hoffnungen erfüllten sich nur zum Teil. Zwar war der Wind etwas schwächer geworden und sogar die Sonne zeigte sich zwischen dicken, schnell ziehenden Wolkenbergen, aber es kamen auch immer wieder Schauer herunter.
»Kommen die Pferde bei dem Wetter raus?«, fragte ich Kristian, als ich mich, in meine Regenjacke gekleidet, auf der Stallgasse einfand.
»Klar. Und zwar alle, keine Ausritte heute.« Er sah mürrisch aus.
Auch wieder Schlaflosigkeit? Hatte er sich wie ich mit Problemen durch die Nacht gewälzt? Ich wusste eigentlich gar nichts über ihn, außer, dass er in der zweiten kleinen Wohnung unter dem Dach hauste.
»Zieh Gummistiefel an!«
»Zu Befehl!«, versuchte ich es mit einem Scherz und schlug die Hacken zusammen.
Er verzog das Gesicht. Kam wohl nicht so gut an.
Stumm verrichteten wir unsere Arbeit. Die Pferde ließen sich von den Windböen wenig beeindrucken. Als echte Insulaner waren sie das anscheinend gewöhnt, nur Troll tänzelte aufgeregt neben mir her, während ein heftiger Schauer auf uns eintrommelte.
Pauline begrüßte mich – ja, speziell mich, denn Kristian war am anderen Ende der Gasse beschäftigt – mit einem Grummeln aus tiefster Kehle. Ich zog eine kleine Mohrrübe aus der Jackentasche. Die hatte ich aus der Sattelkammer stibitzt, wo mehrere Säcke voll standen. Ich wusste inzwischen, dass die Pferde abends alle eine Portion davon bekamen, mit einem Schuss Leinöl darüber, und konnte daher nichts falschmachen, wenn ich Pauline dieses kleine Extra zukommen ließ. Sie erwartete mich mit nach vorn gerichteten Ohren. Große dunkelbraune Augen blickten mich an, die Nüstern ein wenig gebläht.
Ach, ich mochte sie einfach! Ein kleines Glück an diesem ruppigen und schweigsamen Morgen, an dem mir ansonsten gefühlt alle drei Minuten ein Plakat vors innere Auge sprang. In Riesenlettern stand das Wort EXPOSÉ darauf.
Da keine Ausritte stattfanden, hatte ich eher mit den drei zurzeit belegten Gästezimmern anfangen können und war entsprechend früh fertig. Wenn ich jetzt hinauf in meine Dachstube ginge, würde ich entweder wieder mit Hirnverrenkungen auf dem Bett liegend meine Mittagspause verbringen oder aber das Gleiche am Tisch vor dem Laptop sitzend tun und dabei auf ein leeres Word-Dokument starren. Die Vorstellung widerte mich nahezu an. Bis morgen noch, versprach ich mir selbst, wenn mir dann nicht der Ansatz einer Idee gekommen ist, gebe ich auf und sage Ramona die Wahrheit. Mit diesem Vorsatz ging es mir einen Hauch besser. Hochgehen und mich quälen wollte ich deshalb aber immer noch nicht. Also schlenderte ich, beschienen von der gerade mal wieder hervorblitzenden Sonne, zur Reithalle hinüber, in die ich bislang nur einen kurzen Blick geworfen hatte.
Ein Pferd und ein Reiter hatten sie für sich allein: Monty und Kristian. Richtig reiten hatte ich Kristian noch nie gesehen, nur ein paar Mal im Sattel sitzend, wenn er mit einer Geländegruppe den Hof verließ oder zurückkam. Ich verschränkte meine Arme auf der Bande und schaute den beiden zu.
Er saß lässig auf seinem Pferd, im Westernsattel, trug Jeans und den unvermeidlichen Cowboyhut. Die Zügel in einer Hand. Monty schien tiefenentspannt. Dann hörte ich ein Schnalzen und der Schecke trabte an. Kristian trabte leicht. Ich hatte vom Westernreiten keine Ahnung und war erstaunt, dass es mit dem Leichttraben eine Parallele zur englischen Reitweise gab. Oder war das vielleicht gar nicht Westernreiten, und er hatte nur solch einen Sattel aufgelegt? Ich sah genauer hin. Was fiel mir auf, war etwas anders? Unheimlich lange Steigbügel und die Zügelhaltung mit einer Hand.
Als sich die beiden auf dem Hufschlag der kurzen Seite näherten, bei der ich an der Bande stand, wurde es mir unbehaglich. Kristian schien mir heute nicht gerade bester Laune gewesen zu sein, wer weiß, ob es ihm passte, dass ich so neugierig sein Training beäugte. Doch er schickte mir im Vorbeireiten sogar einen Blick und ein knappes Lächeln zu.
Leise knatschte das Sattelleder, Monty schnaubte sich ab, Kristian klopfte ihm den Hals.
Da er anscheinend nichts dagegen hatte, blieb ich, wo ich war, und beobachtete weiter: eine lange Schrittphase nach dem Leichttraben, auf dem Zirkel reiten, wieder Antraben, nun in einem eigenartig langsamen Rhythmus, bei dem Kristian aussaß, also im Sattel sitzen blieb. Beim Abwenden und in den Biegungen fielen mir Unterschiede in der Zügelführung auf zu dem, wie ich es gelernt hatte. Ich fand das alles ungeheuer spannend und konnte mich gar nicht loslösen. Es sah so ruhig und weniger angestrengt aus als beim englischen Reiten. Aber vielleicht täuschte es auch. Der Galopp schließlich war zunächst genauso ruhig wie alles andere zuvor, doch auf einmal gaben die beiden richtig Gas und galoppierten in einem irren Tempo diagonal durch die Halle.
»Hey, du Cowboy aus Keitum, mach mal Pause!«
Ich schrak zusammen. Wiebke war neben mich getreten. Sie stellte zwei kleine Flaschen Bier auf der Bande ab und winkte Kristian zu. Der galoppierte noch eine weitere Runde Speed, bevor Monty nach einem »Hoah« von ihm in Trab, dann in Schritt fiel und er ihm die Zügel ganz lang ließ.
»Sieht so einfach aus.« Wiebke nahm ihren Blick nicht von Kristian, während sie mit mir sprach. »Ist es aber nicht. Ich hab das Westernreiten auch mal probiert.« Jetzt sah sie mich an. »Kennst du was davon?«
»Nee.« Ich schüttelte den Kopf.
»Hab ich mir gedacht. Er kann beide Reitweisen, Western und Englisch, und das nicht schlecht.«
Das bezweifelte ich keineswegs.
Kristian ritt zu uns heran, und Wiebke hielt ihm eine Flasche entgegen. »Hier, für die staubige Kehle.« Sie nahm die zweite, wandte sich mir zu. »Für dich hab ich nun keine, wusste ja nicht.« Schulterzucken. »Auf den Cowboy aus Keitum!« Sie strahlte ihn an.
Kristian hatte die Flasche angenommen. »Dann teilen wir eben«, sagte er und reichte sie an mich weiter. »Du zuerst.«
Er nickte mir auffordernd zu, seine Augen blitzten mich graugrün an.
»Danke.« Ich griff nach der Bierflasche. »Na dann Prost! Auf euch beide. Äh … euch drei, meine ich.«
»Uns vier«, erwiderte er.
Und während ich ein paar Schlucke nahm, entging mir nicht Wiebkes unfrohe Miene. Wahrscheinlich hatte ich mir jetzt wieder etliche Minuspunkte von ihr eingehandelt.
Ich gab Kristian die Flasche zurück. »So, ich werde mir mal was zu essen machen und sag tschüss.«
Damit überließ ich Wiebke das Feld; sie würde Amor sicher schon instruiert haben, seine Pfeile abzuschießen, und dabei konnte sie mich am allerwenigsten gebrauchen.
Auf dem Weg zu meiner Mansarde fiel mir wieder ein, wie sie Kristian bezeichnet hatte – Cowboy aus Keitum. Gefiel mir irgendwie.
Am Nachmittag bekam ich von Frau Bruns einen Sonderauftrag: eine Kurierfahrt zum Tourismuszentrum nach Westerland. Da ihr Mann mit dem Auto auf dem Festland unterwegs war, um sich zwei Pferde anzusehen und sie am Nachmittag einen neuen Gast in Empfang nehmen wollte, bat sie mich, längst fällige Anmeldeunterlagen dort hinzubringen.
»Wetter ist ja durch«, sagte sie und gab mir einen großen braunen Umschlag. »Und ruhig büschen Zeit lassen, ich brauch Sie heute nicht mehr.«
Also machte ich mich zum zweiten Mal mit dem Rad auf den Weg. Wenn das so weiterging, wurde ich hier noch zum Profiradler. Regen, Wind und Grauwolken hatten sich verzogen, die Sonne lachte. Nicht undankbar sein, gab ich mir einen innerlichen Rippenstoß, als ich vom Hof fuhr. Außerdem tat mir ein bisschen sportliche Betätigung gut, hatte ich doch gerade erst an meinem gigantischen Muskelkater gemerkt, wie eingerostet ich war.
Diesmal brauchte ich einige Anläufe, um mein Ziel in der Stephanstraße zu finden. Ich schob das Rad durch die Geschäftsstraßen, schaute nach Straßennamen, fragte zwei Mal Passanten, die mir den Weg wiesen, kam dennoch nicht an. Irrte eine weitere Runde an Läden und Cafés vorbei und dann, als sich gerade leichte Panik in mir breitmachen wollte, sah ich es, in großen Lettern an einem roten Haus: Tourismuszentrum Sylt.
Mein Auftrag war schnell erledigt, und ich verließ das Haus mit einem eigenartigen Gefühl. Nun hatte ich einen freien Nachmittag. Statt mich zu freuen, überkam mich wieder dieser Anflug von Verlorenheit. Ich hatte mich bei der Dame im Büro erkundigt, wie ich zur Strandpromenade käme, und es schien einfach, nur einmal links abbiegen auf die Strandstraße und diese immer geradeaus. Aber während ich losging, fragte ich mich, ob ich überhaupt in Stimmung war, mir fröhliches Touristentreiben am Meer anzutun. Es hatte mich wieder eingeholt. Alles. Meine mittellose Situation, das Problem, das den Namen Exposé trug, Markus, mein Unfalltrauma. Während der Arbeit auf dem Hof fühlte ich mich noch am wohlsten, ich durfte nur nicht zu viel Zeit zum Nachdenken haben. Am schlimmsten waren die Nächte.
Ich kam an eine Treppe, die hinabführte. Direkt zur Strandpromenade. Meine Kurkarte hatte noch Gültigkeit. Ein Mann mit grauem Bart und freundlichen Augen kontrollierte sie und wünschte mir einen schönen Urlaub. Danke. Unten empfing mich die Nordsee. Wilde Wellen rollten heran, schäumten, zogen sich zurück. Salz lag in der Luft. Und der Geruch nach Fisch. Ich schnupperte. Das kam von links. Gosch, ach ja, da hatte ich mir in Wenningstedt am Morgen, nachdem Markus verschwunden war, ein Fischbrötchen gekauft. Anscheinend gab es mehrere Filialen. Ich wusste nicht viel über Sylt, dabei besaß ich doch den Reiseführer. Außer am ersten Urlaubsmorgen hatte ich kein einziges Mal darin gelesen. Ich ließ mich auf eine Bank nieder und versprach Sylt Besserung.
Die Wellen rauschten. Die Urlauber flanierten und saßen in Strandkörben mit Sicht verkehrtherum, also nicht aufs Wasser. Da kam der Wind her. Er blies mir ins Gesicht. Ruppig. Ich hätte mir eine Jacke mitnehmen sollen. Fröstelnd verschränkte ich die Arme und rieb sie. Schließlich stand ich wieder auf und beschloss, den Radweg in Richtung Wenningstedt zu fahren, ein Schild hatte mich darauf gebracht.
»Du hast es gewusst!«
»Was?«
»Dass ich in …«, Henning sah auf die große Wanduhr über der Sitzecke in der Hotelhalle, »… vierzig Minuten Schluss machen kann und einen Mordshunger hab, weil …«
»Weil?«
»… ich seit heute früh um sechs im Einsatz bin und durchgearbeitet habe. Mein Kollege ist krank geworden.«
»Oh, du bist echt zu bedauern. Aber wenn das heißen soll, dass du gleich mit mir etwas essen gehen willst, muss ich leider …«
»… sagen: Gerne, lieber Henning, nehme ich deine Einladung auf eine Pizza an.«
Ich zögerte. Eigentlich hatte ich nur kurz bei ihm vorbeischauen wollen, da ich schon einmal in Wenningstedt war. Es hatte mich ein bisschen Überwindung gekostet, das Hotel zu betreten, doch Henning hatte sich so über mein überraschendes Auftauchen gefreut, dass das seltsame Gefühl verschwunden war. Und nun das.
»Guck nicht so, als wenn du bang wärst, ich könnte dich nach dem Essen verführen. Dass du von mir nichts zu befürchten hast, ist dir doch bekannt.« Er lächelte verschmitzt.
»Also gut, du wirst schon sehen, was du davon hast.«
»Einen vollen Bauch, denke ich. Magst du hier warten?«
»Ich gehe lieber kurz an den Strand und hol dich dann ab. Um halb sieben?«
»Jou, dat mak wie so.«
Eine Stunde später saßen wir unter einem riesigen Zeltdach auf der Terrasse des Restaurants La Pergola beisammen und stießen mit einem Glas Primitivo an.
»Auf deine gute Idee, heute bei mir vorbeizukommen.«
Wir tranken einen Schluck.
»Na ja«, sagte ich. »Etwas komisch kam ich mir schon vor. Und Herrn Petersen wäre ich auch nicht gerade gern begegnet.« Ich drehte mein Glas hin und her und ließ einen kleinen Seufzer heraus. »Hoffentlich kann ich in zwei Monaten meine Schulden bei ihm bezahlen. Aber eigentlich ist das noch das geringste Problem.«
»Herr Petersen weiß, dass du ihm nicht wegläufst wie dieser«, er hob die Brauen ein wenig an, »Markus.«
»Meinst du?« Zweifelnd schaute ich auf.
Henning nickte. »Herr Petersen ist der angeheiratete Neffe von Frau Bruns. Der hat sich bestimmt erkundigt, wie du dich machst auf dem Hof.«
»Na, super! Gibt’s noch mehr verwandtschaftliche Verknüpfungen? Ist vielleicht Kristian dein Cousin dritten Grades und berichtet über meine Qualitäten beim Ausmisten, oder ist nur von Bedeutung, wie ich das Staubsaugen beherrsche?«
»Hey, sei nicht so sarkastisch! Was ist denn los?«
Ich zog die Schultern hoch und blies Luft aus. »Heute nicht mein Tag. Aber der gestern war auch nicht besser.«
»Wieder Ärger mit Wiebke?«
»Wenn’s nur das wäre.«
»Nun rede schon. Du weißt doch, ich bin dein speziell dir zugeteilter staatlich geprüfter personifizierter Beistand auf der Insel.«
Nach einem müden Lächeln nahm ich einen zweiten Schluck von dem Primitivo und blickte Henning an. »Ja«, sagte ich, »so kommt es mir echt vor. Man könnte dich ebenso gut Schutzengel nennen.«
Da wurde Hennings schmales Gesicht doch tatsächlich leicht rot. Wie süß. Um es zu überspielen, sagte ich forsch: »Du bist selbst schuld, wenn ich jetzt loslege. Einmal angefangen, höre ich so schnell nicht auf.«
Und das war auch so. Mit dem Telefonat gestern Abend mit meiner Mutter fing ich an, aus dem sich Problem Nummer eins ergeben hatte: Meine Wohnung in Herten, die bald nicht mehr meine Wohnung war, musste geräumt werden. Der Nachmieter wollte gern schon zum nächsten Ersten einziehen. Praktischerweise hatte sich mein Exvermieter direkt an meine Mutter gewandt, weil sie und er in eine Schulklasse gegangen waren und ich die Wohnung damals aufgrund dieser Verbindung erhalten hatte. Ich hatte meine wenigen Habseligkeiten schon fast alle in Kisten gepackt, und eigentlich hatte ich vorgehabt, für einen Teil der Möbel Anzeigen bei Ebay zu schalten und den Rest auf den Sperrmüll zu geben. Klar, das ließe sich auch von hier aus machen, aber wer sollte jeweils in der Wohnung anwesend sein, wenn die Sachen abgeholt wurden? Falls sich überhaupt jemand dafür interessierte.
»Deine Mutter?«, fragte Henning.
»Mhh«, knurrte ich.
»Passt dir nicht.«
»Kann man so sagen.«
»Und sonst? Hast du keinen zweiten Schutzengel in Herten? Eine Freundin würde vielleicht auch reichen.«
»Marlene. Die ist auf dem Jakobsweg. Aber warte mal …« Ich rechnete im Geiste nach. »Das müssten inzwischen schon über vier Wochen sein. Vielleicht ist sie wieder zu Hause.«
»Pizza Capricciosa für den Signore und Pizza Tonno für die Signora.« Verheißungsvolle Düfte stiegen von den Tellern auf, die auf unserem Tisch landeten. »Buon Appetito!«
Wir aßen mit Genuss, und währenddessen hatten die Probleme Pause. Henning gab mir eine paar Tipps für meine freien Sonntage, was ich mir unbedingt auf Sylt ansehen solle. Das Morsum-Kliff zum Beispiel, da könne ich auch mit dem Rad hinfahren, oder wenn’s etwas zu Fuß sein sollte, durch Keitum bummeln, das sei doch gleich bei mir um die Ecke. Stolz erzählte ich von meinem ersten allein unternommenen Ausflug zum Gasthaus Zur Mühle. Dass ich nicht eingekehrt war, ließ ich weg.
»Ich platze.« Messer und Gabel zusammenlegend lehnte ich mich zurück. »Es hat wunderbar geschmeckt.«
Auch Hennings Teller war leer. »Da ist man doch gleich ein anderer Mensch«, sagte er. »Ein Wässerchen? Noch einen Wein können wir uns wohl beide nicht erlauben. Trunkenheit an der Lenkstange ist genauso strafbar wie am Steuer.« Er seufzte. »Nächstes Mal essen wir zu dritt, wenn Carsten keinen Spätdienst hat, und zwar bei uns zu Hause. Carsten kocht wie ein Weltmeister. Aber nun bin ich gespannt auf deine weiteren unlösbaren Probleme.« Wobei er das Wort unlösbar überbetonte.
»Okay, du willst es nicht anders.«
Nachdem Henning zwei Mineralwasser bestellt hatte, berichtete ich also von schlaflosen Nächten, von der Galgenfrist und von der absoluten Leere, aus der ein Sylt-Roman entstehen sollte.
»Tja …«
War das alles, was ihm dazu einfiel? Aber was erwartete ich? Schutzengel waren schließlich keine Allroundproblemlöser.
Henning blickte mich nachdenklich an. »Noch mal zusammengefasst«, sagte er schließlich, »deiner Lektorin hast du einen neuen Liebesroman, der auf Sylt spielt, angekündigt.«
»Sie weiß ja nicht, dass ich noch nichts weiter …«
»Pssst!«, bremste er mich aus. »Und das willst du auch machen und ihr nicht einfach was anderes liefern. Etwas, was dir leichter fiele, wozu du vielleicht schon früher eine Idee hattest, auch wenn das ganz woanders spielen würde.« Jetzt sah er mich fragend an.
Ich überlegte kurz. »Nein. Ich meine Ja. Das heißt, Schauplatz Sylt fühlt sich für mich richtig an. Das Wenige, was ich bisher von der Insel gesehen hab, bleibt in meinem Kopf, da könnten schöne Szenen entstehen. Aber ich bin eben völlig ideenlos, was die Handlung betrifft.«
Während Henning Wasser in unsere Gläser nachgoss, schwiegen wir beide.
»Weißt du, am ersten Morgen im Hotel, da stand ich am Fenster, sah auf die Dünen und war mir sehr sicher: Es wird! Sogar eine männliche Hauptfigur hatte ich – Markus.«
Ich lachte kurz und bitter, schaute nach draußen. Die Menschen genossen den Abend, schlenderten die Straße hinauf und hinab.
»War wohl nix«, schloss ich ab und überlegte, welches andere Thema ich anschneiden könnte, damit das hier nicht so trostlos endete.
Aber da sagte Henning: »Der könnte doch bestehen bleiben.« Er hob eine Hand, als ich widersprechen wollte. »Ich meine, nicht gleich als Hauptfigur, eher so als Gegenspieler. Einen Bösen muss es doch auch geben, oder?«
Sinnierend strich er mit dem Zeigefinger über seine Lippen, sah mich dabei an. Ich schwieg.
»Ich hab es!« Er schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Es ist ganz einfach, Sweeti!«
Jetzt strahlte er, ihm musste ja ein Wahnsinnseinfall gekommen sein. Skeptisch stützte ich das Kinn auf meine gefalteten Hände, bereit zuzuhören, auch wenn ich überzeugt war, dass ich nichts damit anfangen konnte. Das war meistens so, wenn andere Leute meinten, mir Stoff für einen Roman liefern zu können.
»Du schreibst deine Geschichte. Genau das, was dir passiert ist mit deinem tollen Markus und wie das dann weiterging, dass du auf Sylt geblieben bist und den Job auf dem Hof angenommen hast. Du, das wird super, mit den Pferden dazu und …«
»Stopp!«, rief ich ungehalten. »Das geht gar nicht. Ich schreibe nichts Autobiografisches, verstehst du? Ich will einen Roman schreiben!«
»Ja klar, aber das ist doch einer. Den Rest der Handlung musst du dir sowieso ausdenken, da hast du noch genug mit zu tun, doch es wäre ein Anfang. Eigentlich sogar mehr als ein Anfang.«
Seine Stirn legte sich in Falten und das Strahlen verschwand aus seinem Gesicht, als er merkte, dass ich keineswegs seine Begeisterung teilte.
»Sieh mal«, sagte ich nach einer stillen Pause. »Selbst wenn ich das so schreiben wollte, fehlen mir immer noch die beiden Protagonisten. Ich hab keinen Mann vor Augen und keine Frau. Und ich brauch das. Sonst funktioniert es nicht bei mir.«
»Ach Sweeti … Du machst es einem nicht leicht.«
»Ich weiß.«