31.

Kristian und ich waren mit der Futterkarre auf der Stallgasse unterwegs. Leoni hatte zum Sonntagsfamilienessen nach Hause gemusst.

»Von Wiebke soll ich dir danke für die Sachen ausrichten«, sagte Kristian.

Er füllte die Schüssel mit Hafer und einem Ergänzungsfutter für Troll, gab sie mir. Während ich den Inhalt durch die Luke in den Trog schüttete, machte er die nächste Portion fertig und ging damit zur gegenüberliegenden Box.

»Und ich soll dich fragen, ob du nicht ab und zu Pauline reiten könntest, wenn du Zeit und Lust hättest.«

»Hä?«, rutschte es mir heraus. War das eine neue Spielart dieser kapriziösen Dame? So nach dem Motto Zuckerbrot und Peitsche.

Kristian ignorierte meinen Verwunderungslaut. Wir fanden uns wieder bei der Karre ein, wo er die Ration für das nächste Pferd in die Schüssel schaufelte.

»Damit Pauline büschen im Training bleibt, so lange Wiebke ausfällt, und sich nicht so ’n ollen Grasbauch anfrisst, meinte sie.«

»Aha«, sagte ich.

»Willst du?« Er reichte mir die Schüssel, blickte mich an.

»Weiß nicht. Muss ich mir überlegen.«

Er schob die Karre ein Stück weiter, ich versorgte Prinzess mit Futter, und noch während ich das tat, wurde mir klar, dass ich das verlockende Angebot nicht annehmen konnte. Es würde mir den Abschied noch zig Mal schwerer machen.

»Heute Nachmittag hab ich eine Stunde mit nur drei Reitschülern. Keine Anfänger. Da würdest du gut reinpassen.«

»Wie gesagt, ich muss es mir überlegen.«

»Vielleicht auch noch jemand anrufen und fragen?«

Das war gemein. Ich knallte ihm die leere Schüssel in den Hafer. »Kann sein.«

 

Gegen halb vier, als bereits drei Schulpferde im Hof angebunden standen, holte ich mein Rad heraus und fuhr los. Wieder einmal zu meinem Lieblingsdorf. Das Radeln hatte inzwischen überhaupt nichts Abschreckendes mehr für mich. Im Gegenteil, wenn es nicht gerade allzu sehr von vorn blies, fand ich den Fahrtwind genauso angenehm wie die Tatsache, viel schneller von Ort zu Ort zu gelangen als zu Fuß. In Keitum war ich in einer knappen halben Stunde. Ich setzte mich auf die Terrasse von Nielsens Kaffeegarten, bestellte mir ein Stück Friesen-Pai und hätte eigentlich den wunderbaren Ausblick auf das Watt genießen können. Wenn mich nur nicht immer wieder dieses »wahrscheinlich-zum-letzten-Mal-Gefühl« befallen hätte …

Zurück wollte ich einen anderen Weg nehmen. Also durchquerte ich das Dorf in westliche Richtung oder in die, die mein unterbelichteter Orientierungssinn dafür hielt. Es kam nicht so drauf an, ich fand mich inzwischen anhand der Orts- und Hinweisschilder in der näheren Umgebung einigermaßen zurecht und hatte auch meine Wander- und Radkarte immer bei mir. Als ich weiter in Richtung Tinnum fuhr, kam es mir vor, als wäre ich in dieser Gegend schon einmal gewesen. und kurz darauf wusste ich es genau: Gleich würde ich an der Zufahrt zum Andresen-Hof vorbeikommen.

Nach ein paar hundert Metern tauchte das Schild auf. Ich ließ das Rad ausrollen und schaute zum Haus hinüber. Der dunkelgraue Kombi stand davor, die Eingangstür war weit geöffnet. Keine Pferde auf der Koppel links. Ich bremste und stieg ab.

Eine seltsame Ahnung beschlich mich. Dieses Spüren, dass etwas nicht stimmte. Ob sie ihm die Pferde doch weggeholt hatten? Ich wartete ein, zwei Minuten, in denen sich nicht die kleinste Kleinigkeit tat. Du siehst Gespenster, wo keine sind, redete ich mir dann selbst zu, fahr weiter! Ich setzte den Fuß aufs Pedal, trat an und radelte los. Nur um nach zehn Metern wieder anzuhalten und umzukehren.

Auf dem Zufahrtsweg schob ich das Rad, darauf gefasst, dass jeden Moment der alte Ole in der Tür erscheinen würde und ich nicht wüsste, was ich zu ihm sagen sollte. Aber auch das geschah nicht, es passierte weiterhin nichts. Ich lehnte das Rad an die Hauswand, ging zum Eingang, machte den Hals lang. Ein dämmriger Flur mit einem Boden aus Steinfliesen und mehreren Türen; bis auf eine weiter hinten waren sie geschlossen.

Das ungute Gefühl in mir wollte nicht weichen. Aber ich traute mich nicht, einfach im Haus nachzuschauen, wo Herr Andresen war. Womit hätte ich mein Auftauchen rechtfertigen können? Also zog ich den Kopf zurück und ging an einer kleinen Koppel vorbei hinter das Haus. Wie vermutet, gab es hier ein Stallgebäude. Es schloss sich im rechten Winkel an das Wohnhaus an, und auch seine Tür stand offen.

Ich holte meinen Mut aus den Kniekehlen hoch und betrat den Stall. Starker Ammoniakgeruch schlug mir entgegen, zwei Pferde wieherten leise. Es gab zwar Fenster, doch die waren klein und in einer Höhe, in der die Pferde nicht hinausschauen konnten. Die Boxen waren geräumig, acht an der Zahl, in zwei von ihnen je eine Stute mit Fohlen. Es sah aus, als wäre längere Zeit nicht ausgemistet worden. Die Pferde kamen sofort an die Gitterstäbe, steckten ihre Nasen durch die Futterluken, eines wühlte scharrend im Mist.

Himmel, was lief hier ab? Mein Puls wurde schneller. Warum standen sie nicht auf der Weide? Konnte Ole Andresen seine Tiere tatsächlich nicht mehr versorgen? Wie lange ging das schon so?

Ich verließ den Stall und sog die Luft ein. Mein Blick fiel auf den Hintereingang des Hauses. Die Tür war eine Handbreit offen. Was sollte ich nur tun? Dass ich etwas tun musste, sagte mir ständig dieses mulmige Gefühl. Es war etwas nicht in Ordnung, aber was? Einbrecher? Wenn, dann waren sie sicher schon über alle Berge, es herrschte ja Totenstille im Haus. Sollte ich Carsten anrufen? Aber wenn die Polizei herkam und womöglich nichts anderes feststellte als die vernachlässigte Pferdehaltung, wäre ich daran schuld, wenn die Pferde beschlagnahmt würden. Irgendwie tat mir der alte Mann leid, obwohl ich ihn gar nicht kannte. Aber ich kannte seine Geschichte.

Noch einmal atmete ich tief durch, und dann schritt ich auf die blaue Tür zu, an der die Farbe abblätterte, und schob sie vorsichtig weiter auf.

»Hallo?«, rief ich halblaut.

Stille als Antwort.

Herzschlag bis in den Hals, als ich mich langsam im Flur auf die eine ganz offenstehende Tür zu bewegte und in den Raum blickte. Eine große Küche, die im Chaos versank. Übler muffiger Geruch stieg in meine Nase. Auf der Spüle stapelte sich schmutziges Geschirr zwischen verkrusteten Töpfen. Der Tisch beladen mit gebrauchten Gläsern, leeren Flaschen, Essensresten. Fliegen summten.

Angewidert stand ich im Türrahmen, wollte umdrehen, weggehen, als ich den Laut hörte. Ein Stöhnen? Mein Puls, kaum dass er sich etwas normalisiert hatte, jagte. Mit großer Überwindung betrat ich die Küche.

Er lag auf der Eckbank hinter dem Tisch. Auf dem Rücken. Der rechte Arm hing herunter. Seine Gesichtsfarbe aschfahl. Kurz öffneten sich seine Augen, aber ich war mir nicht sicher, ob er mich wahrnahm. War er betrunken? Dafür sprächen die leeren Flaschen.

»Herr Andresen!«, rief ich und setzte mich auf die andere Hälfte der Eckbank.

Wieder dieses Stöhnen. Seine Lider hoben sich, er schaute mich an.

»Können Sie mich verstehen?«

»Im Wohnzimmer … Witthusers Körhengst«, sagte er in einer eigentümlich verschwommenen Sprache.

Wahrscheinlich war er tatsächlich alkoholisiert. Ich beugte mich über ihn, schnupperte, aber sein Atem roch nicht danach.

»Keine … Ahnung«, lallte er. »Doppelt.«

»Was ist doppelt?«

»Du.« Er schloss die Augen wieder.

Das seltsam mulmige Gefühl nahm mit einem Mal in rasender Geschwindigkeit zu. Ich sprang hoch, lief zum Fenster, riss es weit auf, lief wieder zurück.

»Herr Andresen, hören Sie mich?«

Er sah mich wieder an. Gott sei Dank, er war nicht bewusstlos.

»Winterhitze … werden Gras rein … reinsausen.«

Krampfhaft versuchte ich, mich an den Erste-Hilfe-Kursus zu erinnern, der etliche Jahre zurücklag. Aber bis auf vage Vorstellungen einer stabilen Seitenlage kam da nicht viel. Doch dann blitzte plötzlich ein Wort auf in meinem Kopf und damit ein Artikel, auf den ich vor nicht allzu langer Zeit zufällig im Netz gestoßen war: Schlaganfall. Was hatte da noch gestanden, wie waren die Symptome? Ich kriegte sie nicht mehr zusammen, aber ich erinnerte mich an einen einfachen Test, den man machen konnte, wenn man den Verdacht auf einen Schlaganfall hatte.

»Herr Andresen«, sprach ich ihn wieder eindringlich an, »bitte, hören Sie mir zu! Sprechen Sie mir diesen Satz nach: Das Wetter ist heute sehr schön.« Ich sah ihn auffordernd an, hoffend, dass er die Worte wiederholen würde.

»Das …« Er brach ab, fing von vorn an. »Das W… Wettua …« Ein Kauderwelsch von Wörtern folgte, ohne Zusammenhang.

Mir brach kalter Schweiß aus.

»Gut«, sagte ich und versuchte Ruhe auszustrahlen. Ich schluckte. »Und jetzt heben Sie bitte beide Arme gleichzeitig in die Höhe, ja?«

Wieder brabbelte er etwas vor sich hin, hob dann langsam die Arme. Das klappte also.

Es gab doch drei Sachen, die man testen konnte. Was war das dritte? Ich kam nicht darauf.

Aber das mit dem Sprechen, das war ein eindeutiges Signal, oder? Mein Gott, war es das oder bildete ich mir alles nur ein? Vielleicht hatte der alte Ole doch nur einen über den Durst getrunken.

Ich musste mich entscheiden. Allein. Es war niemand da, den ich um Rat fragen konnte. Es gab nur zwei Möglichkeiten. Entweder ich rief Carsten an oder den Notruf 112. Mein Instinkt sagte mir, dass es auf jede Minute ankommen könnte. Es war die schnellste und einsamste Entscheidung meines Lebens, als ich die kurze Nummer in das Handy tippte.

 

Es dauerte nur gute zehn Minuten, bis ich das Martinshorn hörte. Mir kamen sie endlos vor. Nervös und immer noch mit der Befürchtung, ich könne den Notruf für einen Sturzbetrunkenen ausgelöst haben, hielt ich mich im Hintergrund, während die beiden Rettungskräfte erste Untersuchungen bei Ole Andresen durchführten und dieser weiterhin nicht verständliche Worte und Sätze von sich gab. Schließlich hoben sie ihn auf die mitgebrachte Trage. Einer der beiden Männer deckte ihn mit einer Art Alufolie zu und schnallte einen Gurt fest, der andere kam zu mir und stellte Fragen. Wann ich Herrn Andresen gefunden und ob er da schon so dagelegen habe, ob er bewusstlos gewesen sei. Er notierte alles.

»Sind Sie verwandt mit ihm oder befreundet?«

»Nein, ich kenne ihn gar nicht.« Ich bemerkte die leichte Verwunderung in seinem Gesicht und ergänzte: »Ich kenne nur seinen Sohn, wusste aber, dass Herr Andresen allein lebt. Dann kam ich zufällig vorbei, sah die offenstehende Tür und dachte …«

»Schon gut. Sie haben nichts falsch gemacht.« Er lächelte kurz. »Haben Sie eine Nummer, unter der wir den Sohn erreichen können?«

»Nein, aber ich wohne mit ihm zusammen. Ich meine, im selben Haus, und informiere ihn gleich sofort, bin in zwanzig Minuten mit dem Rad da.«

»Das ist nett von Ihnen.«

Sie hoben die Trage an, und ich ging mit ihnen zum Rettungswagen hinterher.

»Kann es sein, dass wir uns vor wenigen Tagen schon bei einem Einsatz begegnet sind?«, fragte der Mann, der mir die Fragen gestellt hatte, nachdem die Trage in den Wagen geschoben worden war.

»Was?« Ich sah ihn an. Ja, das runde Gesicht, das Ziegenbärtchen! In der Aufregung hatte ich ihn vorher überhaupt nicht richtig angeschaut. »Oh, ja, stimmt natürlich! Sie waren Freitag am Watt, als Wiebke den Reitunfall hatte. Mein Gott, Sie müssen denken, dass das mit den Notfällen mein neues Hobby wird.« Ich fasste mir an den Kopf, es war einfach alles zu viel.

»Alles gut«, sagte er und lächelte noch einmal.

»Das war übrigens der Sohn von Herrn Andresen, der mit mir bei der Verunglückten wartete.«

Er nickte. »Na denn, bis hoffentlich nicht zum nächsten Mal!«

Gleich nachdem der Wagen mit Blaulicht und Sirene abgefahren war, zog ich die Haustür zu und radelte los. Gut, dass mir noch Zeit blieb, während der Fahrt nachzudenken. Hoffentlich war Kristian auf dem Hof. Wenn nicht, wen konnte ich nach seiner Handynummer fragen? Und da fiel mir auf einmal ein, dass ich sie ja hatte! Seine SMS am Sonntag. Ich hätte mich vorhin ganz leicht von der Aufgabe, die mir nun bevorstand, befreien können, indem ich in meinem Handy die Nummer gesucht und den Rettungsleuten gegeben hätte.

Die Aufregung hielt immer noch an, würde sich auch nicht legen, bis ich ankam. Dabei musste ich doch ruhig werden, bloß nicht zu emotional sein, Kristian möglichst sachlich berichten, was passiert war. Und dann abwarten. Ich hatte Angst. Angst davor, dass eine falsche Reaktion von ihm kam, dass er seine Sturheit nicht ablegte. Ich wollte, dass er das tat, was ich erwartete: sofort in die Nordseeklinik fahren. Aber wer war ich, ihm irgendetwas vorschreiben zu können?

Auf dem Hof angekommen, sagte mir Leoni, dass Kristian in der Halle sei, Einzelunterricht geben. Bitte nicht Vera Selm, war meine erste Reaktion. Aber selbst wenn, ich konnte mich auch dann nicht davor drücken, hinzugehen und mit ihm zu sprechen.

Frau Selm blieb mir erspart. Eine junge Frau mit brünetter Kurzhaarfrisur saß mit hingegebenen Zügeln auf Lillebror; anscheinend war die Stunde gerade beendet. Warum um alles in der Welt nahmen eigentlich immer nur Frauen Einzelstunden bei ihm? Zu meiner Nervosität gesellte sich ein Hauch Ärger. Ich versuchte, ihn zu unterdrücken, und wartete, bis Kristian, der in der Hallenmitte stand, sich in meine Richtung drehte.

»Kannst du mal herkommen?«, rief ich ihm zu.

Er kam zur Bande, nicht übermäßig schnell, wandte sich noch einmal um. »Reiten Sie ein paar Minuten Schritt, Marie! Das war heute übrigens man gar nicht schlecht.«

Marie, die Brünette, in der Warteschleife? Dass selbst jetzt, da ich ernsthaft mit Kristian reden musste, solche Gedanken auftauchten! Ich hätte mir dafür in den Hintern treten können.

Endlich war er da.

»Ich muss dich sprechen«, sagte ich.

Er hob seine rechte Augenbraue ein wenig.

»Nicht hier … so über die Bande.« Warum wurde ich schon wieder ärgerlich? Das war doch nicht normal.

Er kam zum Tor und verließ die Halle, ich ging ihm entgegen.

»Was gibt es denn?«

»Du musst zum Krankenhaus.«

»Da war ich heute Mittag erst.«

»Ja, das ist schön.« Klar war er bei Wiebke gewesen, bei der für ihn bestimmten und einzig wahren Frau, die warten konnte. Jeden Tag wird er da sein! »Aber es geht ausnahmsweise einmal nicht um Wiebke. Und auch nicht um diese Vera, mit der du die nächste Affäre der Saison eingeläutet hast.«

Hatte ich das wirklich gesagt? Ich gab mir eine Parade.

Er schaute mich verblüfft an. »Keine Ahnung, was du meinst.«

»Ach nein?« Ich lachte bitter auf. »Ihr hättet euch wenigstens einen abgelegeneren Ort für eure Knutscherei suchen können als die Reithalle.« Ich winkte ab. »Tut nichts mehr zur Sache. Es geht um deinen Vater. Er ist eingeliefert worden.«

Stumme Fortsetzung der Verblüffung.

»Und du musst hin.«

Er machte mich nervös mit seinem Gucken und Nichtssagen. »Hast du mich verstanden?«

»Was hast du mit meinem Vater zu tun?«

»Das ist doch jetzt völlig egal. Es geht ihm ziemlich schlecht. Ich habe ihn gefunden, ich weiß nicht, was er hat, und du musst …«

»Was ich muss, entscheide ich immer noch selbst.«

Ich schnappte nach Luft.

»Ach ja, ich vergaß, du hast ja deinen Weg gefunden«, blaffte ich ihn an. »Super! Und von dem weichst du nicht ab. Noch besser. Tja, Hauptsache, man hat sich entschieden, wie? Ob das richtig war, das zweifelst du nicht an. Du wirfst mir vor, dass ich keinen eigenen Entschluss fassen kann, ohne vorher andere zu fragen. Es stimmt, mir fällt das schwer. Aber das, was du machst, dieses Stursein, dieses sich nicht selbst infrage Stellen, dieses nicht Einsehen, dass ein Entschluss auch falsch gewesen sein kann, das ist genauso Mist. So, und wenn du jetzt nicht gleich ins Krankenhaus zu deinem Vater fährst, dann …«

Mein Herz klopfte wütend und wild, aber ich wusste nicht mehr weiter. Wie hätte ich den letzten Satz beenden sollen? Ich hatte nichts, womit ich ihm »drohen« könnte, und es war ja auch lächerlich. Ich drehte mich um. Sollte er doch tun und lassen, was er wollte.

Bevor ich weggehen konnte, fühlte ich mich am Arm festgehalten.

»Warte! Erzähle mal alles der Reihe nach – ohne mich zu beschimpfen, wenn es geht. Einen Moment, nicht weglaufen, ja?« Er rief über die Bande Marie zu, dass sie absitzen und das Pferd zum Stall bringen solle.

Dann gingen wir langsam zusammen zum Hof. Ich hatte mich wieder unter Kontrolle und berichtete sachlich, was geschehen war. Ab und zu warf ich einen Blick zu ihm, konnte aber nicht erkennen, ob es ihn berührte, erschreckte oder kaltließ; er sah zu Boden und die Krempe seines Hutes beschattete sein Gesicht. Als ich geendet hatte, waren wir vor dem Wohnhaus angekommen und blieben stehen.

Bange stille Sekunden.

Dann schaute er auf und mich an. »Kommst du mit?«

Eine große Woge Erleichterung nahm mich auf und warf mich ein bisschen in die Höhe. »Ja«, sagte ich.

 

Ich wartete in der Nordseeklinik auf dem Flur der Intensivstation. Der Plastikbecher für das Wasser, den ich leer getrunken hatte, zerknitterte mit knackenden Geräuschen in meinen Händen. Es störte niemanden, ich war die einzige Wartende auf dem Flur. Jedes Mal, wenn mir meine Fantasie schreckliche Visionen vorspielte, ließ ich mich an dem Becher aus.

Hatte ich zu lange gezögert, hätte ich schneller die Rettung anrufen müssen? Nein, es durfte nicht zu spät gewesen sein! Es musste doch einen Sinn gehabt haben, dass ich ausgerechnet zu dem Zeitpunkt am Andresen-Hof vorbeigekommen war, und mich etwas, von dem ich selbst nicht wusste, was es war, hineingetrieben hatte.

Als ob mir nicht klar war, wie unglaublich viel Sinnloses in all den Millionen Leben auf unserem Planeten geschah. Trotzdem schloss ich kurz die Augen und rief das Universum an, um zu fragen, ob es in seiner unendlichen Weisheit nicht etwas tun könnte.

Als ich die Augen wieder öffnete, stand Kristian vor mir. Ich starrte zu ihm hoch. Konnte er bitte mal was sagen?!

Erst mal nicht. Er setzte sich neben mich, lehnte seinen Hinterkopf an die hellgelb gestrichene Wand und schloss die Augen. Sollte ich ihm jetzt noch meinen Plastikbecher in die Hand drücken, damit er mir nacheifern konnte? Groteske Gedanken. Vielleicht brauchte ich einen Therapeuten.

»Krischan, was ist los, bitte rede mit mir!«

Er öffnete die Augen und sah mich an. »Dass du gerade da vorbeikamst, das war sein Glück.«

»Und das heißt?« Nun übernahm ich seine Floskel, es wurde immer merkwürdiger.

»Ein Schlaganfall, ein Blutgerinnsel im Gehirn, aber kein schwerer. Dr. Martens meint, dass er nicht in eine Klinik mit Spezialabteilung für solche Patienten muss. Die haben in einer Videokonferenz mit der Hamburger Klinik die CT-Aufnahmen ausgewertet und gemeinsam beschlossen, dass mein Vater hierbleiben soll.«

»Und wie geht es ihm jetzt, hast du mit ihm gesprochen?«

Kristian schüttelte den Kopf. »Er schläft. Ich soll morgen Vormittag wiederkommen. Aber es besteht zurzeit keine akute Gefahr, dass sich was verschlimmert.«

Ich atmete auf. »Du hast keine Ahnung, wie froh ich bin. Es war so schwierig für mich. Ich … Ich wusste nicht … Ich war nahe davor, ihn einfach liegen und seinen Rausch ausschlafen zu lassen.«

»Was?«

»Es sah so aus. Diese vielen leeren Flaschen und Gläser und überhaupt … dieses Chaos.«

Und dann erzählte ich alles. Das, was ich von Carsten wusste, von der Überwachung durch das Veterinäramt, und dass ich im Stall gewesen war und es auch dort nicht viel besser als in der Küche ausschaute. Kristian hörte zu und blickte mich die ganze Zeit an.

»Die Pferde«, sagte ich zum Schluss, »um die müssen wir uns kümmern.«

»Wir?«, fragte Kristian.