Lautes Kichern drang von oben herunter. Schon erstaunlich, dachte Gabby. Da lagen mehrere Schichten Holz, Trockenbauwand und sogar ganze Zimmer zwischen ihnen – und dennoch konnte sie die Teenager immer noch kichern hören.
Wie hatte ihre eigene Mutter das damals nur ausgehalten? Gabby und ihre Geschwister trennten so wenige Jahre, dass eine Zeit lang drei Teenager im Haus gelebt hatten. Drei!
»Mom, du bist noch unglaublicher, als ich gedacht habe«, sagte sie in den leeren Raum hinein, während sie das Backblech mit den Keksen aus dem Ofen holte.
Die Zwillinge schauten im Fernsehzimmer einen Film. Sie hatten am Vormittag im Sommercamp wild draußen gespielt und waren erschöpft, was Gabby sehr recht war. Jasmine und Boomer schien der Disney-Film ebenfalls zu gefallen. Makayla war mit ein paar Freundinnen oben in ihrem Zimmer. Gabby hatte sich um die Wäsche gekümmert, am Vormittag einen Spaziergang gemacht und bisher noch keinen einzigen Keks gegessen. Alles in allem war es ein spektakulärer Tag.
Jetzt legte sie zwei Erdnussbutterplätzchen auf einen Teller und brachte ihn den Zwillingen.
Die Mädchen bedankten sich bei ihr, und Boomer klopfte erwartungsvoll mit dem Schwanz auf den Boden.
»Bitte gebt ihm nicht zu viel«, bat sie die Zwillinge.
Sie machte einen weiteren Teller fertig und ging die Treppe hinauf. Es schien eine Regel zu sein, dass der Hunger von Teenagern proportional zu dem Spaß, den sie hatten, wuchs. Angesichts dessen, was sie bisher gehört hatte, mussten Makayla und ihre Freundinnen kurz vor dem Verhungern sein.
Doch als sie sich der geschlossenen Tür näherte, wurde ihr auf einmal bewusst, dass sie gar nichts mehr hörte. Es war, als wären alle gegangen. Aber hätte sie das nicht mitbekommen? Normalerweise riefen sie ihr zu, dass sie jetzt gingen, und außerdem hatte sie bis vor ein paar Minuten noch Gekicher gehört.
»Ihr Mädchen müsst ja kurz vorm Verhungern sein«, sagte sie, als sie die Tür öffnete.
Nur waren da nicht die drei Mädchen, die sie vor zwei Stunden in ihr Haus gelassen hatte, sondern nur Makayla und Boyd. Die auf ihrem Bett saßen. Und sich küssten.
Sofort sprangen sie auseinander. Boyd stand auf und machte ein paar Schritte zurück. Makayla erhob sich ebenfalls und stellte sich zwischen Gabby und den Jungen.
»Was machst du hier? Wieso hast du nicht angeklopft?«
Das passiert nicht wirklich, sagte Gabby sich. Das konnte einfach nicht sein.
»Wann bist du hergekommen?«, fragte sie Boyd und bemühte sich, ruhig zu klingen. »Ich habe dich gar nicht hereinkommen sehen.«
Und ich habe auch nicht gehört, wie die anderen Mädchen gegangen sind, dachte sie. Hatten sie ihn hereingeschmuggelt und waren dann verschwunden?
»Was ist hier los?«, wollte sie wissen.
»Nichts«, erwiderte Makayla trotzig und funkelte Gabby an. »Das ist mein Zimmer.«
»Ja, ich weiß. Und du kennst die Regeln. Keine Jungs in deinem Zimmer. Boyd, du musst jetzt nach Hause gehen.«
Er nickte und ging an Makayla vorbei, ohne etwas zu sagen.
»Du hast alles kaputt gemacht«, schrie Makayla sie an. »Alles!«
»Dann ist mein Tagewerk ja vollbracht. Keine Jungs in deinem Zimmer. Haben wir uns da verstanden?«
Makayla nickte mürrisch.
Gabby überlegte hinzuzufügen, dass sie später mit Andrew darüber reden wollte, war aber nicht sicher, ob das wirklich eine Drohung war. Trotzdem, sie musste etwas sagen.
»Und für den Rest deiner Woche darfst du keine Freundinnen mehr mit hierherbringen.«
Makayla verdrehte die Augen. »Mit doch egal. Dann geh ich einfach zu ihnen.«
Darauf konnte Gabby nichts sagen, weil es ihr nicht erlaubt war, Makayla ohne Rücksprache mit Andrew Stubenarrest zu geben. Denn Makayla war seine Tochter. Was sie auch nicht erwähnen durfte. Der direkte Weg in die Hölle.
Also kein Stubenarrest, aber sie durfte die Kekse zurückhalten. Was unglaublich kleinlich war, aber mehr hatte sie nicht. Also drehte sie sich mit dem Teller in der Hand um und ging die Treppe hinunter.
Ein Junge in ihrem Zimmer. Das war schlimm. Makayla war ein wunderhübsches fünfzehnjähriges Mädchen. Vielleicht hatten die Hormone noch nicht die Kontrolle über ihr Leben übernommen, aber lange konnte es nicht mehr dauern.
Zurück in der Küche sagte sie sich, dass sie überreagierte. Dass alles gut war. Nun musste sie es sich nur noch glauben.
»Bist du sicher?«, fragte Andrew ein paar Stunden später, nachdem Gabby ihm erzählt hatte, was sie gesehen hatte. »Bestimmt haben die sich nicht geküsst. So ein Junge ist Boyd nicht.«
»Du weißt nicht, was ich gesehen habe. Er ist sechzehn, da sind sie alle so. Weißt du das nicht mehr?«
»Ja, aber damals war das anders. Boyd ist nicht der Typ für so etwas. Er ist eher ein Nerd.«
»Ich bin mir sicher, dass er trotzdem einen funktionierenden Penis hat.«
Sie waren in ihrem Schlafzimmer. Gabby hatte gewartet, bis alle Kinder im Bett waren, bevor sie Andrew von dem Vorfall erzählte.
»Sie haben einander geküsst, Andrew. Das ist eine ernste Sache. Sie hat nicht nur die Regeln gebrochen, wofür sie bestraft werden sollte, sondern wir müssen auch mit ihr reden. Candace wird es nicht tun, und Makayla hat keine Ahnung, worauf sie sich da einlässt.«
Andrew spuckte die Zahnpasta aus, spülte nach und richtete sich auf. »Gabby, es ist süß von dir, dass du dir solche Sorgen machst, aber vertrau mir. Da läuft nichts. Die Kids heutzutage gehen nicht mehr miteinander aus, sie sind nur in Gruppen unterwegs.«
»Und trotzdem haben sie Sex.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich werde mit ihr reden.« Gabby wollte etwas sagen, doch er hob seine Hand. »Und sie wird eine Strafe dafür bekommen, dass sie heimlich einen Jungen in ihrem Zimmer hatte. Was erscheint dir fair? Ein Wochenende ohne Handy?«
Gabby nickte. »Ja, das klingt gut.«
Er trat auf sie zu. »Es sind nur Kinder«, sagte er und streckte die Hände nach ihr aus. »Sie haben keine Ahnung, was sie tun. Ich hingegen weiß genau, was dir gefällt.«
Sie lehnte sich gegen ihn, doch noch während sie seinen Kuss erwiderte, flüsterte eine weinerliche kleine Stimme in ihrem Hinterkopf, dass dies hier eine größere Sache war, als Andrew wahrhaben wollte. Und nur, weil sie sich leicht ablenken ließ, hieß das nicht, dass das Problem verschwinden würde.
Der Pacific Ocean Park – besser bekannt als POP – hatte sein Leben in Santa Monica begonnen. Der Pier, die kleinen Läden und Restaurants waren den Einheimischen und Touristen irgendwann langweilig geworden, und so hatte man den POP vor einigen Jahren abgebaut und ausrangiert. Einige Bewohner von Mischief Bay hatten sich zusammengetan, um die Teile aufzukaufen und alles ein paar Meilen weiter südlich wieder aufzubauen. Jetzt war der POP eine Touristenattraktion und ein Ort, an dem die Einheimischen sich gerne trafen. Das Herzstück des Ganzen war ein altes, wunderschön restauriertes Karussell.
Nicole stand mit Gabby neben den hölzernen Pferden und beobachtete, wie ihr Sohn und Gabbys Zwillinge Runde um Runde drehten.
»Ich finde das schon eine große Sache«, sagte Gabby, den Blick auf ihre Töchter gerichtet.
»Natürlich.« Nicole verzog das Gesicht. »Damals in der Highschool kannte ich ein Mädchen, das in der zehnten Klasse schwanger geworden ist. Auf ihrem Abschlussfoto hielt sie ein Kleinkind auf dem Arm. Was für ein Albtraum.«
»Ja, der Gedanke ist Furcht einflößend.« Gabby presste die Lippen zusammen. »Das alles gefällt mir überhaupt nicht. Makayla braucht mehr Struktur in ihrem Leben. Mehr Regeln. Andrew benimmt sich immer noch so, als hätte er sie nur an den Wochenenden, aber das ist nicht mehr so. Wir sind ihre Vollzeiteltern, und so müssen wir uns auch benehmen. Außerdem, was ist mit den Zwillingen? Sie schauen zu ihr auf und wollen genauso sein wie sie. Sie sollen nicht lernen, dass es in Ordnung ist, während der Schulzeit schwanger zu werden.«
Nicole hörte die Sorge und den Frust in der Stimme ihrer Freundin. Es fiel ihr schwer, sich vorzustellen, wie es sein musste, das Kind eines anderen aufzuziehen und doch keine oder nur wenig Autorität zu besitzen. Das war, als müsste man alles mit auf dem Rücken zusammengebundenen Händen tun. Gabby befand sich wirklich in einer unmöglichen Situation.
»Kannst du mit ihr reden?«, fragte sie.
»Nicht wirklich. Makayla und ich sind keine Feinde, aber auch keine Freundinnen. Ich glaube, sie mag mich nicht. Wobei ich ehrlich gesagt keine Ahnung habe, was sie über mich denkt. Wir unterhalten uns nur selten. Ich habe es versucht, aber sie schließt mich aus.«
»Meinst du, es ist wegen ihrer Mom?«
»Vielleicht. Mich zu mögen, würde sie wahrscheinlich als illoyal ihrer Mutter gegenüber empfinden. Mit den Zwillingen ist sie aber wirklich toll, was ich sehr zu schätzen weiß. Vielleicht muss das reichen.«
»Nicht, wenn sie Sex hat«, merkte Nicole an.
»Wem sagst du das.« Gabby schüttelte den Kopf. »Ich will nicht mehr darüber reden. Das deprimiert mich. Aber danke, dass du zugehört hast.«
»Dann denk stattdessen daran, dass du bald wieder anfängst zu arbeiten«, schlug Nicole lächelnd vor. »Das macht dich glücklich.«
»Stimmt. Mein Wiedereinstieg in die Berufswelt. Ich kann es kaum erwarten.« Sie sah Nicole an. »War es schwer für dich, wieder zu arbeiten?«
»Es ging so. Tyler war jünger als die Zwillinge und Teilzeit in der Kita. Das hat mir nicht gefallen. Aber es war trotzdem gut rauszukommen. Allerdings hatte ich meinen Job, der auf mich gewartet hat. Also war die Veränderung für mich nicht so groß wie für dich.«
Nicole hatte wieder angefangen zu arbeiten, weil sie und Eric das Geld benötigt hatten. Gabby hingegen arbeitete, weil sie es wollte. Nicole wusste nicht, wie viel Andrew verdiente, aber angesichts der schicken Autos und des großen Hauses schien es ausreichend zu sein.
Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es sein musste, in finanzieller Sicherheit aufzuwachsen. Sie war das einzige Kind einer alleinerziehenden Mutter gewesen, die sich für ihre Tochter nichts mehr gewünscht hatte, als dass sie berühmt wurde. Es hatte Tanzstunden und Gesangsunterricht und Vorsprechen gegeben. Das Geld war immer knapp gewesen, und die Schulausbildung hatte auf der Prioritätenliste ziemlich weit unten gestanden.
Die Ironie ihrer derzeitigen finanziellen Situation entging ihr nicht.
»Was ist?«, fragte Gabby. »Du hast gerade einen sehr seltsamen Gesichtsausdruck.«
»Ich denke nur nach.«
Das Karussell hielt an, aber alle drei Kinder blieben sitzen. Gabby und Nicole hatten ihnen je drei Fahrten gekauft, und sie konnten von Glück reden, wenn die Kinder danach nicht weiterfahren wollten. In letzter Zeit behauptete Tyler zwar jedes Mal, dass er zu alt wäre, um auf den Holzpferden zu reiten, aber dennoch machte er munter weiter. Nicole wusste, es würde der Tag kommen, an dem er sich wirklich zu alt fühlte. Das wäre dann ein weiteres Zeichen dafür, dass er groß wurde. Mein Gott, wie sie den kleinen Jungen und die Dinge, die sie zusammen unternommen hatten, vermissen würde.
Die Dinge, die Eric jeden Tag entgingen.
Sie atmete tief ein. »Eric hat Tyler erneut im Stich gelassen. Ich glaube, sie haben seit sechs Monaten keinen Tag mehr zusammen verbracht. Das treibt mich in den Wahnsinn.«
»O nein, das tut mir leid. Wie nimmt Tyler das auf?«
Nicole schaute ihre Freundin an. »Das ist das Schlimmste. Ich glaube, es ist ihm inzwischen egal. Vater ist für ihn nur ein Konzept, keine Person mehr. Er vermisst Eric nicht, weil es nichts zu vermissen gibt. Ich denke ja immer, dass Eric irgendwann aufwacht und merkt, dass er das Einzige verliert, das nicht zurückgeholt werden kann. Nämlich Zeit. Aber gleichzeitig mache ich mir Sorgen, dass es ihm wirklich egal ist. Und dann frage ich mich, ob es meine Schuld ist.«
»Wie könnte es deine Schuld sein? Eric ist sein Vater.«
»Ich weiß. Es ist nur so, dass Tyler und ich einander so nahe stehen, und vielleicht fühlt Eric sich ausgeschlossen.«
»Nein. Tyler ist sein Sohn. Er ist selbst für seine Beziehung mit ihm verantwortlich.«
»Vermutlich hast du recht.« Nicole biss sich auf die Unterlippe. »Manchmal habe ich Schuldgefühle wegen der Scheidung.«
»Wieso?«
»Ich fürchte, dass ich nicht ausreichend gelitten habe. Eric ist gegangen, und das war schlimm, aber finanziell sieht es jetzt besser aus. Ich habe das Haus und Tyler. Unser Leben ist toll.«
»Und das ist nicht gut?«
»Es gibt so viele Frauen, die nach der Scheidung eine harte Zeit durchmachen müssen.«
Gabby zog die Augenbrauen zusammen. »Du meinst, du solltest größere emotionale und finanzielle Probleme haben, und weil du die nicht hast, bist du ein schlechter Mensch?«
»Okay, wenn du es so ausdrückst, klingt es wirklich albern.«
»Ja, das ist es auch«, sagte Gabby sanft. »Nicole, eine Scheidung ist hart, egal, wie sie läuft. Du und Tyler habt euch an die großen Veränderungen in eurem Leben angepasst. Sei dankbar, statt dich dafür zu geißeln. Nicht, dass du auf mich hören würdest. Du hast interessante Regeln für alles. Erinnerst du dich noch an den Kauf deines neuen Autos?«
Nicole zuckte zusammen. Als ihr alter Wagen seinen letzten Atemzug ausgehustet hatte, war sie gezwungen gewesen, einen neuen zu kaufen. Wochenlang hatte sie hin und her überlegt und alle damit in den Wahnsinn getrieben. Was nicht daran gelegen hatte, dass ihr das Geld fehlte, sondern daran, dass sie geglaubt hatte, kein neues Auto verdient zu haben. Ihre Freunde hatten schließlich eingegriffen. Mit Statistiken und Sicherheitsberichten bewaffnet, hatten sie Nicoles Auswahl auf drei hinuntergebrochen, und dann haben Andrew und Rob mit ihr ein Auto gekauft.
»Okay, ich habe vielleicht ein paar Probleme«, gab sie zu. »Shannon meint, ich stecke fest.«
»Da hat sie recht. Das tust du. Du weinst Eric zwar nicht nach, aber du bewegst dich auch nicht nach vorne.«
»Sie hat dir von Jairus erzählt?«
Gabby starrte sie mit großen Augen an. »Was ist mit Jairus? OMG, zwischen euch ist was passiert, oder?«
»OMG?«
»Ich wohne mit einer Fünfzehnjährigen zusammen. Und wechsle nicht das Thema. Du hast gesagt, es wäre keine große Sache. Du hast gesagt, er war überraschend nett und kam gut mit den Kindern klar. Aber da ist noch mehr, oder?«
»Vielleicht. Ja. Ich weiß es nicht.«
Gabby lachte. »Du magst ihn. Ich fasse es nicht. Du, die alles hasst, was mit B dem D zu tun hat, magst den Kerl, der ihn erschaffen hat.«
»Ich mag ihn nicht.«
»Du benimmst dich wie eine Sechzehnjährige, die vorgibt, den Quarterback nicht zu bemerken, der direkt neben ihr steht. Erzähl mir, was passiert ist. Fang ganz von vorne an und lass ja nichts aus. Du hast Hallo gesagt, und er hat Hallo gesagt, und dann …«
Nicole stöhnte. »Er hat mich für eine Nutte gehalten.«
»Wie bitte?«
Nicole erzählte ihr von dem ersten Zusammentreffen mit Jairus und davon, dass er sie später eingeladen hatte.
»Eine der Betreuerinnen hat ihm erzählt, wo ich arbeite, und so ist er nach einer Unterrichtsstunde im Studio aufgetaucht. Shannon war noch da. Sie ist nach draußen gegangen, damit wir uns unterhalten können, ist aber so lange geblieben, bis er weg war.«
»Das ist typisch für Shannon. Und wann kommt nun der Teil, in dem du feststeckst?«
»Er hat mich noch mal eingeladen, und ich habe Nein gesagt. Shannon meint, ich würde es vermeiden, mich auf eine mögliche Beziehung einzulassen.«
»Da hat sie recht. Du bist seit über einem Jahr getrennt und seit Monaten geschieden. Willst du nicht mal wieder einen Zeh ins Wasser tauchen? Fehlt es dir nicht, einen Mann in deinem Leben zu haben? Nicht nur für den Sex, auch wenn das super sein kann. Jemand, dem etwas an dir liegt. Jemand, der mehr als nur ein Freund ist?«
Nicole lachte. »Warum sagst du mir nicht einfach, was du wirklich denkst?«
Gabby verzog das Gesicht: »War das zu viel? War ich zu offen?«
»Nein, überhaupt nicht. Ich weiß deine Ehrlichkeit zu schätzen.« Es pikte ein wenig, aber sie wusste, dass Gabby nur ihr Bestes wollte. Und was genauso wichtig war: Ihre Freundin hatte die Wahrheit gesagt. Es gab tatsächlich Dinge, die Nicole vermisste, aber immer, wenn sie daran dachte, mit einem Mann auszugehen, fielen ihr Millionen von Gründen ein, warum sie es nicht versuchen sollte.
»Es macht mir Angst«, gab sie schließlich zu. »Ich hatte keine Ahnung, dass es zwischen Eric und mir damals so schlecht stand. Ich meine, ich wusste, wir hatten ein paar Probleme, aber nicht, dass wir geradewegs auf eine Scheidung zusteuerten. Nachdem er mich verlassen hat, hatte ich viel Zeit, über all das nachzudenken, was ich verkehrt gemacht habe. Ich möchte es nicht wieder vermasseln.«
»Also ist es besser, es gar nicht erst zu versuchen?«
»Es ist zumindest sicherer.«
»Aber die besten Dinge im Leben sind nicht sicher. Was uns bewegt, was wir am meisten wollen, verlangt von uns immer, ein Risiko einzugehen. Und ist es nicht genau das, was das Leben erst lohnenswert macht?«
»Du bist so logisch.«
Gabby lächelte. »Schön wär’s. Ich weiß nur, du musst Entscheidungen aus einer Position der Stärke heraus treffen. Und das bedeutet, du musst deine Motive kennen. Wenn du nicht ausgehst, weil du allein vollkommen glücklich bist, dann ist das prima. Aber wenn du dich versteckst, musst du darüber nachdenken. Du bist ein positiver Mensch, der Dinge in Angriff nimmt. Sich abzuschotten, passt so gar nicht zu dir.«
In letzter Zeit stimmt das, dachte Nicole. Sie stellte sich vielleicht nicht gerne der Wahrheit, aber das änderte daran nichts. Sie sorgte dafür, dass Tylers Bedürfnisse erfüllt wurden, sie kümmerte sich um ihr Studio und um ihr Haus, aber wenn es um sich selbst ging, lief sie wie auf Autopilot. Gabby hatte recht. Wenn sie allein sein wollte, war das ihre Entscheidung. Aber sich zu verstecken – das passte wirklich nicht zu ihr.
»Hey, Mom!«, rief Gabby, als sie die Hintertür zum Haus ihrer Mutter öffnete und mit den Zwillingen im Schlepptau eintrat. Sobald sie die Küche betraten, fingen die beiden an zu schreien: »Grandma! Grandma!«
Marie Lewis kam mit weit ausgebreiteten Armen und einem glücklichen Lächeln herein. »Meine Lieblingsmädchen«, sagte sie und ging vor den beiden in die Hocke, um sie zu umarmen. »Was für eine schöne Überraschung.«
Gabby sah zu, wie ihre Mutter die Mädchen begrüßte, bevor sie die Zwillinge zu der großen Kücheninsel führte und sie auf die Hocker setzte. Als Nächstes würde es Snacks und viel Geplapper geben. Marie war die perfekte Oma. Sie war warmherzig, fürsorglich und streng genug, dass alle sich benahmen.
Sobald die Zwillinge saßen, umarmte Marie ihre Tochter.
»Wie geht es dir?«, fragte sie.
»Super.«
Ihre Mutter tätschelte ihr die Wange, dann wandte sie sich wieder ihren Enkeltöchtern zu. Sie schenkte ihnen Limonade ein und stellte einen Teller mit Keksen vor sie hin.
Wenn Shannon für Gabby das berufliche Vorbild war, dann war Marie ihr mütterliches Vorbild. Trotz fünf Kindern, verschiedenen Haustieren und viel Potenzial für Chaos war ihr Haushalt immer wie am Schnürchen gelaufen. Sicher war es laut gewesen, aber es hatte nie diesen konstanten Kampf gegeben, alles auf die Reihe zu bekommen. Mit zwei eigenen Kindern und der Stieftochter im Haus hatte Gabby immer das Gefühl, drei Schritte hinterherzuhinken. Wie ihre Mutter das gemacht hatte, war ihr ehrlich gesagt ein Rätsel.
Sie setzte sich zu den Zwillingen an die Kücheninsel. Die Küche war groß, hatte weiße Schränke und blau-grüne Akzente. Das hätte Gabby zwar für sich nicht ausgewählt, aber es war nett.
Sie beobachtete ihre Mom. Marie war einundsechzig und trug immer noch Kleidergröße achtunddreißig. Wenn das nicht deprimierend war. Sie färbte sich die Haare, aber ansonsten hatte sie nichts unternommen, um dem Altern entgegenzuwirken. Trotzdem ging sie immer noch für Ende vierzig durch. Gabby hoffte, ihre Gene geerbt zu haben.
»Wie läuft das Camp?«, fragte Marie die Mädchen. »Habt ihr Spaß?«
»Jeden Tag«, versicherte Kennedy. »Wir malen viel und spielen.«
»Manchmal lernen wir auch Buchstaben«, ergänzte Kenzie. »Wir können sie schon alle, und wir können auch schon ein paar Wörter lesen.«
»Wirklich? Ihr seid toll. Schon als ich euch das erste Mal gesehen habe, wusste ich, dass ihr klug seid.«
Die beiden lachten.
Als die Kekse aufgegessen und die Limonade getrunken war, gingen sie alle hinaus in den Garten. Dort war nach der Geburt des ersten Enkelkinds eine Schaukel installiert worden, die zu dem Zeitpunkt, als die Zwillinge kamen, schon gut eingesessen gewesen war. Die Mädchen rannten sofort darauf zu und setzten sich.
»Freust du dich immer noch darauf, wieder arbeiten zu gehen?«, fragte Gabbys Mutter, während sie die Kinder beobachtete.
»Du hast ja keine Ahnung, wie sehr.«
»Ich verstehe nicht, warum du das machen willst. Du könntest zu Hause bleiben und weitere Kinder bekommen.«
Das altbekannte Thema, dachte Gabby. »Makayla wohnt jetzt Vollzeit bei uns. Drei Kinder sind mehr als genug.«
»Makayla wird weg sein, ehe du dich versiehst, und dann sind die Zwillinge schon in der Schule. Mehr Kinder bedeuten mehr Glück.«
»Für mich nicht, Mom. Ich bin bereit, wieder beruflich durchzustarten.«
Gespielt schockiert presste Marie sich eine Hand auf die Brust. »Alle meine Freunde beglückwünschen mich, weil ich zwei praktische, karriereorientierte Mädchen großgezogen habe. Wenn sie nur wüssten, wie sehr ich mir wünschte, ihr wäret mehr wie ich.«
Gabby lachte, weil das erwartet wurde, aber tief im Herzen dachte sie, dass ihre Mutter vermutlich keinen Witz machte, sondern es genauso empfand. Sie hätte es vorgezogen, wenn ihre Töchter Hausfrauen und Mütter geblieben wären. Aber Gabbys ältere Schwester war Tierärztin, und Gabby war bereit, wieder als Anwältin zu arbeiten.
»Ich schätze, nun muss es einer der Jungs richten«, sagte sie.
Marie lachte. »Das kann ich mir auch nicht vorstellen.«
Kurz überlegte Gabby, mit ihrer Mutter über Makayla und Boyd und den Kuss zu reden. Sie hatte ein schlechtes Gefühl bei der Sache. Aber Andrew beharrte darauf, dass alles in Ordnung war, und Makayla hatte ihre Strafe ohne Gejammer akzeptiert. Vielleicht sollte sie also einfach den Mund halten und dankbar sein, dass sie die beiden nicht bei etwas Schlimmerem erwischt hatte.