»Weißt du eigentlich, dass ich seit über zwei Wochen keine richtige warme Mahlzeit mehr gegessen habe?« Ich ließ mich stöhnend gegen die Stuhllehne fallen und hielt mir den Bauch. »Es war so lecker, Carsten, deine Talente sind bei der Polizei vergeudet!«
Meine beiden nordfriesischen Jungs saßen mir am Esstisch gegenüber und grinsten sich eins. Dann wurde Hennings schmales Gesicht ernst.
»Jetzt bin ich aber beleidigt«, sagte er. »Was ist denn mit der Pizza, zu der ich dich nahezu zwingen musste?«
»Oh ja, die hab ich ganz vergessen!«
»Wie ist denn das möglich?« Henning schüttelte in gespielter Entrüstung den Kopf. »Hätte es unseren Abend im La Pergola nicht gegeben, würdest du heute immer noch nach einem Romanstoff suchen. Carsten, was sagst du zu so viel Undankbarkeit?«
»Gar nichts. Ein Vergleich mit einer Pizza ist für mein dreigängiges Menü völlig undiskutabel. Übrigens … Wie wäre es jetzt mit Dessert?«
»Eigentlich kann ich nicht mehr«, wagte ich einzuwenden. Der gebratene Lachs mit Rosmarinkartoffeln war ein Genuss gewesen. Die Ziegenkäse-Tartes mit Feigen zuvor ein Traum. Schon wurde ich wankelmütig. »Aber so eine klitzekleine Portion geht vielleicht noch rein. Was gibt es denn?«
»Rote Grütze.« Carsten war schon aufgestanden und flitzte hinter die Theke in den Küchenbereich.
»Tja, Henning«, sagte ich »du hast recht. Wenn du mich nicht da hineingeschubst hättest, wäre das nichts geworden mit einem neuen Verlagsvertrag.«
»Und? Wie läuft es mit dem Roman?«
»Bis jetzt gut, aber ich bin noch in der Anfangsphase. Ob das so weitergeht, sieht man dann.«
»Einfach ist das sicher nicht, Job auf dem Hof und Schreiben.«
Carsten kam mit einem Tablett, auf dem drei Glasschälchen, gefüllt mit Beerenrot und Vanillegelb, darauf warteten, von uns geleert zu werden.
»Ich bin erst seit vier Jahren sogenannte freie Autorin. Lange Zeit war es für mich normal, neben dem Brotberuf zu schreiben. Aber da habe ich tagsüber im Büro gesessen, fing um neun Uhr an, und hab nicht frühmorgens um sieben die Mistkarre geschoben.« Nachdem ich den ersten Löffel rote Grütze in meinen Mund befördert hatte, schloss ich die Augen. »Mhhh, köstlich, so verwöhnt bin ich schon lange nicht worden.«
Wir schwelgten alle drei ein Weilchen still im Dessert.
»So«, sagte Carsten und klopfte mit der flachen Hand auf den Tisch, »und jetzt nicht einschlafen! Der Abend fängt erst an.«
Eine halbe Stunde später fand ich mich in der Cohibar in Westerland wieder, rechts Henning, links Carsten an meiner Seite. Vor mir einen »Ladykiller« in gelb-orange. Das kleine urige Lokal war gut besucht, die Musik in einer Lautstärke, die Unterhaltung zuließ, ohne zu schreien.
»Dann man Prost!« Henning griff zu seinem Glas, und wir drei stießen miteinander an.
Ich sog am Strohhalm, der Cocktail schmeckte aufregend. Wann hatte ich zuletzt einen getrunken? Ein paar Sekunden brauchte es, bis ich mich mit dem Aperol Spritz auf Wonnemeyers Terrasse sah – und Markus neben mir. Oh, schnell weg mit der Erinnerung!
»Sag mal, hast du das mit deinen Sachen in der alten Wohnung regeln können?« Hennings Frage an mich kam wie gerufen.
»Ja, Marlene ist wieder da. Die, die auf dem Jakobsweg war.« Und so erzählte ich von ihr und auch von den Anrufen meiner Mutter, und das Bild von mir und Markus verschwand so schnell, wie es gekommen war.
Ich genoss die Aufmerksamkeit meiner beiden Beschützer, merkte, wie ich mich entspannte. Endlich einmal keine Probleme in meinem Kopf!
Die Cohibar glich von Größe und Ausstattung her eher einer Kneipe. Die Gäste mischten sich anscheinend aus Insulanern und Touristen. Henning und Carsten begrüßten zwischendurch den einen oder anderen Bekannten, stellten mich als »unsere Freundin Lisa« vor, was mich irgendwie rührte, und sorgten dafür, dass ein leeres Glas nie lange auf dem Tresen vor mir stand.
Nach etwa zwei Stunden bemerkte ich sehr wohl die Wirkung und nahm mir vor, langsamer zu trinken. Der leicht angeheiterte Zustand gefiel mir trotzdem. Und als dann auch noch Piet zu uns an den Tresen kam, ein Hüne mit rotblondem gepflegtem Kinnbart und stahlgrauen freundlichen Augen, der, wie ich bald feststellte, eindeutig nicht an meinen Begleitern, sondern an mir interessiert war, ließ ich mich tatsächlich auf einen Flirt mit ihm ein und fand mich großartig. Was zur Folge hatte, dass nun auch noch Piet für meinen Getränkekonsum sorgte.
»Nich lang snacken, Kopp in’n Nacken!« Zwei Kurze standen auf dem Tresen.
Nur noch den, dann keinen mehr, versprach ich mir und kippte das Zeug mit Todesverachtung hinunter.
Piet grinste anerkennend. »Und wie lange bleibst du?«
Er dachte wohl, ich sei eine Urlauberin. Ich legte den Kopf schräg und blinzelte ihn an. »Schätz mal!«
»Eine Woche.«
»Falsch!«
»Länger?«
Ich nickte.
»Zwei?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Noch länger? Drei etwa?«
»Ende offen«, sagte ich kichernd.
Er strahlte mich an. »Dann kann ich dir ja mal was von der Insel zeigen.«
»Och, dafür hab ich doch schon …« Ich drehte mich zu meinen Jungs um, aber sie waren nicht da. Suchend schweifte mein Blick durch die Bar, fand die beiden an einem Tisch bei zwei anderen Männern. Okay, Hauptsache, sie waren nicht weg, sie würden schon wieder zu mir zurückkommen.
»Morgen hätte ich Zeit«, sagte Piet.
Und während er das sagte, sah ich auf einmal Kristian am anderen Ende des Tresens, und er sah mich. Einen Moment lang kam es mir vor, als würden die Geräusche ausgeblendet, als hätte ein Film eine Tonstörung. Ich fühlte mich in dieser kurzen mich umgebenden Stille wie ertappt und war gleichzeitig erstaunt, ungläubig. Dann war es vorbei. Kristian hob sein Bierglas und prostete mir von Weitem zu. Mechanisch griff ich zu meinem Cocktail und tat es ihm nach. Eine Frau neben ihm mit langen blonden Haaren schaute ihn fragend an. Sie sagte etwas zu ihm, er legte einen Arm um ihre Schulter, zog sie an sich. Wieder von allen Geräuschen umgeben, von der Musik, dem Reden, Lachen der Gäste, Gläserklingen, hätte ich mich am liebsten geschüttelt. Diese seltsame Irritation abgeschüttelt. Alles war doch wieder normal, wie vorher. Aber es fühlte sich anders an.
»Den Krischan kennst du wohl.«
Ich erinnerte mich, dass ein Hüne namens Piet neben meinem Barhocker stand.
»Ja«, sagte ich, versuchte, unbefangen zu klingen, »wir arbeiten zusammen.«
»Ach guck! Mal was anneres.«
Verwirrt schaute ich zu ihm auf.
»Und ich dachte schon, du warst Saisonliebe Nummer eins.«
Er schien die Fragezeichen in meinen Augen nicht zu bemerken.
»Mach noch mal vier Korn!«, rief er dem Mann hinter der Bar zu.
»Für mich nicht.«
Aber mein Einspruch fand keine Beachtung. Henning und Carsten waren wieder da, und Piet verteilte die Schnapspinnchen an sie.
Bevor er auch mir eines aufdrängen konnte, nahm ich meinen Minirucksack. »Muss mich mal frisch machen.«
Während ich den Raum zur Toilette durchquerte, vermied ich es, zum Tresen hinüberzusehen.
»Ihr könnt doch noch bleiben. Ich ruf mir einfach ein Taxi.«
»Sweeti, wenn wir dir sagen, dass wir auch nach Hause wollen, dann ist das nicht gelogen, frag Carsten!«
Wir standen draußen vor dem Eingang. Es war kühl.
Ich brauchte Carsten nicht zu fragen. »Na Huus gahn«, murmelte er eifrig nickend und schmatzte dann Henning einen Kuss auf. Der wiederum zog sein Handy aus der Jackentasche, um ein Taxi zu rufen.
»Zehn Minuten«, sagte er. »Da haben wir noch Glück am Sonnabend.«
Während wir warteten, ging es mir nicht aus dem Kopf, ich musste einfach danach fragen. »Saisonliebe Nummer eins, sagt euch das was?«
Verdutzt sahen die beiden mich an.
»Das hab ich von Piet. Der hat das von sich gegeben, nachdem Kristian mir von Weitem zugeprostet hatte.«
»Ach so«, sagte Henning gedehnt. »Das meinst du.«
»Also, ich bin neugierig.« Ich knuffte ihn in die Seite, lachte. »Red schon!«
»Na ja, der Krischan und die Frauen, das ist eben so.«
»Wie so?« Ich krauste die Stirn.
»Immer eine oder zwei pro Saison, manchmal auch drei – immer Urlauberinnen. Seit ein paar Jahren.«
Darauf wusste ich erst einmal nichts zu antworten. Es verschlug mir tatsächlich die Sprache.
Henning legte mir einen Arm um die Taille und drückte mich an sich. »Hast du ihm nicht zugetraut, hab ich recht?«
»Ich dachte, die Wiebke wäre hinter ihm her«, sagte ich endlich, hauptsächlich um nicht weiter stumm und naiv dazustehen.
»Das eine schließt das andere ja nicht aus. Und das war auch nicht immer so mit ihm, erst nach der Sache mit Ute.«
Das Taxi fuhr vor. Henning ließ mich los. »Du bist ja keine Urlauberin, dich macht er sicher nicht an. Und wenn doch, kriegt er es mit uns zu tun.« Lachend schob mich Henning zum Wagen.