16.

Die nächste Woche begann mit Regen, Sonne und Wind in stetem Wechsel. Und mit ein paar ruhigen Tagen, an denen nichts Besonderes passierte, außer dass Antje mir am Dienstagfrühstücksmorgen einen DIN-A4-Umschlag überreichte.

»Post für dich.«

Ich fühlte Wiebkes neugierige Blicke auf mir, warf selbst einen zu Kristian hinüber. Der pellte ungerührt sein Frühstücksei ab.

»Danke«, sagte ich schnell, wusste dann nicht, wohin mit dem Brief vom Verlag.

Schließlich stand ich kurz auf und legte ihn auf meinen Stuhl, setzte mich wieder.

Wiebke lächelte ironisch. »Warm halten, wie?«

»Richtig!« Ich goss mir Kaffee ein, und als ich wieder aufsah, schien es mir, als verbissen sich alle vier das Lachen.

Konnte es sein, dass die gesamte Familie plus Kristian Bescheid wusste, wer der Absender war? Oder wollten sie es von mir wissen …? Ich tat ihnen nicht den Gefallen und öffnete den Umschlag oben in meiner Wohnung, überflog die wichtigsten Punkte des Vertrags. Alles wie besprochen. In wenigen Tagen würde die Abschlagszahlung auf meinem Konto eingehen.

Erleichtert lief ich hinunter und machte mit Kristian die Pferde für den ersten Ausritt fertig.

Die langsam eintretende Routine, die Tatsache, dass das Hand-in-Hand-Arbeiten mit Kristian immer besser und ohne viele Worte funktionierte, das Gefühl, nicht mehr fremd auf dem Hof zu sein, wirkten sich aus: Es lief gut beim Schreiben. Sogar, nachdem an zwei Nachmittagen Betty mit ihrem roten Sportcabriolet herangebraust war und meinen Cowboy aus Keitum abgeholt hatte. Ich muss ihn ja nicht genauso zeigen, wie er in der Realität ist, sagte ich mir, ich kann die Saisonlieben einfach unter den Tisch fallen lassen, ich bin der Herr meiner Figuren. Und außerdem war ich noch gar nicht an der Stelle im Roman angekommen, an der Jannis anfing mitzuspielen.

 

Ab Mittwoch war es mit der Ruhe vorbei, und auch schreiberisch lief von da an nichts mehr. Es fing an mit Mozarts Kleiner Nachtmusik. Nach einem Blick auf das Handy rief ich Kristian, mit dem ich vom Frühstück aus dem Haus kam, zu, dass es nicht lange dauern würde und ich in wenigen Minuten wieder im Stall sei. Das war eine Fehleinschätzung, denn das Gespräch mit Herrn Zottel von der Marketingabteilung meines Verlags dauerte länger. Er fragte mich, ob ich für meine Kollegin Susanne Haberwein beim Kampener Literatursommer einspringen könne. Sie habe einen schweren Verkehrsunfall gehabt und fiele für die Lesung am Samstag aus. Da nicht damit zu rechnen wäre, dass sie diese in nächster Zeit nachholen könne, suche man einen Ersatz.

»Mh«, gab ich nicht gerade begeistert zurück. »Wie kommen Sie denn gerade auf mich?«

»Sie schreiben im gleichen Genre wie Ihre Kollegin«, sagte Herr Zottel.

»Aber man kann doch den Leuten nicht einfach eine andere Autorin servieren. Das wäre sicher auch nicht im Sinne von Frau Haberwein. Wie geht es ihr denn?«

»Nein, nein!« Herr Zottel lachte, dann hüstelte er, als wenn ihm der Lacher peinlich war. »Frau Haberwein hat einige Knochenbrüche erlitten, sie wird eine Weile im Krankenhaus und in der Reha zubringen müssen. Zu Ihren Bedenken: Wir geben den Wechsel bekannt, der Presse, auf den Plakaten und so weiter. Die vorverkauften Karten behalten ihre Gültigkeit, aber wer sie zurückgeben will, bekommt natürlich sein Geld erstattet.«

»Mh«, machte ich wieder.

»Wir haben an Ihren letzten Roman Bergflimmern gedacht. Der kam doch bei Lesungen immer gut an.«

»Schon«, sagte ich. »Aber eher im süddeutschen Raum und Österreich. Schließlich ist Tirol zum größten Teil der Schauplatz. Meinen Sie, dass die Leute hier auf Sylt so etwas erwarten?«

»Wo diese Liebesgeschichten spielen, ist doch beinahe egal«, sagte Herr Zottel mit deutlichem Ärger in der Stimme.

»Meinen Sie!«, giftete ich. »Nein, ich glaube nicht, dass ich die Richtige bin für diese Lesung. Suchen Sie lieber nach jemand anderem.«

»Dafür ist keine Zeit mehr. Darf ich Sie außerdem daran erinnern, dass Ihnen Linkmann & Schulte bei Ihrem neuen Projekt sehr entgegengekommen ist? Es wäre schön, Frau Redlich, wenn Sie sich erkenntlich zeigen würden und uns nun Ihrerseits entgegenkommen.«

Damit hatte er mich. Immer noch sauer über seinen blöden Spruch druckste ich zwar noch ein bisschen herum, dass ich eine Nacht drüber schlafen wolle und solches Zeug, aber er setzte mir die Pistole auf die Brust, man könne nicht länger warten.

»Okay. Aber geben Sie mir nicht die Schuld, wenn am Samstag keiner zuhören kommt!«

»Und wenn«, sagte Zottel. »Sie sind doch Profi und lesen genauso vor zwei oder drei Leuten wie vor fünfzig, oder?«

Sehr aufbauend, wirklich, der Mann hatte Talent, einen zu motivieren!

Er würde dafür sorgen, dass die Buchhandlung in Braderup, die den Verkauf bei der Lesung übernahm, rechtzeitig genügend Bücher bekäme, und ich solle mir doch eines so schnell wie möglich dort abholen, damit ich mich vorbereiten könne; er habe schon nachgefragt, sie hätten meinen Roman da.

Als ich den Stall betrat und über die Gasse lief, murmelte ich immer noch Verwünschungen. Kristian kam mir mit der Mistkarre entgegen. Ich schwieg, aber er hatte anscheinend meine leisen Flüche mitbekommen und sah mich fragend an.

»Ja«, sagte ich, »ist wirklich so!«

Er stoppte, zog eine Augenbraue hoch.

»Manchmal sollte man gar nicht ans Telefon gehen.«

»Wieder«, er stellte die Karre ab, »existenziell?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Trotzdem schiet?«

»So was von.« Ich holte tief Luft. »Wo soll ich weitermachen, Paulines Box?«

 

Am Nachmittag ging es weiter mit den Überraschungen. Ich war gerade mit dem Duschen fertig und rubbelte mir mein Haar trocken, als es an der Tür klopfte.

»Moment!«, rief ich aus dem Bad und schlüpfte schnell in mein Schlafshirt, das dort noch herumlag.

Bisher war es erst ein einziges Mal vorgekommen, dass jemand klopfte, und da hatte ein bitterböser Kristian in der Tür gestanden. Es konnte doch nicht sein, dass ich wieder was verbockt hatte. Ich öffnete und erstarrte. Kristian. Er sagte nichts, blickte mich nur an. Und ich konnte seinen Blick nicht deuten.

»Was hab ich …« Ich schluckte und strich mir die feuchten Locken zurück.

Endlich sprach er: »Wollte nur Bescheid sagen, dass da unten einer auf dich wartet.«

»Auf mich?« Henning, Carsten? Mehr Menschen kannte ich doch hier nicht. »Wer denn?«

»Der Piet.« Kristian wandte sich ab, ging über den Flur in Richtung seiner Wohnung.

Ich brauchte zwei Sekunden. »Warte mal!«, rief ich dann.

Er blieb stehen.

»Könntest du ihm sagen, dass ich in zehn Minuten bei ihm bin?«

Jetzt erst drehte er sich um, ziemlich langsam, kam zurück, schaute kurz zu mir herüber und nickte, bevor er die Treppe hinunterstieg. Wieder konnte ich seinen Blick nicht deuten.

Piet! Himmel, den hatte ich nun wirklich nicht mehr auf dem Schirm gehabt. Obwohl mir Henning sein Erscheinen vorausgesagt hatte. Ich föhnte meine Haare und zog Jeans und eine Bluse an.

»Moin, Lisa.«

»Moin, Piet.«

Er gab mir die Hand, zog mich gleichzeitig an seine breite Brust. Ups!

»Na, alles klar?«

»Doch, doch«, versicherte ich und registrierte, dass unsere Begrüßungszeremonie mehrere Menschen mitbekamen. Wiebke stand mit der gesattelten Pauline auf dem Hof und gurtete gerade nach. Auf der Hausbank saß Antje, eine Brille auf der Nase und in einem Ordner blätternd. Und auf dem Anbindebalken hockte Kristian und tat nichts anderes, als uns ganz offensichtlich zuzuschauen.

»Hab mir gedacht, ich komme mal vorbei«, sagte Piet.

»Ja, schön.«

»Kleine Inseltour? Gepflegt was essen und trinken? Was hältst du davon?«

»Bloß keine Klaren!« Ich hob abwehrend die Hände.

»Nöö. Gibt ja noch was anneres.« Er strahlte mich an.

Es war vielleicht nicht das Schlechteste, mal mit anderen Leuten was zu unternehmen. Ich konnte ja nicht immer nur an Henning und Carsten kleben. Dass ich an mehr als freundschaftlichem Kontakt nicht interessiert war, konnte ich Piet bei der Gelegenheit behutsam vermitteln. Dann würde das ein für alle Mal geklärt sein. Außerdem fiel mir ein, dass es doch praktisch wäre, einen Abstecher nach Braderup zu machen, um dort mein Buch abzuholen.

Der »liebe Kerl« Piet war sofort bereit, mir meinen Wunsch zu erfüllen. Zuerst aber fuhr er mit mir zu Uwe-Düne, der höchsten Erhebung auf Sylt, am Roten Kliff zwischen Wenningstedt und Kampen gelegen, und wir erkletterten die hundertzehn Stufen zur Aussichtsplattform. Dort stand ich an der Brüstung und schaute. Schaute über die Nordsee, deren Wellen heute wild heranrollten und schäumend den Strand eroberten. Schaute weiter über die Insel, über die reetgedeckten Häuser Kampens hinweg zum rot-weißen Leuchtturm, in südlicher Richtung nach Westerland und in die nördliche bis nach List. Der Wind zauste mein Haar und trieb mir Tränen in die Augen, aber es war schön hier oben. Ein Platz, von dem aus sich bestimmt tolle Sonnenuntergänge beobachten ließen. Oder auch den Sternenhimmel in einer Sommernacht. War das nicht der ideale Schauplatz für eine romantische Liebesszene?

Als ich bei diesen Überlegungen angelangt war, legten sich auf einmal links und rechts Piets Arme um mich. Er stützte sich am Holzgeländer ab. Ich spürte seinen mächtigen Körper nahe hinter meinem. Oha! Vorsichtig nahm ich seine große Rechte mit meinen beiden Händen auf und befreite mich.

»Genug geschaut! Könnten wir jetzt zu dem Buchgeschäft fahren?«

 

Piet hatte eigentlich im Wagen warten wollen, aber es dauerte etwas länger, weil man das Buch für mich beiseitegelegt hatte und die Mitarbeiterin es nicht so schnell fand und erst ihre Kollegin fragen musste, die mitten im Kundengespräch war. Als ich es endlich bekam und den Laden verließ, stand Piet draußen vor dem Schaufenster und merkte gar nicht, dass ich herausgekommen war. Ich stellte mich neben ihn und folgte seiner Blickrichtung: ein Plakat. Es kündigte die Lesung am Samstag im Kaamp-Hüs an. Der Name Susanne Haberwein war bereits gestrichen und ein Aufkleber informierte darüber, dass die Autorin wegen Krankheit leider nicht lesen könne und stattdessen Lisa Redlich mit ihrem Buch Bergflimmern zu sehen und zu hören sei.

»Die heißt wie du«, sagte Piet.

Ach, er hatte doch mitgekriegt, dass ich wieder da war.

»Stimmt.« Ich verbiss mir ein Lachen.

Er schielte zu mir herunter, dann wieder auf das Plakat. »Ist das jetzt Zufall, oder …?«

»Irgendwie schon, aber auch wieder nicht.« Ich zupfte ihn am Ärmel. »Komm, Piet, ich erzähl dir das beim Essen. Wo führst du mich denn hin?«

Wenig später saßen wir im Restaurant Fitschen am Dorfteich. Der Wind hatte uns davon abgehalten, auf der Terrasse Platz zu nehmen. Von der blickte man direkt auf den Teich und den ihn umgebenden Park. Der Tag, an dem ich dort auf einer Bank gesessen hatte, mit meiner Lektorin telefonierte und noch nicht wusste, was mir kurz danach in der Sparkasse bevorstand, war schlagartig wieder präsent. Vielleicht war das der Grund dafür, dass ich Piet beim Essen nicht nur seine Frage zum Namen der auf dem Plakat stehenden Autorin beantwortete. Ich berichtete ihm auch, wie es mich auf Hof Pferdeglück verschlagen hatte, mit allem, was zuvor passiert war.

Piet hörte sichtlich beeindruckt zu, und ich nutzte die Gelegenheit und schloss mit den Worten: »Und jetzt brauche ich erst einmal eine Auszeit, keinen Mann in meinem Leben.«

Piet nickte ernst. »Gar keinen?«, fragte er dann.

»Gar keinen.«

»Musst dich erholen von dem, was? De Swienjack! Der sollte mir unter die Finger kommen! Dem würd ich …«

»Schon gut, Piet. Irgendwann wird er sicher geschnappt.« Ich klopfte leicht auf seinen Arm. »Danke, dass du mir zugehört hast. Und mit gar keinen meine ich natürlich nicht, dass wir nicht Freunde sein könnten.«

Daraufhin bestellte Piet doch wieder zwei Klare, und wir stießen miteinander auf unsere Freundschaft an.