9. Kapitel

Dienstags und donnerstags unterrichtete Nicole die Kurse am späten Nachmittag. Dann wurde Tyler von Cecelia am Camp abgeholt und nach Hause gebracht, und sie bereitete auch das Abendessen vor. Wenn Nicole dann nach der Arbeit einmal quer durch Mischief Bay nach Hause gefahren war, war es meistens kurz vor sechs, bis sie zur Tür hereinkam. Aber das war immer noch besser als zu den Zeiten, als sie bis sieben oder acht Uhr hatte unterrichten müssen.

Direkt nach der Trennung von Eric hatte sie eine Nanny gehabt – darauf hatte Eric bestanden. Nicole hatte sie behalten, bis sie in der Lage gewesen war, ihre eigenen Arbeitszeiten zu kürzen. Zum einen war sie nicht der Typ, der eine Nanny hatte, und zum anderen liebte sie es, sich selbst um Tyler zu kümmern.

Ihr Handy vibrierte. Sie schaute aufs Display und sah, dass sie eine Nachricht von Gabby hatte.

Ich wollte nur mal Hallo sagen, schrieb ihre Freundin.

Wie geht es dir? Weitere Küsse?

Nein. Jedenfalls habe ich nichts mitbekommen. Und bei dir? Überhaupt irgendwelche Küsse?

Nicole lachte leise.

Sehr lustig. Nein. Und hatte ich schon Nein gesagt?

LOL. Bis bald!

Sie legte ihr Handy weg und überprüfte, ob sie die richtige Playlist für den Kurs geladen hatte. Bei ihrer eigenen Trainingseinheit vorhin hatte sie andere Hintergrundmusik benötigt, und ihre Schülerinnen würden diese Mischung aus Country und Rap vermutlich nicht zu schätzen wissen. Dafür war sie einfach zu seltsam.

Mehrere Schülerinnen kamen herein, und Nicole begrüßte sie. Ihre Kurse am Dienstag und Donnerstag fanden auf der Matte und mit so wenig Hilfsmitteln wie möglich statt. Einige glaubten, das würde die Übungen leichter machen, was in anderen Studios stimmen mochte. Doch nicht bei Mischief in Motion. Nicole war stolz auf ihr Killer-Work-out, wie sie es nannte. Die Schülerinnen nahmen sich Zeit in ihrem hektischen Leben und zahlten gutes Geld für die Stunden. Deshalb sorgte sie dafür, dass sie, wenn möglich, mit dem Gefühl nach Hause humpelten, das Beste erhalten zu haben, was man für Geld bekommen konnte.

»Hey, Judie!«, rief sie, als eine hübsche Blondine mit braunen Augen hereinkam. »Wir geht es dir?«

»Super. Ich bin bereit, mir in den Hintern treten zu lassen.«

Nicole grinste. »Das wirst du gleich selbst erledigen.«

»Ich hoffe, das meinst du im übertragen und nicht im wörtlichen Sinne.«

Weitere Schülerinnen trafen ein, gefolgt von dem einen Menschen, den Nicole nie wieder in ihrem Studio zu sehen erwartet hatte. Jairus trug eine weite Sportshorts über Radlerhosen und ein T-Shirt. Er hatte Sandalen an, hielt in der Hand aber ein Paar Pilates-Socken.

»Ich habe vorhin angerufen«, sagte er. »Man sagte mir, ich könnte mitmachen, wenn der Kurs noch nicht voll ist.«

Nicole öffnete den Mund und schloss ihn gleich wieder. Nein. Das passierte gerade nicht wirklich. Er konnte nicht hier sein. Konnte nicht an dieser Klasse teilnehmen.

Sie wollte sagen, dass der Kurs voll war. Dass Jairus wieder gehen musste. Nur lagen die Matten schon auf dem Boden, und es war offensichtlich, dass noch zwei frei waren. Da es eine Minute vor vier war, waren die Chancen, dass jemand in den nächsten sechzig Sekunden auftauchen würde, sehr gering.

Sie wollte sagen, dass die Teilnahme einhundertfünfzig Dollar kostete. Oder fünfhundert. Oder welche Summe ihn auch immer abschrecken würde. Hinter sich hörte sie leises Gemurmel. Zweifelsohne waren die Frauen aufgebracht, dass ein Mann mitmachen würde. Das veränderte die Dynamik der Kurse immer – und meistens nicht auf gute Art. Sie wusste nicht, was sie sagen, was sie denken sollte, und sie hasste es, dass tief in ihrer Brust ein klitzekleines bisschen Interesse aufblühte.

»Haben Sie vorher schon mal Pilates gemacht?«, fragte sie.

»Noch nie. Ich laufe und hebe Gewichte.«

»Das ist interessant, aber nicht nützlich. Sie werden morgen Muskelkater haben.«

»Das Risiko gehe ich ein.«

Sein dunkles lockiges Haar war zu lang, und er hatte sich an diesem Tag nicht rasiert. Er hätte eigentlich ungepflegt aussehen müssen, doch das tat er nicht. Er sah … gut aus.

Sie zeigte auf eine freie Matte am Ende der Reihe. »Wir müssen anfangen.«

Er nickte und ging quer durchs Studio. Dann zog er seine Sandalen aus und wandte sich zu den sechs Frauen um, die bereits alle auf ihren Matten saßen.

»Ladys, es tut mir leid, dass ich so in Ihren Kurs einfalle. Ich verspreche, das wird nicht regelmäßig vorkommen.«

Judy zog die Augenbrauen in die Höhe. »Dann sollen wir also so tun, als wären Sie nicht hier?«

»Das wäre super.«

Nicole stand vor ihrer Klasse. Wenn sie sich ein wenig nach links drehte, würde sie Jairus kaum sehen. Er ist nur ein weiterer Schüler, redete sie sich ein. Sie würde einfach das tun, was sie immer tat.

»Wir fangen mit den Hundert an«, verkündete sie.

Jairus hatte seine Pilates-Socken angezogen und schaute nun zu den anderen Frauen, um ihre Position nachzuahmen – auf dem Po sitzend Arme und Beine gerade in die Luft halten.

»Bauchnabel nach innen und oben ziehen«, sagte Nicole. »Und los geht’s.«

Sie zählte bis einhundert, wobei sie bei jeder Zahl mit der Hand auf ihren Oberschenkel schlug und die Zeit hinauszögerte, wie sie es immer tat. Jairus schaffte es bis siebenundvierzig, dann wurde er langsam schwach. Bei achtzig lag er flach auf dem Rücken.

Der Unterricht ging weiter; Jairus bemühte sich mitzuhalten. Mit ausgestreckten Beinen zu kreisen fiel ihm leicht, auch wenn es nicht ganz so kontrolliert wirkte wie bei den anderen. Die Schere war schon schwerer, und am Ende fiel er seitlich um.

Einige der Frauen kicherten. Ein paar riefen ihm Tipps zu. Eines musste Nicole ihm lassen: Er strengte sich an und beschwerte sich nicht.

Außerdem hatte er einen ziemlich guten Körper. Das mit dem regelmäßigen Training schien also nicht gelogen gewesen zu sein. Sie sah kräftige Muskeln und Ausdauer, nur nicht die Art, die man für ihren Unterricht benötigte.

Nach ungefähr zwanzig Minuten schienen die anderen vergessen zu haben, dass er da war. Die Unterhaltung floss dahin wie immer – es war die übliche Diskussion über Ehemänner, Kinder und Vorgesetzte. Jairus hielt sich zurück, was Nicole überraschte. Sie hatte damit gerechnet, dass er Ratschläge geben wollen würde.

»Kleiner Tipp«, sagte sie zum Ende der Stunde und warf ihm einen Blick zu. »Die nächste Übung sollten Sie lieber auslassen.«

Er sah die anderen Frauen an, die alle auf dem Rücken lagen und ihre Arme über den Kopf gestreckt hatten. Während Nicole zählte, erhoben sich alle elegant zu einem V – Zehen gestreckt, Arme gerade.

»Gute Idee«, murmelte er und sackte auf seiner Matte zusammen.

Nicole unterdrückte ein Lächeln. Nach ein paar Dehnübungen war die Stunde zu Ende. Alle applaudierten und standen dann auf.

Jairus bewegte sich merklich langsamer. Ein paar der Frauen sprachen mit ihm, bevor sie gingen. Als alle fort waren, rappelte er sich auf und humpelte zu Nicoles kleinem Schreibtisch hinüber.

Er schwitzte ein wenig. Nicole hätte gerne geglaubt, dass er nervös war, aber sie wusste, dass es vom Training kam.

»Ihr Kurs ist toll«, sagte er.

»Danke.«

»Und schwer.«

»Das soll er auch sein.«

Er strich sich mit den Fingern durch die feuchten Haare. »Hören Sie, das hier ist mein letzter Versuch. Wenn Sie Nein sagen, war es das. Ich bin nicht daran interessiert, mich in einen Stalker zu verwandeln. Ich mag Sie. Ich würde Sie gerne besser kennenlernen. Sie sind interessant, und das ist mir wichtig.«

»Außerdem sind Sie in letzter Zeit nicht flachgelegt worden.«

Er zuckte zusammen. »Mussten Sie das ansprechen?«

»Ja.«

»Sie machen es mir nicht leicht.«

»Stimmt.« Sie musterte ihn. »Mir gefällt, dass Sie nicht zu Prostituierten gehen.«

»Ich hoffe, das ist nicht das Einzige, was Ihnen gefällt. Ansonsten sollten Sie an Ihren Standards arbeiten.«

Darüber musste sie lachen.

Sie dachte daran, was Shannon und Gabby gesagt hatten. Dass sie sich versteckte. Und sie dachte daran, wie lang ihre Trennung von Eric her war. Daran, dass Jairus sich in der Klasse eben wirklich tapfer geschlagen hatte. Diese Anstrengung musste doch irgendwie belohnt werden.

»Dinner?«, fragte er.

»Dinner.«

Hayley nahm ein Kleid von der Kleiderstange und betrachtete es. Geld für etwas so Albernes wie Kleidung auszugeben, störte sie, aber sie brauchte ein paar neue Sachen, weil ihre Sachen alle schon so fadenscheinig waren. Es bedurfte nicht viel, damit ein Saum riss. In der letzten Woche waren ihr zwei Röcke und ein Oberteil in der Waschmaschine auseinandergefallen. Sie hatte sie schnell entsorgt, bevor Rob es gesehen hatte. Er verstand nicht, dass sie nicht einfach in einen Laden ging wie alle anderen. Nicht einmal in einen günstigen. Er war der Meinung, wenn sie etwas brauchten, sollten sie es sich kaufen. Für ihn war es nur Geld. Für sie hingegen bedeuteten unnütze Ausgaben den Unterschied zwischen einem Baby und keinem Baby.

»Die haben dieses Mal eine tolle Auswahl«, sagte Nicole von der anderen Seite der Kleiderstange. »Hast du das hier gesehen?«

Sie hielt ein schlichtes blaues Wickelkleid hoch. Der gestrickte Stoff würde ewig halten, und auf dem dezenten Muster wären Flecken weniger sichtbar.

»Bezaubernd«, sagte Hayley und kam um die Kleiderstange herum.

Es war Mittagszeit, und sie und Nicole verbrachten ihre wertvolle Pause in dem örtlichen Secondhandladen. The Goodwill war zwar größer und hatte eine bessere Auswahl, aber für eine Mittagspause war er zu weit weg.

Für ihren Ausflug hatte Hayley sich ein Tanktop und Shorts angezogen, also war es leicht für sie, das Kleid überzuziehen und auf Nicoles Reaktion zu warten.

»Das sieht super aus«, sagte ihre Freundin. »Eine tolle Farbe. Und hey, nur fünf Dollar. Das ist unschlagbar.«

Hayley trat vor den großen Spiegel an der Wand und betrachtete sich. Sie war zu dünn und zu blass. Sie sah immer noch krank aus. Seit ihrer letzten Fehlgeburt hatte sie ihre Tage nicht mehr gehabt, was bedeutete, dass sie keinen Eisprung mehr gehabt hatte. Dr. Pearce hatte sie gewarnt, dass die Hormonbehandlungen alles durcheinanderbringen würden, und sie hatte recht gehabt.

Es wird wieder besser, versprach Hayley sich. Sobald sie die hunderttausend Dollar zusammenhatte, die sie für die Behandlung in der Schweiz benötigte, würde sie schwanger werden und schwanger bleiben. Dann würde sie endlich ein Baby haben. Danach wäre alles gut.

Nicole kam mit einem weiteren Fund zu ihr. Ein schlichtes, ärmelloses rotes Etuikleid aus hochwertiger Baumwolle.

»Mit einem schwarzen Pullover wäre es perfekt«, sagte sie. »Sieben Dollar. Immer noch ein Schnäppchen.«

Hayley wollte nicht mehr als zwanzig Dollar ausgeben. Das hieß, sie könnte sich die beiden Kleider und ein paar Oberteile kaufen.

Nicole fand einige T-Shirts und Shorts für Tyler, während Hayley sich die Blusen anschaute. Es gab eine in einem hübschen Grün, die ungetragen aussah. Als sie sie vom Bügel zog, fiel sie zu Boden. Hayley beugte sich vor, um sie aufzuheben, und merkte zu spät, dass sie sich zu schnell wieder aufgerichtet hatte. Der Raum fing an, sich zu drehen und an den Rändern einzuknicken, bevor sie sich am Kleiderständer festhalten konnte.

Nicole war sofort an ihrer Seite. »Geht es dir gut?«

»Mir ist nur ein wenig schwindelig.« Hayley straffte die Schultern und zwang sich, langsam zu atmen. Der Raum nahm wieder seine gewohnte Form an. Sie lächelte. »Ich habe einen niedrigen Blutdruck, deshalb wird mir schnell mal schwindelig. Kein Grund zur Sorge.«

»Ich sorge mich aber trotzdem.« Mitgefühl lag in Nicoles Blick. »Du bist immer noch dabei, dich zu erholen, oder?«

Hayley nickte. »Es dauert jedes Mal ein bisschen länger.«

Ihre Freundin drückte ihre Hand. »Das war deine dritte Fehlgeburt?«

»Meine fünfte.«

»So viele? Kommt dein Körper damit klar?« Nicole schüttelte den Kopf. »Verzeih. Das war die falsche Frage. Würde es helfen, wenn du etwas isst?«

»Ich habe im Büro noch ein Sandwich. Es ist alles gut.« Hayley wusste nie, wie viel die anderen hören wollten. Und sie wusste auch nicht, wie viel sie sich anhören wollte. Wenn man jemandem erzählte, dass man eine Fehlgeburt gehabt hatte, standen die Chancen gut, ungebetene Ratschläge zu erhalten. Vor allem von Frauen, die erfolgreich schwanger gewesen waren. So wie Nicole.

War es das wert? Hatte sie die richtige Ärztin? Was war mit einer Adoption? Manchmal wollte Hayley die andere Person packen und schütteln. Wirklich? War es vielleicht möglich, dass sie und Rob diese Unterhaltung schon fünfundsiebzigmal geführt hatten?

»Ich habe einen Müsliriegel dabei«, sagte Nicole. »Den kannst du gerne haben.«

»Danke.« Hayley hielt die Bluse hoch, die zu Boden gefallen war. »Ich finde sie hübsch.«

»Ich auch. Mit Weiß oder Kaki im Sommer und mit Schwarz im Winter.« Nicole lächelte. »Nicht, dass wir uns Sorgen machen müssten, dass es hier im Januar zu kalt wird. Aber ein leichter Pullover darüber sähe bestimmt super aus.«

Hayley entspannte sich. »Danke, dass du mir keine Vorhaltungen machst.«

»Das ist nicht meine Aufgabe.«

»Das ist den meisten Menschen egal.«

»Das Herz will, was es will. Ein Baby zu bekommen, indem du es bis zum Ende austrägst, ist dir wichtig.«

Das waren die richtigen Worte, dachte Hayley. »Aber du verstehst es nicht.«

»Das muss ich auch nicht. Ich stecke nicht in deiner Situation.«

Das tat niemand. Aber Nicole war das wenigstens klar. Damit gehörte sie zu einer ganz kleinen Gruppe von Menschen. Beinahe alle anderen wollten, dass Hayley darüber hinwegkam, die Realität akzeptierte und ein Baby adoptierte.

Nicole knöpfte die Bluse auf und hielt sie Hayley hin. »Mal sehen, wie du die rockst. Dann bezahlen wir unsere Funde und kehren an die Arbeit zurück. Und auf dem Weg gönnen wir uns noch einen Latte macchiato im Latte-Da

»Die kosten mehr als diese Bluse.«

Nicole grinste. »Deshalb sagte ich ja ›gönnen‹.«

Gabby, wir wissen, dass du uns hören kannst. Gabby, wir lieben dich. Komm zurück in die Küche und iss uns.

Gabby war nicht sicher, was psychotischer war – ihre Kekse von unten rufen zu hören oder ihnen antworten zu wollen.

Es ist allein deine Schuld, ermahnte sie sich. Ihre Familie war vollkommen zufrieden mit gekauften Keksen. Aber besorgte sie die? Natürlich nicht. Stattdessen machte sie selbst welche, sodass der Duft von Schokolade und Erdnussbutter durch das gesamte Haus wehte.

Es war der sechste Tag ihrer Diät. Seit sechs Tagen war sie hungrig und genervt. Und hatte sie schon hungrig erwähnt? Sie vermisste Zucker und Brot. Sie vermisste es, einfach zu essen, was sie wollte. Sie vermisste das Gefühl, so voll zu sein, dass sie nie wieder etwas essen wollte. Auch wenn dieses Gefühl immer nur wenige Stunden anhielt. Im Moment war sie ständig kurz vor dem Verhungern.

Aber sie hatte schon zwei Pfund verloren, und es war ihr egal, wenn das nur Wasserverlust war. Der Zeiger der Waage ging nach unten. Sie würde stark sein. Sie war stark. Hört ihr mein Brüllen? Vielleicht war das auch nur ihr Magen.

Nachdem sie die Wäsche nach ihren Eigentümern sortiert hatte, fing sie an, die Kleidungsstücke zusammenzulegen. Theoretisch könnte sie Makaylas Sachen in ihr Zimmer bringen, damit das Mädchen sie selbst zusammenlegte. Aber manchmal war es den daraus folgenden Streit nicht wert. Womit sie genauso schuldig war wie Andrew, was die widersprüchlichen Botschaften anging. Aber es war auch nicht leicht, stark zu sein, wenn man vor Hunger so schwach war.

»Das kann ich machen.«

Gabby drehte sich um, als ihre Stieftochter ins Zimmer kam.

»Das sind meine Sachen«, fuhr Makayla fort. »Ich lege sie selbst zusammen.«

»Danke«, sagte Gabby und schaute kurz zum Fenster hinaus, um zu sehen, ob Tag jetzt Nacht war und es seltsame Tiere regnete. Da das Wetter vollkommen normal aussah, schob sie den Stapel Wäsche auf die andere Seite des Betts.

In Shorts und einem locker sitzenden Tanktop, die Haare zu einem Zopf geflochten, sah Makayla jünger aus als sonst. Nahbarer. Jasmine lag zwischen den Dekokissen auf dem Bett und streckte eine Pfote aus, um einen Socken zu fangen.

»Die Schule beginnt bald wieder«, sagte Gabby, weil sie nicht wusste, ob sie eine Unterhaltung anfangen oder warten sollte, bis Makayla anfing zu reden. »Die zehnte Klasse ist ein großer Schritt.«

»Hmhm. Cami macht ihren Führerschein auf Probe.«

Cami war eine von Makaylas Freundinnen und ein wenig älter als die anderen Mädchen. Makayla war Anfang des Sommers erst fünfzehn geworden, also hatten Gabby und Andrew noch ein paar Monate, bis sie sich mit dem Thema herumschlagen mussten. Zum Glück gab es in Kalifornien abgestufte Führerscheinklassen. Die Teenager mussten erst einen Führerschein auf Probe machen. Selbst wenn Cami ihren Führerschein bekam, durfte sie ihre Freundinnen noch nicht allein herumfahren.

Makayla hatte ihre Sachen zusammengelegt und die Socken sortiert. Nun saß sie auf dem Bett und zupfte an der Überdecke. »In Mathe habe ich mich für Geometrie entschieden. Alle sagen, das ist echt schwer.«

»Geometrie ist seltsam«, sagte Gabby. »Ich fand immer, entweder man versteht sie oder nicht. Wenn man sie versteht, ist es superleicht. Wenn nicht, ist es eine ziemliche Herausforderung. Aber du warst in Mathe immer gut.«

»Ja.«

Gabby war mit den Sachen der Zwillinge fertig. Der nächste logische Schritt wäre, die Stapel zu nehmen und dorthin zu bringen, wo sie hingehörten. Doch ihr Instinkt riet ihr, zu bleiben, wo sie war, bis sie herausgefunden hatte, was Makayla wollte.

Sie hatte keine Ahnung, wohin diese Unterhaltung führen würde. Ging es um ein Piercing? Ein Tattoo? Einen Trip mit einer ihrer Freundinnen und deren Familie? Wollte sie die Wände ihres Zimmers rot streichen? Sie konnte es wirklich nicht sagen. Darüber, dass Makayla an der Schule gemobbt wurde, musste sie sich vermutlich keine Gedanken machen. Sie war bei ihren Freunden beliebt und schien kaum jemanden zu kennen, der gemein war.

Kurz überlegte sie, den Kuss mit Boyd anzusprechen, um herauszufinden, wie weit die Sache gegangen war. Aber sie hielt sich zurück. Zuerst sollte Makayla sagen, was ihr auf dem Herzen lag.

»Wann hast du gewusst, dass du in meinen Dad verliebt bist?«

Mit dieser Frage hatte Gabby wirklich nicht gerechnet.

»Ungefähr zwei Monate, nachdem wir angefangen hatten, miteinander auszugehen«, antwortete sie. »Er ist ein wirklich toller Mann. Liebevoll und lustig und klug.« Sie lächelte. »Du liegst ihm sehr am Herzen, und das war mir schon damals wichtig.«

Endlich schaute Makayla sie an. »Warum? Ich dachte, zweite Ehefrauen hassen die Kinder aus der ersten Familie.«

»Überhaupt nicht. Mir hat gefallen, wie dein Dad mit dir umgegangen ist. Ich wusste, er ist ein Mann, für den die Familie immer an erster Stelle stehen wird.« Die Antwort kam automatisch, während Gabby die Aussagen ihrer Stieftochter noch verarbeitete: Ich dachte, zweite Ehefrauen hassen die Kinder aus der ersten Familie.

War das das Problem? Glaubte Makayla wirklich, dass Gabby sie hasste?

Sicher, sie verstanden sich nicht immer gut, aber Hass war ein so starkes Wort. Gabby spürte, dass sie erröte, als sie überlegte, ob sie zickiger gewesen war als gedacht. Hatte Makayla sich bei ihr nicht willkommen gefühlt?

»Einige meiner Freundinnen haben Stiefmütter, die echt gemein sind«, fuhr Makayla fort und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Überdecke.

»Ja, ich bin sicher, dass es so etwas gibt.« Fiel sie auch in diese Kategorie?

»Ihr habt die Zwillinge geplant, oder? Sie waren kein Unfall?«

»Ich habe versucht, schwanger zu werden«, erklärte Gabby. »Aber ich habe nicht mit Zwillingen gerechnet.«

»Das wäre auch schwierig.« Makayla sah sie an, wandte dann aber wieder den Blick ab. »Äh, eine Freundin von mir glaubt, dass sie schwanger ist, weiß aber nicht, wie sie sichergehen soll. Ich, äh, habe ihr gesagt, dass ich dich fragen würde.«

Gabby war unendlich dankbar, dass sie saß, denn wenn sie gestanden hätte, wäre sie vermutlich zusammengebrochen. Jetzt musste sie nur dafür sorgen, nicht zu schreien. Oder zu fluchen. Das hatte sie seit der Geburt der Zwillinge nicht mehr laut getan. Doch dieses Mal würde »Scheibenkleister« nicht reichen.

Schwanger? Schwanger? Vor ihrem inneren Auge blitzte der Kuss auf. Es hat nicht so ausgesehen, als wären sie miteinander intim, dachte sie panisch. Wenn überhaupt, würde sie sagen, sie hatten noch ein wenig ungelenk gewirkt. Vielleicht ging es bei Makaylas Frage wirklich um eine Freundin.

»Wie weit ist sie schon?«, wollte Gabby wissen.

»Ein paar Monate. Vielleicht zwei oder drei.«

Makaylas Stimme wurde bei jedem Wort leiser, bis sie kaum noch zu hören war. Am Ende des Satzes stürzte die Welt ein, und Gabby wusste, dass es keine Freundin gab. Makayla war schwanger. Was nun? Was sollten sie tun? War schwanger zu sein besser oder schlimmer, als Drogen zu nehmen? Besser oder schlimmer, als zu stehlen oder ein schlechter Mensch zu sein oder …

Gabby stand auf. »Kannst du kurz bei den Zwillingen bleiben? Ich muss eben in die Drogerie.«

»Äh, klar.«

An der Tür drehte Gabby sich noch einmal um. »Fang an, Wasser zu trinken. Sehr viel Wasser.«