11.

Sonntag auf Hof Pferdeglück – das bedeutete: Ich hatte frei. Sonntags half das kraushaarige Mädchen Leoni Kristian bei den Pferden und im Stall. Trotzdem dürfte ich gern, wenn ich mochte, um neun Uhr zum Frühstück kommen, hatte Frau Bruns gesagt. Und ich mochte auch an meinem zweiten freien Sonntag. Jedenfalls war der Wille dazu gestern deutlich vorhanden gewesen. Die Weckfunktion des Handys hatte ich noch in der Nacht ausgestellt. 8:50 zeigte es an, als ich aufwachte und schlaftrunken nach ihm griff. Erst gegen fünf hatte ich den Laptop zugeklappt, mir nur noch die Zähne geputzt und war von mir selbst überwältigt ins Bett gefallen. Ich hatte nicht nur ein zu zwei Dritteln fertiges Exposé abgespeichert, sondern sogar den Anfang meines neuen Romans Sylter Rosen und ein Cowboy aus Keitum. Durch meine Träume geisterte ein geschecktes Pferd ohne Sattel und Zaumzeug, auf seinem Rücken saß ein gitarrespielender Reiter. Wilde Nordseewellen umspülten die Hufe, und plötzlich entstieg der wogenden See eine Nymphe mit dunklen glatten Haaren. Sie erwartete ihren Cowboy-Prinzen. Doch bevor er sie erreichte, tauchte aus dem Nichts ein gutaussehender dunkler Typ auf, nur mit einer Badehose bekleidet. Er ging auf die aus den Fluten steigende Nixe zu, worauf diese sich rückwärts Schritt für Schritt ins Meer zurückzog und dabei ihr Aussehen wechselte.

Noch bei der eiligen Katzenwäsche versuchte ich dahinterzukommen, wie diese Meerjungfrau nach dem Wandel ausgeschaut hatte, aber es gelang mir nicht, die Traumbruchstücke zusammenzusetzen. Ich fühlte mich seltsam unwirklich, fast benommen, während ich in meine Jeans und ein T-Shirt schlüpfte, gleichzeitig aber auch wie aufgeladen, beflügelt.

Mein Erscheinen in der Bauernküche löste Überraschung aus. Alle waren fast fertig.

»Moin.« Antje Bruns deutete auf den freien Stuhl neben Wiebke. »Doch aus dem Bett gefunden?«

Ich nickte. »Bin erst spät eingeschlafen.«

Kristian sah zu mir herüber, sagte aber nichts.

»Nicht nur du.« Wiebke gähnte.

»Von dir ist man ja nichts anderes gewöhnt«, meinte ihr Vater und goss sich Tee ein. Er war der Einzige, der am Morgen keinen Kaffee trank. »Hast du wieder Kampen unsicher gemacht?«

»Nöö. Nadja hatte Geburtstag.«

Kampen … Flüchtig erinnerte ich mich an die Fahrt mit Henning von Wenningstedt nach List. Bei der waren wir an Kampen vorbeigekommen, und er hatte mir einiges darüber erzählt. Was, wusste ich nicht mehr. Ich schrieb Kampen innerlich auf die Liste der demnächst zu besuchenden Orte auf Sylt.

»Und du?«, wandte sich Wiebke nun an mich. »Auch weggegangen gestern?«

»Nein.« Ich bestrich ein Brötchen mit Butter. Verlangte es die Höflichkeit, mehr zu antworten? Mich in einen faden Scherz flüchtend sagte ich: »Das überlasse ich der jüngeren Generation.«

Wiebke griente. »So was Ähnliches gibt Mutti auch öfter von sich.«

»Nun ist aber gut«, sagte Antje Bruns. »So viel auseinander seid ihr beiden altersmäßig nun auch nicht.«

Ich warf einen Seitenblick auf das aparte Profil neben mir. Zehn Jahre immerhin, dachte ich. Wie war ich in dem Alter? Eine, die am Wochenende zum Feiern in die Clubs ging, sicher nicht.

»Ich geh dann mal«, sagte Kristian, »ehe ich hier als Grufti abgestempelt werde.« Er stand auf, lächelte einmal kurz in die Runde.

»Du doch nicht!« Wiebke streckte über dem Tisch die Hand nach ihm aus, hielt die seine fest.

»Das ehrt mich.« Kristian entzog sich sanft. »Aber auch ich leide unter Schlafentzug. Also sehe ich lieber zu, dass ich fertig werde.«

Ich sah ihm nach und gleichzeitig ihn, wie er auf der Bank bei der Halle gesessen hatte gestern Abend. Hatte auf einmal wieder die Melodie im Ohr. Hörte seine raue Stimme.

»Rührei, Lisa?« Antje Bruns holte mich in die Realität zurück.

 

Keitum – das war mein erster Ort, den ich näher unter die Lupe nehmen wollte. Ein nahe gelegener und möglicherweise ein wichtiger, denn wenn der Arbeitstitel für den Roman bei meiner Lektorin ankam, musste ich zu Keitum eine Art Beziehung aufbauen. Ich musste den Ort mögen, zumindest schöne Seiten an ihm entdecken, sonst ging das gar nicht mit dem Titel.

Gegen elf zog ich los. Diesmal hatte ich den Reiseführer in meinen Rucksack gesteckt und zuvor ein wenig darin gelesen. Der Weg hinunter zum Strand am Wattenmeer kam mir nun schon vertraut vor und kürzer als bei den ersten beiden Malen, die ich ihn gegangen war. Ich hatte mich beim Frühstück erkundigt und wusste, dass ich nach dem Restaurant Zur Mühle nur weiter am Ufer entlanggehen musste, um nach Keitum zu kommen.

Heute war es hier belebter. Sicher lockte die Insel am Wochenende deutlich mehr Besucher an, dennoch fand ich es keineswegs überlaufen. Das Meer hatte sich zurückgezogen – Ebbe. Wieder ein anderer Eindruck. Die Sylter Rosen blieben Weggefährten. Ich freute mich, blieb ein ums andere Mal stehen, roch an ihnen, fotografierte sie. Und dachte an das, was vor mir lag.

Ja, ich hatte angefangen zu schreiben. Nach den ersten zwei, drei Sätzen war ich richtig in Schwung gekommen, es floss nur so aus meinem Kopf über die Finger in die Tastatur. Etwa zwanzig Seiten waren gestern Nacht entstanden. Aber würde ich auch dann weiterschreiben können, wenn meine eigene Geschichte aufhörte? Wieso nicht? Ich hatte mir doch sonst auch alles ausgedacht, hatte noch nie selbst Erlebtes gebraucht, warum also Zweifel?

Als ich an einer hölzernen Bogenbrücke ankam, verharrte ich auf ihr, stützte die Arme auf der Brüstung und blickte in die Ferne, wo weit hinten das Wasser schimmerte. Trau dich, sagte eine innere Stimme, aber schon meldete sich eine andere zu Wort: Du musst erst sicher sein, musst das Exposé vollständig haben, sonst wird es nichts!

»Schön hier, wat?«, tönte es da hinter mir.

Ich drehte mich um. Ein rundes gerötetes Gesicht unter einem Strohhut. Um die Augen viele Lachfältchen. Der stämmige Endfünfziger lehnte sich auf das Brückengeländer wie ich und schaute mit mir in die Beinahe-Endlosigkeit.

»Ja«, sagte ich. »Schön hier.«

»Bin aus Herne. Jedes Jahr einmal mit dem Zelt hier.«

»Sind wir sozusagen Nachbarn, bin aus Herten.«

Er sah mich strahlend an. »Und? Wievielte Mal?«

»Das allererste.«

Ehe er weiterging, tippte er sich an den Hut. »Dat wird«, sagte er. »Einmal Sylt, immer Sylt. Schönen Urlaub noch.«

Urlaub … Wie gerne würde ich jetzt einfach zum Ausspannen hier sein. Mit Marlene zum Beispiel. Etwas durchzog mein Inneres, ein Gemisch aus Gefühlen, und eines davon hatte der Mann aus Herne in Gang gesetzt.

 

Keitum war zauberhaft. Ich bummelte durch die Gassen, blieb immer wieder stehen und betrachtete die alten Kapitänshäuser, die vom Wohlstand vergangener Zeiten erzählten. Reetgedeckt natürlich, mit blau-weiß gestrichenen Türen, Sprossenfenstern und wunderschönen Bauerngärten, von Steinmauern geschützt. Friesenwälle hießen die, hatte ich gelesen. Aber es gab auch viele Boutiquen, kleine feine Geschäfte mit Kunstgewerbe, Töpfereien oder Glaswaren und Lokale, bei denen mich allein schon Namen wie Kleine Küchenkate oder Nielsens Kaffeegarten anzogen. Ihre Einladungen zum Einkehren musste ich dankend ablehnen. Nach meinem Rundgang landete ich wieder an der Stelle, bei der ich von der Strandwanderung angekommen war, am Altfriesischem Haus. Ich wusste inzwischen, dass es eine Art Museum war, in dem man die friesische Wohnkultur des achtzehnten Jahrhunderts wieder hatte auferstehen lassen. Ein weiteres Museum lag ganz in der Nähe. Sein Eingang war mit zwei weiß strahlenden imposanten Walfischzähnen dekoriert. Aber ich wollte heute weder das eine noch das andere besichtigen, erst einmal nur die Eindrücke auf mich wirken lassen.

Und dann stand ich auf einmal vor der Büchertruhe. Am Tipkenhoog hieß die Straße, und drei Stufen führten zum Eingang. Es zog mich hinauf. An der Tür ein Schild mit den Öffnungszeiten und dem Namen der Inhaber. Durch die Sprossenfenster betrachtete ich die Auslagen in den beiden Schaufenstern. In dem einen Bücher, deren Titel ich nicht kannte, kein einziges aus der Bestsellerliste. Eine ganze Reihe russischer Autoren in dem anderen, neben edlen Bildbänden, Klassikern und kleinen Geschenkbüchern mit Gedichten. Neugierig spähte ich durch das Glas der Eingangstür, sah ein Ladenlokal, kaum größer als ein Wohnzimmer, angefüllt mit Büchern bis in den hintersten Winkel und bis unter die Decke. Schade, dass ich nicht hineinkonnte, um ein wenig zu stöbern.