18.

Am Sonntag regnete es. Ich verschlief das gemeinsame Frühstück unten in der Küche und gab mich mit einem Marmeladen-Schwarzbrot zufrieden, da war es schon fast halb elf.

Lange war ich gestern noch wachgeblieben, hatte ein weiteres Glas Rotwein getrunken, versucht zu schreiben, was gründlich in die Hose gegangen war. Schließlich holte ich mir Jojo Moyes Ein ganz neues Leben, das ich seinerzeit als Urlaubslektüre eingepackt hatte, in mein Wolkenkuckucksheimbett. Aber auch beim Lesen waren meine Gedanken immer wieder ihre eigenen Wege gegangen. Und im Hintergrund hatte fortwährend jemand ein Seemannslied mit ganz und gar unseemännischem Text gesungen.

Ich telefonierte mit Marlene, Henning und meiner Mutter und berichtete allen dreien von der Lesung. Von dem, was danach geschehen war, erzählte ich selbst Marlene nichts. Ich wollte es noch für mich behalten. Vielleicht konnte ich eine ähnliche Szene in meinen Roman einbauen. Romantischer natürlich. Es könnte sich dabei etwas zwischen Anne und Jannis entwickeln. Eine erste Annäherung. Noch war es nicht so weit, ich hatte erst circa achtzig Seiten fertig. Aber wer hielt mich davon ab, diese kleine Szene schon jetzt zu schreiben?

Während dicke Regentropfen auf das schräge Dachfenster trommelten, saß ich am Küchentisch vor dem Laptop und tat es. Es fiel mir leicht, meinen männlichen Helden dabei vor mir zu sehen, nur die Anne machte mir Schwierigkeiten. Irgendwie verrutschte mir das Bild einer großen schlanken blonden Frau immer wieder, etwas knarzte da, wollte sich nicht fügen. Trotzdem gelang die Szene gut, und danach war ich so in Schwung, dass ich gleich zehn weitere Seiten schrieb, jetzt wieder an der Stelle einsetzend, wo ich zuletzt aufgehört hatte.

Mittlerweile war es später Nachmittag geworden, und mein Magen verlangte nach etwas Essbarem. Ich setzte einen Topf Wasser auf, um mir Spaghetti zu kochen. Als ich gerade den kleinen Kopf Salat aus dem Kühlschrank holte, meldete sich mein Handy.

»Lisa, das Wichtigste habe ich vorhin vergessen!«

Meine Mutter. Wenn sie von etwas Wichtigem sprach, ging ich in Hab-Acht-Stellung.

»Und was wäre das?«

»Deinen Geburtstag am Freitag! Er fällt doch so günstig, meinst du nicht, du könntest für ein verlängertes Wochenende nach Hause kommen? Ich würde dir auch die Fahrt bezahlen.«

»Um Urlaub zu kriegen, arbeite ich noch nicht lange genug«, sagte ich ohne Zögern.

Davon abgesehen wollte ich gar nicht bei und mit meiner Mutter feiern. Der Freitag würde für mich ein Tag wie jeder andere auf dem Hof sein, und das war mir sehr recht so.

»Bist du sicher? Vielleicht fragst du mal nach.«

»Nicht nötig. Hier ist am Wochenende großes Ab- und Anreisen, da werde ich gebraucht.«

Meine Mutter seufzte, schwieg. Ich auch.

Dann sagte sie: »Gib mir mal deine Adresse durch, damit ich dir wenigstens ein Päckchen schicken kann.«

Uuups! Was nun? Das konnte ich ihr schlecht abschlagen. Schon sah ich förmlich das Entsetzen in ihrem Gesicht, wenn sie hörte, wo ich beschäftigt war.

Zuerst nannte ich ihr Straße, Hausnummer, Postleitzahl, Ort, mit der winzig kleinen Hoffnung, sie würde nicht nach dem Namen des angeblichen Ferienhofs fragen. Tat sie natürlich doch.

»Hof Pferdeglück.« Nun war es raus.

»Was?« Ich hörte die Angst aus dem einen Wort. »Sag nicht, dass es ein Reiterhof ist.«

»So was in der Art. Aber nicht nur.«

»Lisa«, ihre Stimme zitterte, »du wirst doch nicht … Du tust mir das nicht an, nicht wahr?«

»Mach dir keine Sorgen, Mutti, ich bin nur für die Zimmer zuständig. Mit den Pferden habe ich nichts zu tun.«

Unser Telefonat dauerte fast zwanzig Minuten. Als ich die Auflegetaste drückte, war ich schweißgebadet.

So gut der Tag für mich begonnen hatte und bis zum Nachmittag trotz des miesen Wetters auch geblieben war – den Rest konnte ich abhaken. Mir war selbst nicht klar, ob es mehr das schlechte Gewissen war, weil meine Mutter nun wegen mir vor Sorge und Angst vergehen würde, oder eher ein Aufbegehren genau dagegen. Jedenfalls war ich ärgerlich und bedrückt zugleich und mein Schreibelan dahin.

Erst am Abend, so gegen halb zehn, hörte es auf zu regnen. Den ganzen Tag hatte ich meine Mansarde nicht verlassen. Ich stand am Giebelfenster, schaute über die im Dämmerlicht liegenden Weiden. Nein, er würde nicht dort sitzen, die Bank war nass. Und auch wenn sie trocken wäre, sollte ich nicht hingehen. Nur warum hätte ich es trotzdem gern getan?

 

Am nächsten Morgen war alles blitzeblank. Das Gras, das Laub der Buchen, der Himmel. Ich freute mich auf die Arbeit.

»Na, gut durch den Sonntag gekommen bei dem Schietwetter?«, fragte Antje, als ich sie im Flur traf.

»Geht so. War gar nicht draußen. Und du?«

»Buchhaltung gemacht. Heute Nachmittag lerne ich dich mal im Büro an.«

»Okay.«

Sie verschwand in der Küche, und ich trat hinaus auf den Hof. Mausi kam um die Ecke und strich mir um die Beine. Während ich ihr schöntat, hörte ich durch die offene Tür Schritte von der Treppe her.

Wie erwartet, kam Kristian aus dem Haus. »Moin.«

»Moin.« Ich richtete mich auf.

»Pauline und Lillebror bleiben heute drin, der Schmied kommt.«

»Ach, die Armen, bei dem schönen Wetter.«

»Kommen ja später noch raus.«

Wir gingen zum linken Stall hinüber, bei dem wir immer zuerst anfingen.

»Und? Gestern viel geschrieben?«

Überrascht sah ich ihn an. Er mich nicht, er ging weiter seinen gleichmäßigen Schritt.

»Ja, es lief. Bis zum Nachmittag zumindest. Aber dann …«

Was machte ich hier eigentlich? Ich wollte ihm doch nicht allen Ernstes von den Problemen mit meiner Mutter erzählen!

Jetzt sah er mich an, dafür ich ihn nicht.

»Aber dann?«

»Aber dann ging’s nicht mehr.«

Wir waren im Stall angekommen, und ich suchte die Sattelkammer auf, um Gummistiefel anzuziehen. Die Weiden würden vor Nässe triefen.

Wie üblich fingen wir mit Sultan und Monty an, den unzertrennlichen Freunden. Sie drehten eine lebenslustige Galopprunde auf der Wiese. Sultan warf seine Kruppe in die Höhe, Monty sprang kopfschüttelnd zur Seite. Während Kristian das Tor schloss, freute ich mich am Anblick der munteren Pferde. Dann blieb er neben mir stehen, und wir schauten gemeinsam. Erst als die beiden Wallache die Mäuler ins Gras senkten, wandten wir uns wie auf Kommando ab und gingen ohne Eile in Richtung Hof.

Die zweieinhalb Stunden bis zur Frühstückszeit vergingen wieder einmal wie im Flug. Ich hatte mich an die körperliche Arbeit gewöhnt, ja, ich meinte sogar, an meinen Armen mehr Muskeln zu entdecken. Die Pferde waren mir nun vertraut, ich kannte inzwischen viele ihrer Eigenarten. Und irgendwie traf das auch auf Kristian zu. Ich wusste genau, wie er die Box eines Pferdes betrat, mit welchen Worten er die Tiere ansprach. Ich kannte die Art und Weise, mit der er sich Kaffee eingoss, nämlich zuerst mit der Kanne nah an der Tasse und dann sie immer höher darüber haltend. Ich wusste, bei welchen Gelegenheiten er eine Augenbraue fragend hochzog, und ich mochte sein sparsames Lächeln in nur einem Mundwinkel. An manchen Tagen war er schlechter drauf als an anderen und sprach kaum mit mir. Das nahm ich hin. Am nächsten konnte es wieder anders sein, was nicht hieß, dass er besonders redselig war. Aber wenn wir nebeneinander in den Boxen arbeiteten, gingen oft kleine Dialoge hin und her, und die waren, zumindest von seiner Seite, meistens mit trockenem Humor gewürzt.

Auch heute war solch ein Tag. Er stellte mir ein paar Fragen zur Lesung und bedachte meine Antworten mit ganz leicht ironischen Kommentaren. Ich musste mehrmals vor mich hin grinsen, während ich die Mistgabel schwang.

Vielleicht traf es mich deshalb so seltsam, als er auf dem Weg zum Frühstück auf einmal sagte: »Ich muss mich übrigens heute verabschieden.«

Ich blieb stehen, blickte ihn wohl ziemlich entgeistert an.

»Bis Freitag wirst du einen anderen Teamkollegen haben – Herrn Bruns. Ich bin für ein paar Tage zur Fortbildung auf dem Festland.«

»Aha.«

»Joa.«

Der seltsame Zustand war verflogen, mein entgeisterter Gesichtsausdruck hoffentlich nicht zu offensichtlich gewesen. »Na, dann wünsch ich dir viel Erfolg!«

Er nickte, und wir betraten die Küche.

 

Es klappte auch mit Herrn Bruns. Ein bisschen nervös war ich schon am ersten Morgen mit ihm im Stall. Hoffentlich würde ich unter den Augen des Hofherrn bestehen können. Ich konzentrierte mich, versuchte, schnell und trotzdem nicht hektisch zu arbeiten, und nach einer halben Stunde legte sich die Aufregung. Von Hauke Bruns ging eine unglaubliche Ruhe und Souveränität aus. Er gab mir klare Anweisungen, freundlich, kein Befehlston, sprach aber ansonsten kaum mit mir. Es war eben … anders als sonst.

Während Kristians Abwesenheit fand nur ein Ausritt pro Tag unter Hauke Bruns’ Leitung statt. Den Unterricht hatte er dagegen voll übernommen. Am Dienstag schaute ich abends zu. Carsten ritt mit, und wir tranken hinterher eine Cola zusammen.

»War ja eine Überraschung heute«, sagte er. Wir saßen auf einer der Bänke am Reitplatz. »Mal wieder Stunde beim Bruns.«

»Er hat euch ganz schön rangenommen, was?«

»Ist noch einer vom alten Schlag. Wenig Lob, viel Abverlangen.« Carsten streckte seine Stiefelbeine von sich und pustete Luft aus.

»Kenne ich. Hatte früher auch ab und zu so einen.«

Er sah mich von der Seite an, und ich hätte den Satz am liebsten zurückgenommen. Jetzt kam sicher die Frage, ob ich nicht wieder anfangen wolle.

Aber Carsten sagte: »Wie lange ist das eigentlich her, dass du zuletzt im Sattel saßt?«

»Ziemlich lange. Über zehn Jahre.«

Zum Glück kam Wiebke um die Ecke und fragte mich, ob ich Floresko satteln könne, sie würde noch einen Einzelausritt begleiten. So entzog ich mich weiteren Fragen.

Mit dem Schreiben ging es in diesen Tagen gut voran. Meine Heldin Anne hatte bereits auf dem Reiterhof angefangen und ihren Jannis kennengelernt. Noch hatte sich nichts zwischen den beiden entwickelt. Das brauchte Zeit und allerlei Irrungen und Wirrungen, bis sie zueinanderfanden, wie es sich für einen Liebesroman gehörte. Für diesen ausstehenden Teil würde ich meiner Fantasie freien Lauf lassen können, denn nun wich der Roman von der Realität ab. Gut, die wirklich erlebte Lesungsgeschichte und den Ausklang des Abends auf der Bank an der Halle konnte ich noch super mit reinnehmen.

Was soll’n wir tun ohne Schlaf, oh Lisa – die kleine, von Kristian umgetextete Liedzeile hatte ich öfter im Ohr, wenn ich an den Abenden am Laptop saß und schrieb. Und manchmal stand ich auf und sah aus dem Fenster in Richtung Halle.

 

»So«, sagte Hauke Bruns, »das war dann vorerst unser letzter Arbeitsmorgen zusammen.«

Um die Mittagszeit war er mit seiner Gruppe vom Ausritt zurückgekommen. Ich hatte das Abspritzen der Pferdebeine übernommen, darauf geachtet, dass das Zaumzeug und die Sättel wieder an der richtigen Stelle landeten, und anschließend dem Chef beim Füttern geholfen.

»Ja, so schnell gehen drei Tage um«, antwortete ich.

»Da sind Sie sicher froh.«

»Wieso?« Ich strich mir eine verschwitzte Strähne aus der Stirn. Was war das denn für eine merkwürdige Frage?

Er lachte. Ach so, der Rittmeister beliebte zu scherzen. Ich lachte mit. »Nein, nein«, versicherte ich schnell, »ich konnte mich nicht beklagen über Sie.«

»Das kann ich zurückgeben. Gute Arbeit gemacht, Lisa!«

Wir gingen ins Haus.

»Danke«, sagte ich, ein bisschen überrumpelt zwar, doch seine Anerkennung erfüllte mich mit Stolz.

Aber da war noch etwas. Als ich die Treppen hochstieg, spürte ich es. Was hatte Hauke Bruns gefragt? Ob ich froh wäre? Nein, nicht froh, dass die Zeit mit ihm zu Ende war. Ich freute mich einfach. Freute mich auf Kristian.

Nachdem ich am Nachmittag ein Abreisezimmer grundgereinigt hatte und in den Feierabend ging, summte ich ein Lied vor mich hin.

Antje kam mir auf dem Flur entgegen, ging an mir vorbei und drehte sich nach ein paar Schritten kurz zu mir um. »Wenn du was dafür übrighast, der Sylter Shanty-Chor gibt am Samstag ein Konzert im Kursaal Wenningstedt.« Und schon zog sie mit einem Stapel Handtücher weiter zum Wäscheschrank.

Ich fühlte mich, als hätte ich mich selbst ertappt. Aber wieso? War es nicht normal, dass ich mich freute? Kristian und ich waren ein super Team und nun nach mehreren Wochen aufeinander eingespielt. Und schließlich musste ich ja auch meine Studien mit ihm als Vorlage für Jannis betreiben.

Ich beschloss, mir das Freuen zu gestatten. Und ich erlaubte mir sogar, mich am frühen Abend mit meinem Jojo-Moyes-Buch auf die Hausbank zu setzen. Sein Jeep stand nicht im Hof, also war er noch nicht zurückgekommen. Zwei junge Frauen mit eigenen Pferden durchritten das Tor, angeregt miteinander redend. Gesprächsfetzen drangen bis zu mir: Ein toller Strandritt. Genau das brauchte ich zum Stressabbauen heute. Der Jago ging wunderbar. Und wie die Prinzess auf einmal in die heranrollende Welle sprang!

Lachen, glückliche Gesichter.

Ich versuchte, in den Roman einzutauchen. Länger als eine Stunde wollte ich nicht bleiben.

Das Motorengeräusch des Jeeps hörte ich nach drei Seiten Lesen. Zeitgleich mit seinem Anhalten vor dem Haus erschien Wiebke in der Tür, schenkte mir keinerlei Beachtung und lief auf den Wagen zu. Kristian stieg aus, hievte eine Reisetasche vom Rücksitz und ließ sie auf den Boden fallen. Wiebke empfing ihn, als wäre er monatelang fort gewesen. Umarmte ihn und redete auf ihn ein.

Mein Puls schlug auf einmal schneller. Sicher weil ich ihr Verhalten übertrieben fand.

»Wie war es beim Lüttinghoff? Du musst mir alles genau erzählen.«

»Ja, ja, mache ich schon. Aber nicht unbedingt heute.«

»Nein? Och … Ich hab extra was Feines kaltgestellt.«

»Wiebke, ein alter Mann muss sich von der langen Fahrt erholen.«

»Ha-ha«, machte sie gedehnt. Dann hängte sie sich an seinen Arm. »Morgen, versprochen?«

»Mal sehen.«

Lesen vorzutäuschen wäre nicht weniger kindisch als Wiebkes affektiertes Gehabe, sagte ich mir. Also schaute ich auf, als die beiden sich näherten.

»Hallo Lisa«, sagte Kristian, blieb bei mir stehen, stellte aber nicht die Tasche ab.

»Hallo Krischan!«

Mein Herz klopfte wieder einen Takt zu schnell. Kein Wunder, meine allerbeste Freundin Wiebke hing an ihm wie eine Klette. Das ärgerte mich einfach.

»Alles klar?«, fragte er, und ich wusste im Voraus, dass sich dabei seine rechte Augenbraue anheben würde. Das Minimallächeln – nicht unbedingt erwartet, aber … Ich gab mir eine halbe Parade.

»Klar wie Kloßbrühe.«

Papa hatte das früher immer gesagt. Eine meiner frühkindlichen Erinnerungen. Warum fiel mir das ausgerechnet jetzt ein? Und warum sagte ich es auch noch? Fast genauso albern wie Wiebke war ich.

Jetzt lächelte er beidwinkelig. »Kloßbrühe«, wiederholte er nickend. »Verstehe.«

Wiebke zog ihn zum Eingang. »Hast du mir das Lehrvideo vom Lüttinghoff mitgebracht wie versprochen?«

An der Tür sah er sich noch einmal zu mir um. »Bis morgen.«