26. Juni – noch nie hatte ich diesen Tag woanders zugebracht als in meiner Heimatstadt. »Dann wurde es mal Zeit«, sagte ich zu mir selbst, als ich aufstand und ins Bad ging. Ich war nicht traurig darüber, dass ich heute von meinem Geburtstag kaum etwas merken würde.
Die Sonne schien, Wölkchen zogen im Wind am Himmel dahin, und ich fühlte mich ebenso frisch wie der Morgen. Kristian war schon im Stall bei der Arbeit.
»Moin«, rief ich ihm zu. »Aus dem Bett gefallen?«
»Pass du man auf, dass du nicht gleich woanders reinfällst«, gab er zurück und drohte mir mit der Heugabel.
Ich tat, als fürchte ich mich, und lief schnell an ihm vorbei. Aber als wir zusammen Sultan und Monty zur Weide führten, konnte ich es nicht lassen.
»Wo denn?«, fragte ich.
»Wo denn was?«, fragte Kristian zurück.
»Reinfallen. Du hast doch gerade gesagt, ich soll aufpassen.«
Ich lachte, als er mir einen Seitenblick zuwarf.
»Im Stroh zum Beispiel kann man schneller landen, als man denkt.«
»Du musst es ja wissen.«
Wir betraten die Weide, Kristian schloss das Tor hinter uns, wir ließen die Pferde los. Dann gingen wir zurück zum Hof, und als wir hinter dem Stallgebäude waren, schubste mich Kristian auf einmal an, und ich stolperte in Richtung des großen Misthaufens. Mit einem unglaublich behänden Satz, den ich ihm gar nicht zugetraut hätte, hielt er meinen Fall im letzten Moment auf und mich fest.
»Freche Mädchen können da noch schneller landen«, sagte er. »Aber man gut, dass du keines bist.« Seine graugrünen Augen blitzten, aber er tat ganz ernst.
Obwohl ich total verdattert war, wich ich seinem Blick nicht aus und entgegnete: »Wenn du dich da mal nicht täuschst.«
»Ahaaa.«
Und er hielt mich immer noch fest. Eine seltsame Situation. Darum spürte ich wohl mein Herz gerade so deutlich.
»Stroh ist mir trotzdem lieber«, sagte ich. »Den Pferden übrigens auch, die wollen, dass ihre Boxen gemacht werden. Also?«
Er ließ mich los. Wir gingen wieder an die Arbeit, aber wir hatten einen guten und witzigen Morgen zusammen. Ich fand, dass ein Geburtstag ohne Beachtung genauso schön starten konnte wie einer mit viel Tamtam.
Kurz vor neun sagte mir Kristian, dass er vor dem Frühstück noch mal eben in seine Wohnung müsse, die DVD für Wiebke holen, die er ihr aus dem Lehrgang mitgebracht habe. Ich füllte Floreskos Box mit Stroh auf und machte mich innerlich auf eine beim Frühstück überschwänglich Kristian dankende Wiebke gefasst.
Als ich ein paar Minuten später ins Haus trat, war zum ersten Mal die Tür zur Küche geschlossen. Komisch. Musste ich jetzt klopfen? Quatsch! Ich öffnete und stand im nächsten Moment wie vom Blitz getroffen da.
Hinter dem großen Tisch hatte sich die Familie Bruns samt Kristian aufgestellt, und alle fingen an zu singen. Zum Geburtstag viel Glück, aber anders, in ihrer Sprache. Mein Frühstückplatz war mit einer Girlande aus Wiesenblumen umrahmt. Mittig ein großer bunter Strauß, eine Torte, eine brennende Kerze, ein Geschenkkarton. Nicht eine Sekunde lang hatte ich mit so etwas gerechnet! Während ich dastand und gegen meine aufsteigende Rührung ankämpfte, sang der Chor das Lied zu Ende, und dann stürmten sie zu mir herum, um mir zu gratulieren.
Antje drückte mich an ihren großen weichen Busen. »Herzlichen Glückwunsch, min Deern!«
»Happy Birthday!« Von Wiebke gab es ein Küsschen rechts und eines links. Wir waren eben allerbeste Freundinnen.
Hauke Bruns und Kristian beließen es bei einem gratulierenden Händedruck.
Ich sagte vier Mal danke, zu mehr war ich erst einmal nicht fähig. Mir stand das Wasser in den Augen, ich riss sie auf, wollte nicht, dass mir Tränen übers Gesicht liefen.
»Die Torte hat meine Tochter gemacht«, sagte Antje.
»Wow.« Immerhin eine Äußerung von mir.
»Ist eine Friesentorte, schon mal gegessen?«, fragte Wiebke.
Ich schüttelte den Kopf. »Sie sieht … umwerfend aus.«
»Und was meinst du, wie die erst schmeckt!« Wiebke lachte. »Jetzt pack aber das Geschenk aus. Es ist von uns allen.«
Der Karton war groß, aber nicht besonders schwer. Ich schüttelte ihn.
»Nicht raten, aus-pa-cken!« Wieder gackerte Wiebke los.
Der Aufforderung folgend, nahm ich den Deckel ab: ein Fahrradhelm, dunkelrot schimmernd. Wieder überkam mich Rührung. Um meine Sicherheit im Straßenverkehr waren sie auch noch besorgt.
»Nun lasst uns aber frühstücken«, sagte Hauke Bruns und setzte sich an den Tisch. Die anderen taten es ihm nach.
Sicher, Antje hatte meine Personaldaten. Aber niemals wäre ich darauf gekommen, dass sie meinen Geburtstag beachten würde, und schon gar nicht mit solch einer Überraschung.
»Und dass das klar ist«, sagte Antje, »ab mittags hast du frei.«
Noch was obendrauf. Ich schluckte, sah in die Runde. Endlich fiel mir etwas ein.
»Dann könnten wir ja vielleicht heute Nachmittag die Torte zusammen essen. Ginge das?«
Allgemeines Gelächter.
Hatten sie damit gerechnet? Wahrscheinlich. Ich lachte mit.
»So um vier?«
»Das passt gut«, rief Wiebke sofort, »ich hab Gleitzeitüberschuss und mach eine Stunde eher Schluss.«
»Wir können auf der Terrasse Kaffee trinken«, sagte Antje. »Hauke, du hast doch dann Zeit, nüch?«
Ihr Mann nickte.
»Und bei dir? Passt das auch?« Ich schaute zu Kristian hinüber.
»Joa.« Kurz und bündig, mit dem Brötchenkorb, den er mir anreichte.
Bis zum Mittag riefen erst Marlene, dann Henning an und gratulierten. Beide Male geschah es, während wir die Pferde für den Morgenausritt und für die Reitstunde fertig machten, doch Kristian gab mir mit Handzeichen zu verstehen, ich solle ruhig telefonieren. Ich wollte mich trotzdem kurzfassen und vertröstete Marlene auf einen Rückruf am Abend. Als ich mit Henning telefonierte, fiel mir etwas ein.
»Warte mal eine Sekunde bitte.«
Ich lief zu Kristian, der dabei war, Nuja zu satteln.
»Du, Krischan?«
»Ja?« Er schaute kurz über die Schulter zu mir, während er den Gurt anzog.
»Meinst du, ich könnte Henning und Carsten mit zum Kaffee einladen? Oder ist das zu …?«
»Ist nicht zu … was auch immer. Antje hat sicher nichts dagegen.«
»Dann mache ich das jetzt.« Mit dem Handy am Ohr spazierte ich über die Gasse und sprach meine Einladung aus. Henning sollte sie an Carsten weitergeben, der heute Frühdienst hatte.
Eine richtig schöne kleine Geburtstagsfeier auf einem Sylter Pferdehof. Hätte mir das jemand vor einem Monat prophezeit, ich hätte mir an die Stirn getippt und gesagt: Träum weiter!
Wir saßen auf der Terrasse vor dem Wohnzimmer, beschattet von der großen Markise, und ließen uns die Friesentorte schmecken. Ein Traum aus Blätterteig, Schlagsahne und Pflaumenmus. Allerdings versteckte sich ein explosiver Stoff in ihr. In der Mitte steckte eine kleine Kapsel. Ich bemerkte sie erst, als nur noch zwei Stücke übrig waren und sie mir quasi entgegenrollte.
Wiebke zappelte auf ihrem Stuhl herum. »Du musst sie aufmachen, da ist was drin.«
Ich fand ein eingerolltes Papierchen mit dem Aufdruck: Gutschein für eine Einzelreitstunde mit besonderer Betreuung auf Hof Pferdeglück.
Am liebsten wäre ich darüber hinweggegangen, hätte das Papier samt Kapsel unauffällig beiseitegelegt. Aber natürlich bestand die Tochter des Hauses auf lautem Vorlesen. Die Gesichter an der Kaffeetafel zeigten zunächst Verblüffung – anscheinend war das eine Solo-Aktion von Wiebke –, dann kamen Zustimmung, Ermunterung, Zureden, besonders von Antje und Carsten. Und selbstverständlich von Wiebke, die ihre eigene Idee großartig fand.
Ich brachte es nicht über mich, den Gutschein strikt abzulehnen, die harmonische, fröhliche Atmosphäre zu stören. Mein Geburtstag, der mir unverhofft so viel Schönes beschert hatte, sollte schön bleiben. Also bedankte ich mich.
»Wie wär’s jetzt mit einem Gläschen Prosecco?« Rasch stand ich auf und lief in die Küche, wo ich die mittags gekauften beiden Flaschen im Kühlschrank zwischengelagert hatte. Damit würde ich die Runde schon von diesem blöden Gutschein ablenken.
Ein Trugschluss.
Wir stießen mit den gefüllten Gläsern an.
»Auf dein Wohl, Lisa!« – Antje.
»Weiterhin viel Erfolg!« – Carsten.
»Ja, und dass alles fertig wird, was du angefangen hast!« – Henning.
»Prost!« – Hauke Bruns.
»Alles Gute für meine zweite Teamhälfte!« – Kristian.
Wiebke fehlte noch. Sie wartete, bis das Wünschen und Gläserklingen vorbei war, hob schließlich ihr Glas.
»Beinahe hätte ich jetzt ›Prost Reiter‹ gesagt. In welcher Hand muss das Glas dann gehalten werden, Lisa?« Mit leicht zur Seite geneigtem Kopf sah sie mich lauernd an.
»Wenn man im Sattel sitzt, in der rechten, sonst in der linken«, schoss es aus mir heraus.
»Bravo!«, rief sie.
Endlich tranken wir.
»Als wenn eine alte Reiterin wie Lisa das nicht wüsste.« Henning legte einen Arm um meine Taille und zog mich kurz an sich.
Wir setzten uns alle wieder. Hauke Bruns verabschiedete sich, er wollte noch etwas in Tinnum erledigen, und Wiebke schenkte unaufgefordert Prosecco nach.
»Wäre es nicht heute genau der richtige Tag?«, fragte sie, als sie bei meinem Glas angelangt war.
»Wofür?«
Dabei wusste ich es. Ich wusste es sofort, meine Frage diente nur der Verzögerung.
»Um wieder damit anzufangen natürlich. Ein neues Lebensjahr, eine alte Leidenschaft – das passt doch mega!« Sie stellte die Flasche ab. »Die Halle ist leer, Lillebror steht als das gutmütigste aller Fjordpferde zur Verfügung, und du hast einen Gutschein mit Sonderbetreuung!«
Ich trank das Glas in einem Zug leer und wollte widersprechen. Fünf Augenpaare blickten auf mich. Mir fiel nichts ein.
»Oder zweifelst du an Krischans Reitlehrerqualitäten?«, setzte Wiebke nach.
Er saß mir gegenüber. Ich schaute ihn an. Was erwartete ich? Dass er sich weigerte? Dass er aufstand und ging? Er konnte ja nichts wissen, und die anderen auch nicht. Sie waren unglaublich nett zu mir gewesen – alle.
»Ich finde die Idee gar nicht schlecht«, sagte Carsten und rieb sich sein Dreitagebartkinn. »Manches macht man nie, wenn man es aufschiebt.«
Wieder sah ich Kristian an.
»Es wäre mir eine Ehre«, sagte er vollkommen ernst.
»Okay, dann soll es so sein.«
Mir war, als stände ich neben mir, als beobachte ich eine andere Person. Das war nicht ich. Oder doch? War es das wahre Ich? Was war richtig, was falsch?
Wiebke lief sofort los, um mir Chaps und einen Reithelm zu holen. Kristian sattelte indessen Lillebror. Ich half Antje beim Tischabräumen.
»Nun geh schon! Die Spülmaschine räume ich allein ein.«
Ich ging. Aber eigentlich ging die andere. Die, die kein Versprechen gegeben hatte, nie wieder zu reiten. Die mit der Pferdesehnsucht. Die, die vor ewigen Zeiten den großen Traum hatte, am Strand zu galoppieren.
Henning und Carsten nahmen auf dem kleinen Podest hinter der Bande ihre Zuschauerposition ein. Wiebke kam und half mir, die Chaps an die Beine zu schnallen, ich setzte den Helm auf. Dann führte Kristian das Fjordpferd in die Halle zu mir. Nur ein Pony – ich hatte fast immer Großpferde geritten. Alles gut, beruhigte mich das andere Ich.
Nachgurten, Steigbügel auf die richtige Länge einstellen. Traumwandlerisch. Begleitet von Wiebkes Geplapper. Kristian ruhig neben mir, mich beobachtend. Beim Aufsitzen hielt er auf der anderen Seite gegen. Den linken Fuß in den Steigbügel, linke Hand am Vorderzwiesel, rechte am hinteren Sattelrand.
Ich saß oben, die Beine am Pferdebauch. Beide Ichs wurden eins. Ein Freudenstich in der Herzgegend.
Wie unzählige Male zuvor nahm ich die Zügel auf.
»Warte«, sagte Kristian leise. Er holte eine Longe von der Bande, befestigte ihr Ende im Trensenring. »Es kann gar nichts passieren.« Er gab mir sein Mundwinkellächeln beim Anreiten mit auf den Weg.
Ich fühlte Lillebrors gleichmäßige Schritte unter mir. Und ohne Vorwarnung war sie auf einmal doch wieder da, die Angst. Wenn er sich erschreckt, wenn er steigt, wie damals … Das Blut sackte aus meinem Kopf, das Herz raste, der Hallenboden, Kristian und Wiebke verschwammen vor meinen Augen.
»Atmen, Lisa, Atmen!« Kristians Stimme, ruhig anweisend. Reitlehrern folgt man, so hatte ich es gelernt. Immer. Ich atmete tief ein und wieder aus.
»Genau so.«
Eine Runde im Schritt auf dem Zirkel, die beiden Personen in der Mitte wurden wieder klarer.
»Wie wär’s mit Trab?«, rief Wiebke.
»Halt mal die Klappe.«
Kristians knapper Satz entlockte mir beinahe ein Lächeln. Aber nur beinahe. Ich musste mich weiter auf das Atmen konzentrieren.
»Zügel nicht zu kurz, lass sie etwas länger.«
Ich folgte.
»Ja, so. Und treiben darfst du ruhig auch.«
Abwechselnd ein bisschen Druck an den Pferdeleib. Rechts, links, rechts, links – im Rhythmus vom Schritt.
Die zweite Zirkelrunde. Das Pulsieren im leeren Kopf wurde schwächer. Lillebror schnaubte sich ab. Glücksgeräusch. Auf einmal nahm ich alles intensiv wahr. Den Pferdegeruch, der sich mit dem des Hallenbodens mischte. Die Körperwärme an meinen Beinen. Den falb-schwarzen Mähnenkamm vor mir. Und Kristians Stimme.
»Rechte Schulter locker. Hände etwas tiefer.«
Weitere Runden. Nichts passierte. Alles easy. Langsam entkrampften sich meine Nacken- und Schultermuskeln.
»Bereit für den Trab?«
»Ja.« Ich fasste die Zügel nach.
»Dann los. Die Hilfen brauche ich dir ja wohl nicht erklären.«
Nein, brauchte er nicht. Die vergisst man nie.
Ich verstärkte den Druck mit beiden Waden gleichzeitig, was Lillebror nicht zu beeindrucken schien. Also klopfte ich deutlicher mit den Fersen an. Er trabte.
Auf und ab, auf und ab – Leichttraben. Man vergaß nicht nur nie, man verlernte es anscheinend auch nicht.
»Falscher Fuß!«, rief Kristian.
Mir entwich ein »Oh!«, ich wechselte schnell.
Weiter. Das Staunen über mich selbst und dass alles so einfach war, schrumpfte immer mehr. Es wurde von Sekunde zu Sekunde besser, selbstverständlicher. Es war wie heimkehren.
Plötzlich zerschnitt eine schrille Stimme die Ruhe. »Lisa!«, schrie sie. »Wie kannst du nur!«
Ich zuckte zusammen. Ich erstarrte. Lillebror fiel in den Schritt. An der Bande: meine Mutter mit weit aufgerissenen Augen.
»Du kommst sofort da runter! Sofort!«
Ein Zittern, in den Händen anfangend, dann hörte ich einen hohen anhaltenden Ton, mir wurde schwarz vor Augen.
Jemand klopfte mir leicht auf die Wange. »Lisa?«
Ich schlug die Augen auf: Carsten über mich gebeugt. Wo lag ich? Ein unebener Boden, es roch nach Sägespänen. Ich sah nach oben. Reithalle. Die Erinnerung kam mit Wucht. Ich schloss die Augen wieder.
»Lisa!« Meine Mutter. Ich hörte ihre Panik und Angst, hob schnell wieder die Lider.
Sie drängte sich neben Carsten, fiel auf die Knie.
»Nun lassen Sie den Mann mal machen, er ist Polizist und damit auch Ersthelfer«, sagte Henning und half ihr wieder auf die Beine.
Carsten schaute mich prüfend an. »Tut dir was weh?«
»Nein.«
»Siehst du irgendwas doppelt?«
Ich bewegte den Kopf langsam hin und her, aber auch dabei blieb alles in einfacher Ausfertigung um mich herum.
»Was ist passiert?«
»Du kannst dich nicht erinnern?«, fragte Carsten.
Meine Mutter hatte angefangen zu weinen, ich hörte ihr Schluchzen.
»Nicht wie ich hier unten angekommen bin.« Ich richtete mich auf, nahm den Helm ab, fuhr mir durchs Haar, zupfte ein paar Spänchen heraus. »Zuletzt saß ich auf …« Mein Blick suchte. Da stand Lillebror noch, ein Stück entfernt, und neben ihm Kristian als stiller Beobachter. »Bin ich heruntergefallen?«
»Kann man so nicht sagen«, antwortete Carsten.
»Eine Rutschpartie eher«, sagte Wiebke. Sie stand neben Henning, kratzte sich am Kopf. »Noch nie gesehen so was.«
»Du warst wohl erschrocken«, sagte Carsten und warf einen kurzen Blick zu meiner Mutter. »Hast anscheinend durchpariert, und als Lillebror stand, wolltest du sicher absitzen. Aber auf einmal bist du vornübergekippt und langsam an seinem Hals und seiner Brust zu Boden … ja, gerutscht könnte man sagen. Gefallen nur aus geringer Höhe.«
»Wir rufen jetzt sofort einen Krankenwagen!«
Ich fasste mich an die Stirn. »Mutti!«
Carsten sah mich fragend an. »Ist nicht nötig«, sagte ich und stand auf.
Unter meinen Füßen schien es weich zu sein. Oder waren es meine Knie, die sich wie Pudding anfühlten? Carsten fasste mich rechts am Arm, Henning griff links zu. Nach ein paar Sekunden ließ das benommene Gefühl nach.
»Am besten aufs Sofa!«, rief Wiebke und lief vor, das Bandentor öffnen.
Der Tross begleitete mich ins Haus. Nur Kristian blieb mit dem Pferd in der Halle stehen.
Liebes Universum, sag, dass ich das alles nur geträumt habe. Das Universum antwortete nicht. Ich lag in Embryohaltung auf dem Bett, und alles, was in den letzten Stunden passiert war, tauchte in Schlaglichtern auf, ob ich die Augen zu hatte oder offen. Das Danach stellte das Davor in den Schatten. Am schrecklichsten waren die Szenen, die sich im Wohnzimmer abgespielt hatten.
Mutti … Ein leises Stöhnen. War ich das?
Sie war beinahe hysterisch geworden, weil ich mich nicht im Krankenhaus untersuchen lassen wollte und sie von den anderen keine Unterstützung bekam. Ich saß auf dem Sofa und dachte immerzu: Bitte, lass es ein Ende haben! Aber es ging weiter. Dass sie nicht doch noch die 112 anrief, war allein Antje zu verdanken. Sie schickte alle, bis auf Carsten, aus dem Zimmer, nahm meine Mutter mit in die Küche, und das, was sie mit ihr dort machte oder redete, hatte zumindest die Wirkung, meine Mutter von ihrem Vorhaben abzubringen. Nach einer Viertelstunde kam Antje mit ihr und einer Tasse Kaffee für mich zurück. Carsten verabschiedete sich. Und dann folgte der nächste Auftritt meiner Mutter. Sie wollte dableiben. Das hätte sie sowieso vorgehabt, eigentlich nur eine Nacht, aber nun … Vielleicht sei es besser, wenn sie ein paar Tage ein Auge auf mich hätte, angeschlagen wie ich wäre. Ich hielt mir die Hände vor das Gesicht, rieb mir die Stirn.
»Haben Sie ein Zimmer für mich?«
Es waren zwei frei, das wusste ich. Aber vielleicht kamen heute Abend noch neue Gäste. Unwahrscheinlich, aber meine einzige Hoffnung, mit der ich Antje anblickte.
»Nö, haben wir nicht«, antwortete die, »aber ich bin Ihnen gern bei der Suche behilflich.«
»Ich geh jetzt rauf«, sagte ich. Weg, entfliehen!
»Ich komme natürlich mit. Frau Bruns, wenn Sie so nett wären, mir ein Zimmer zu besorgen? Bin nicht wählerisch, nehme alles.«
Und dann wir beide oben in meiner Mansarde. Es war weitergegangen, immer weiter. Ihre Sorge, ihre Enttäuschung, ihr Appellieren an meinen Verstand, dass mir »das hier« nicht guttäte.
»Du hast doch gemerkt, was dabei herauskommt. Willst du noch einmal das Gleiche erleben?«
Und plötzlich waren die alten Horrorbilder da. So lange hatten sie mir doch nichts mehr anhaben können.
Endlich klopfte Antje an und meldete Erfolg in Sachen Zimmer. Meine Mutter ging. Ich musste ihr versprechen, sie später anzurufen oder wenigstens eine SMS zu schicken.
Dann hatte ich mich aufs Bett gekrümmt. Da waren die Bilder wiedergekommen. Und sie wollten nicht gehen.
Und wenn sie recht hatte? Vielleicht taten mir Pferde wirklich nicht gut. Vielleicht sollte es so sein, dass sie ausgerechnet in dem Moment aufgetaucht war, ehe Schlimmeres passieren konnte. Im Grunde war es nicht mein Wunsch gewesen, in den Sattel zu steigen, ich hatte mich überreden lassen. Aber da war auch das andere Ich gewesen. Und das Fühlen des warmen Pferdekörpers an den Waden.
Erst als ich das Salz auf den Lippen schmeckte, merkte ich, dass ich weinte. Und als hätte sich mit dem Bemerken eine Sperre geöffnet, floss es umso mehr aus meinen Augen. Ich hörte mein Schluchzen und weinte noch heftiger, unterbrach es nur, um Sätze zu sagen, die ich hören wollte oder glaubte, hören zu müssen, Sätze wie: »Warum lässt du dich immer von anderen beeinflussen?« – »Markus, er ist schuld!« – »Ich will mein altes Leben wiederhaben!«
Der Himmel über dem Dachfenster verdunkelte sich. Dämmerlicht breitete sich aus. Ich wurde still.
Als ich das Klopfen an der Tür hörte, fiel mir heiß ein, dass ich schon wieder ein Versprechen nicht gehalten hatte. Kein Anruf, keine SMS. Wie spät war es eigentlich? Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Wenn sie nun zurückgekommen war? Mir fehlte die Kraft, um aufzustehen und an die Tür zu gehen. Ich machte die Augen nicht auf und hätte mir am liebsten noch die Ohren zugehalten. Ein Weilchen hörte ich aber auch so nichts. Vielleicht war sie wieder gegangen? Aber dann ein Geräusch, als wenn die Klinke heruntergedrückt wurde. Noch immer hielt ich meine Augen geschlossen. Ich schlief. Wenn ich schlief, würde sie mich nicht wecken und wieder gehen. Aber nein – jetzt Schritte. Die Matratze gab an der Seite, der ich zugewandt lag, ein wenig nach.
Ich blinzelte durch meine verquollenen Lider.
Sie war es nicht. Meine Mutter hatte keine blonden Haare, die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren. Die Erleichterung ließ meine Augen erneut überlaufen. Kristian saß da und schaute mich an. Ich wollte das nicht, er sollte gehen, mich nicht so sehen. Ich versteckte mich wieder hinter meinen Lidern. Liegen bleiben, Rollläden runter.
Er berührte mich an der Schulter. »So schlimm?«, hörte ich ihn leise fragen.
Ich rührte mich nicht.
Er strich sanft von der Schulter aus über meinen Oberarm. Und noch einmal. Und noch einmal.
Seltsamerweise lenkte mich das so von meinem Elend ab, dass ich reagierte und die Augen vorsichtig öffnete. Er nahm seine Hand weg, und ich erkannte im schwachen Licht das Andeutungslächeln.
»War wohl büschen viel alles?«
Andeutungsnicken meinerseits. Die Tränen liefen nicht mehr über meine Wangen, aber ich brauchte dringend ein Taschentuch. Neben dem Bett lag das Päckchen auf dem Boden. Hinrollen, hinfassen, eines rausholen – brachte ich das fertig? Ich zog die Nase hoch.
Kristian beugte sich vor, hob die Packung auf und schob sie auf dem Bett zu mir herüber.
Ich schaffte es, mir die Nase zu putzen. Halb dabei aufgerichtet, überlegend, ob es mir gelänge, die Energie aufzubringen, mich hinzusetzen.
Es gelang. Mit angezogenen Beinen saß ich auf dem Bett, ein Kissen im Rücken, an das Kopfende gelehnt.
»Schon besser so«, sagte Kristian.
Mein leichtes Kopfschütteln schien ihn nicht davon zu überzeugen, dass es mir sitzend keinen Deut besser ging als liegend. Oder etwa doch? Immerhin heulte ich nicht mehr.
»Eigentlich ist gar nichts Schreckliches passiert«, sagte er langsam und sah mich an, als ob er von mir eine Antwort darauf erwartete. Zustimmung möglicherweise.
Ich strich mir eine sägemehlschmutzige und jetzt auch noch tränenfeuchte Haarsträhne aus dem Gesicht und gab einen komischen Laut dazu ab. Irgendwas zwischen Entrüstung und »Du hast ja keine Ahnung« fand sich wohl darin wieder.
»Doch?«, fragte er.
»Ein Horrortag.« Meine Stimme klang, als hätte ich Schnupfen. Einen Moment lang dachte ich, dass mein Gesicht ebenso aussehen musste.
»Du hast nicht gewusst, dass deine Mutter dich besuchen kommt?«
»Nein, sonst hätte ich es ja nicht …« Es klang immer noch nasal, ich schnupfte noch einmal in das Taschentuch. Aber als ich fertig war, mochte ich den Satz nicht beenden.
Kristian blickte mich ein Weilchen an. Es ging mir ein kleines bisschen besser, seit ein paar Minuten. Sollte ich ihn bitten, mich wieder alleinzulassen?
»Sonst hättest du dich nicht aufs Pferd gesetzt.«
»Ja«, sagte ich und entschloss mich, ihn nicht wegzuschicken.
»Weil sie dagegen ist.« Er sah nachdenklich aus. Jedenfalls soweit ich es im hereinfallenden Mondlicht erkennen konnte.
Als hätte ich meine Gedanken in seinen Kopf transportiert, stand er auf, ging zur offenen Tür und schaltete das Licht im Wohnküchenbereich an. Hier im Schlafzimmer wurde es dadurch angenehm halbhell. Dann kam er zurück, setzte sich wieder aufs Bett und überbrückte die Distanz, die durch mein Hinsetzen entstanden war, indem er ein Stück näher rückte.
»Und obwohl sie dagegen war, hast du Reiten gelernt?« Es klang ein wenig erstaunt, und auch Achtung hörte ich heraus.
»Erst als ich eigenes Geld verdiente und volljährig war«, sagte ich. »Aber dann hatte ich einen Reitunfall, ziemlich heftig, und viel Glück, dass hier drin«, ich klopfte an meine Schläfe, »nicht mehr passiert ist. Ich musste meiner Mutter versprechen, mich nie wieder auf ein Pferd zu setzen.«
»Und dein Vater? Was hat er dazu gesagt?«
»Mein Vater …« Ich schluckte. Verfluchtes Weinen. Einmal begonnen, machte es einen anfällig. »Mein Vater lebt schon lange nicht mehr. Als ich vier war, hatte er einen Verkehrsunfall.«
Seine Hand, jetzt fühlte ich sie an meinem Bein. Er berührte den linken Fußknöchel, dort, wo ein Stück Haut frei war zwischen dem Socken und der Röhrenjeans. Ich versuchte, das leichte Rieseln, das mich durchlief, zu ignorieren.
»Hast du Geschwister?«
»Nein.«
Er nickte. Seine Hand war immer noch da und streichelte meinen Knöchel. Beinahe glaubte ich, er merkte gar nicht, dass er das tat. Wie nebenbei, als müsse es so sein.
»Es gab auch nie einen anderen Mann für meine Mutter. Immer nur wir beide. Sie hat sehr gut für mich gesorgt.«
»Ich hab auch keine Geschwister«, sagte er und atmete etwas tiefer ein und aus. »Und bin ohne Mutter aufgewachsen. Sie hat meinen Vater verlassen, da war ich noch so’n kleiner Hosenschieter.«
Ein warmes Gefühl stieg in mir auf. Es hatte nichts mit dem Fußknöchel zu tun. Ohne dass ich es wollte, trieb es mir ein Lächeln ins Gesicht.
»Dann haben wir ja was gemeinsam.«
»Joa.« Er lächelte zurück, ließ mich los, rückte zum Fußende des Bettes.
Seine Gitarre! Er hatte sie dort abgestellt.
Er stimmte sie.
Und dann spielte und sang er ein Lied.
Ick wull wi weern noch kleen, Johann
Eine einfache, langsame Melodie. Ein Volkslied vielleicht. Ich konnte diesmal einen großen Teil vom Text verstehen und ich weiß nicht, was mehr mein Herz ergriff, die Worte oder die Töne. Ich schaffte es, nicht schon wieder zu weinen, aber sprechen konnte ich nicht, als er mit rauer Stimme das Lied beendete und wir uns anblickten.